Gerhard Scheit – Eine große Erzählung * Rezension Ulrich Enderwitz, Reichtum und Religion

Gerhard Scheit

Eine große Erzählung

Über die Bücher von Ulrich Enderwitz

Manchmal kommt der Erforschung fremder Völker und alter Religionen die nützliche Funktion zu, den gesunden Menschenverstand aus dem Häuschen zu treiben. So gehört etwa das Staunen über die frühen Formen der Gesellschaft zum Besten von Claude Lévi-Strauss’ Wirkung. (Auch der bekennende Positivist Daniel Jonah Goldhagen überstieg ja den Alltagsverstand seiner Zunft unter anderem darum, weil er sich als Historiker der deutschen Bevölkerung ganz bewußt wie der Anthropologe einem fremden Stamm näherte.) Die große Stunde der Wissenschaft schlägt allerdings, wenn sie den Blick vom Fremden oder längst Vergangenen auf das Eigene oder Gegenwärtige wendet – und damit das Staunen über das Selbstverständliche bei sich selbst, gleichsam im eigenen Heim, eröffnet. An dieser Selbstreflexion aber ist letztlich der gesamte französische Poststrukturalismus gescheitert.

In bestimmter Hinsicht verdankt auch Marx seine Fragestellung in den ersten Kapiteln des Kapitals einer reflexiv gewordenen Ethnologie und Religionsgeschichte. Bekanntlich wurde der Begriff des Fetischs von den völkerkundlich forschenden Europäern im Zuge der Kolonialisierung Afrikas geprägt, um die verschiedenen unbekannten Kulte der „Wilden“ verallgemeinernd zu kennzeichnen. Einiges spricht jedoch dafür, daß die Aufklärer aus Europa damit vor allem das Fremde und Ungreifbare ihrer eigenen Kultur auf die mit dem Fetisch benannten Phänomene projizierten. Wenn dies zutrifft, dann kommt in der Marxschen Theorie des Warenfetischs diese unbewußte Selbstreflexion zu Bewußtsein (etwas Ähnliches geschieht später in Freuds Psychoanalyse). Wenn nun aber Begriffe wie „Magie“ und „Fetisch“ zur Charakterisierung der warenproduzierenden Gesellschaft verwendet werden können, was heißt dies für jene Phänomene, die ursprünglich mit ihnen bezeichnet worden sind und mit Waren und Kapital nichts oder noch wenig zu schaffen (gehabt) haben?

Gott ist tot, es lebe das Kapital. In einem großangelegten Werk mit dem Titel Reichtum und Religion versucht Ulrich Enderwitz, die Geschichte von Mythos, Kult und Religion als Vorgeschichte des Kapitals zu rekonstruieren. Das Problem des Reichtums ist der rote Faden: Was das „automatische Subjekt“ des Kapitals (Marx) automatisch tut, ist bei den ursprünglichen Formen des Reichtums mythisch, kultisch und religiös vermittelt. Gott ist der Vorgänger des Werts, und er tritt an diesen seine Rechte ab, wenn der Reichtum vollständig zu Kapital geworden ist und sich damit in eine durchgängige innere Formbestimmtheit der Subsistenzmittel selber verwandelt hat. Dann erst treibt sich eben auch der Philosoph auf dem Marktplatz herum und schreit: „Gott ist tot“, hat er doch vor Ort den Sinn seiner Existenz und das Wesen der Gesellschaft gefunden.

Doch Enderwitz – und das ist das Bemerkenswerte an seiner Studie – interpretiert diese Entwicklung nicht teleologisch. Er geht von einer permanenten Krise aus, die durch die Produktion von Reichtum entsteht, und verfolgt die verschiedenen gesellschaftlichen Reaktionsweisen – vom Mythos bis zur monotheistischen Religion, von der Stammesgesellschaft bis zur Polis –, denen, so wie er sie beschreibt, allen etwas Zwanghaftes, Obsessives, Neurotisches anhaftet. Während üblicherweise Phänomene wie Toten- oder Opferkult, mythische Epen und dionysischer Fruchtbarkeitskult als eigentlich Selbstverständliches, Allgemeinmenschliches präsentiert werden – als Sehnsucht des Menschen nach dem Ewigen etc. –, gelingt es Enderwitz in ungewöhnlich konsequenter Weise, seinen Gedankengang von solchen Rationalisierungen des gesunden Menschenverstands freizuhalten und das Dargestellte als etwas zunächst völlig Unverständliches, in gewisser Weise Ungeheuerliches kenntlich zu machen, zu dessen Verständnis es durchaus bestimmter psychoanalytischer und -pathologischer Kategorien bedarf. Ja, durch seine Studie wird Freuds These, Religion sei „eine universelle Zwangsneurose“, zum erstenmal materialistisch entwickelt.

So sehr es Enderwitz vermag, dieses Obsessive und Zwanghafte an Mythos, Kult und Religion herauszuarbeiten, so sehr bekommt seine Darstellung mit ihren bisweilen langen, den Gegenstand immerfort umkreisenden Satzgebilden und den beschwörungsartigen Wiederholungen selbst etwas Obsessives, Zwanghaftes. Ja, in dieser eigenartigen Mimikry besteht die besondere Faszination von Enderwitz’ Schriften – freilich nur für den, der sich auf die ‘Erzählweise’ einzustellen bereit ist und die Vorgaben akzeptiert, die jenseits des akademischen Usus liegen. Enderwitz zitiert nicht, und er legt keine Quellen als Beweise vor. Allerdings lassen seine Überlegungen durch Quellen sich zum wenigsten belegen – die Entwicklung religiöser Bewußtseinsformen kann durch den Hinweis auf religiöse Gegenstände oder durch Zitate aus kanonischen Schriften kaum erklärt werden –, fast so wenig wie der Warenfetisch durch den Gebrauchswert der einzelnen Ware: Was sagt ein Opferstock über das Bewußtsein der Opfernden aus? Was selbst das Neue Testament über den Glauben der Christen? Wer jedoch keinerlei Wissen über die frühen Formen der Religion wie auch über die Entstehung der Klassengesellschaften mitbringt, wird vermutlich auf Rezeptionshindernisse stoßen: Der Autor, der vom Konkreten abstrahiert, setzt dessen Kenntnis voraus

Vom Fest zum Opferkult

Im Grunde entwickelt Enderwitz einen einzigen Gedanken, der bereits am Beginn des ersten Bandes seiner Untersuchung in bestechender Klarheit exponiert wird: „Der Mythos handelt vom qualitativen Sprung in der gesellschaftlichen Produktion, vom Moment des Umschlagens gemeinschaftlicher Subsistenz in gesellschaftlichen Überfluß, vom Augenblick der Entstehung gesellschaftlichen Reichtums.“ Das ritualisierte Fest der Stammesgesellschaft dient dazu, diesen stets neu anfallenden Überschuß zu verzehren und zu zerstören, um die Identitätskrise der Stammesgesellschaft, die durch diesen Überschuß entsteht, immer wieder zu beseitigen, die Einheit des Stammes zu bewahren. Doch der ständig wiederholte Potlatch vermag sich auf Dauer dem Ansturm der Produktivität, der Fülle und Permanenz des Reichtums, nicht zu widersetzen. So greift man nach einer neuen Strategie und schickt dem Heros, dem verstorbenen Herrn des Festes, den Überschuß ins Totenreich nach (d.h., vergräbt ihn). Aber auch der Totenkult schafft keine endgültige Abhilfe, „weil dank der auf Grund arbeitsteiliger Kooperation zunehmenden Arbeitsleistung und wachsenden Produktivkraft des Stammes immer mehr gesellschaftlicher Reichtum nachwächst“. Woher aber kommt der Impetus zur Steigerung der Produktivität – aus dem einzelnen Stamm selbst? Ist er „naturwüchsig“, wie das Marxsche Verlegenheitswort lautet?

An diesem Punkt, beim Wiederauftauchen des ursprünglichen Dilemmas in neuer Form, verläßt die Studie die Immanenz des einzelnen Stammes und berücksichtigt den Umstand, daß die Stammesgesellschaften kaum jemals in völliger Isolation voneinander existierten und also die Immanenz bereits eine Abstraktion darstellt. Erst hier beachtet Enderwitz auch das, was man die Gebrauchswertseite von Arbeit und Produktivität nennt: Denn jene Gesellschaftsform, die das Dilemma des Totenkults überwindet und die Reichtumsproduktion in Regie nimmt, die Theokratie mit ihrem Opferkult, läßt sich nur aus dem Zusammenstoß verschieden entwickelter und Verschiedenes produzierender Stämme erklären. Enderwitz spricht von einer „stratifizierten Gesellschaft“, die „Resultat der wachsenden Reichtumsunterschiede zwischen armen, nomadischen und reichen, agrarischen Stämmen ist“. Die nomadisch-kriegerischen Eroberer, die sich als aristokratische Oberschicht etablieren können, eignen sich nicht nur den Reichtum der agrarisch-produzierenden Gesellschaften an, die damit zur Unterschicht herabsinken, sie verdrängen nicht nur jenen Häuptling, der in der Stammesgesellschaft noch als Stellvertreter des ins Totenreich verabschiedeten Heros fungierte, sondern sie ersetzen auch den Totenkult durch den Opferkult, das Totenreich des sterblichen Heros durch den Himmel der unsterblichen Götter, in deren Namen und als deren Stellvertreter auf Erden sie sich nunmehr das Mehrprodukt der agrarisch produzierenden Bevölkerung aneignen. Der Olymp mit seinen ätherischen Göttern entsteht gewissermaßen aus der Notwendigkeit der neuen Herrn, den Totenkult zu verhindern, den Reichtum im Diesseits zu arretieren, um ihn sich überhaupt aneignen zu können. „Sowenig die Götter dem Priesterkönig zu seinen Lebzeiten ins Handwerk pfuschen, sosehr stehen sie im Falle des Todes bereit, durch ihren formalen Eigentumstitel auf den Reichtum jedem Wiederaufleben des früheren Totenkults zu wehren.“

Dennoch muß die Aneignung durch die Priesterklasse legitimiert, der Eigentumstitel der Götter bestätigt werden: „Das Mittel, dem Priesterkönig seine Legitimation zu erhalten, findet die theokratische Gesellschaft im Opfer, darin, daß sie dem Priesterkönig eine in Reichtumsgaben sich manifestierende materiale Anerkennung des formalen Eigentumsanspruchs der Götter abnötigt.“ Und in der „Absicht, den jenseitig wahren Herren des Reichtums eine empirisch tragende Basis zu verschaffen, die der realen Appropriation des Reichtums durch ihn, den Statthalter auf Erden, standzuhalten vermag, wählt der Priesterkönig paradigmatischen Reichtum, exemplarischen Überfluß aus, den er den jenseitigen Herren parte pro toto dessen, was er ihnen schuldet, ostentativ übergibt und als Teil des Ganzen, das ihnen zusteht, demonstrativ zur Verfügung stellt.“

Der Fruchtbarkeitskult als imaginärer Widerstand

Weniger entwickelt und etwas dunkel erscheint, welche Projektionen Ulrich Enderwitz in der vorherrschenden Opferpraxis – im kultischen Töten und Schlachten – am Werke sieht. Hier wie auch schon bei der Deutung des Festes und des darin entsprungenen Mythos vom Heros spricht der Autor von einem „anderen Subjekt“, das den Stammessubjekten bzw. der Opfergemeinde plötzlich epiphanisch gegenübertrete und in dem die Selbstzurücknahme des Reichtums Gestalt und Ereignis werde: „Weil das andere Subjekt, das bei Gelegenheit der Opferhandlung neu erscheint, die theokratische Gesellschaft mit der gleichen schrecklichen Irrealisierung bedroht wie einst das aus Anlaß der Reichtumserzeugung erschienene andere Subjekt die Stammesgemeinschaft, weigert sich die Opfergemeinde, das andere Subjekt als die singularische wahre Identität der Götter anzuerkennen, erklärt es zu einem ex nihilo auftauchenden sakrilegischen Störenfried und läßt den Priesterkönig es als Sühneopfer sakrifizieren.“ Der Darbringungs- und Weiheakt verkehrt sich ins Schlacht- und Sühneopfer. Plötzlich wird die „in voller Leibhaftigkeit diesseitig wahre Gestalt der jenseitigen Reichtumsbesitzer“ sichtbar, deren wirkliche Identität: nämlich nichts als Reichtum zu sein, stellt jedoch die Priesterkönige in Frage, und um dies zu vereiteln, gehen die Priester zum Sühneopfer über und werden zu Schlächtern.

An diesem Umschlagpunkt des Kultes sieht Enderwitz denn auch den Ansatzpunkt der Auferstehungsreligionen, die vielfach als agrarische Fruchtbarkeitskulte mißverstanden werden, in Enderwitz’ Sicht aber so etwas wie eine Projektion des Widerstands darstellen – aus der Perspektive der unterworfenen argarisch produzierenden Unterschicht. Das bei der Opferhandlung erscheinende andere Subjekt „übt auf die am Rande des Opfergeschehens postierte und von dorther mit gemischten Gefühlen zuschauende Unterschicht eine geradezu elektrisierende Wirkung und schier unwiderstehliche Faszination aus. Zutiefst zerfallen, wie sie ja ist, mit der zu lebensartlicher Apartheit entfalteten aristokratischen Reichtumssphäre, kann die Unterschicht gar nicht anders, als in dieser Negativität des anderen Subjekts eine Artikulation und Bestätigung ihres eigenen, gegen jene Sphäre der Oberschicht sich regenden Ressentiments zu gewahren.“ Der Rausch, die Ekstase, in die der Dionysoskult versetzt, erweist sich als Krisenbewältigung mit imaginären Mitteln, als scheinhafte Aufhebung der Unterdrückung und irreale Wiederherstellung der Subsistenzverhältnisse – im Gegensatz zum mythologischen Fest, in dessen Vollzug doch der Reichtum tatsächlich, wenn auch nur vorübergehend, beseitigt wurde. Was als Fruchtbarkeitskult erscheint und Subsistenzverhältnisse beschwört, ist in Wahrheit Reflex und Abglanz der Reichtumserzeugung.

Im dritten Teil seiner Studie schließlich, der sich offenkundig zu drei Bänden auswächst (Indien/Griechenland/China und Israel), behandelt Enderwitz unter dem Titel „Die Herrschaft des Wesens“ die Ablösung der opferkultlich theokratischen Ordnung durch einen auf Transzendenz und ethisches Verhalten abgestellten, monotheistischen „Wesenskult“. Dieser Kult eines abstrakt gewordenen Wesens wird dabei als Antwort auf die orgiastischen Natur- und Fruchtbarkeitskulte begriffen, in denen die sozialen Spannungen überall ihren religiösen Ausdruck fanden. Abermals gelingt es Enderwitz, eine historische Konstellation aus seinem Grundgedanken zu entschlüsseln, wenn er im jüngst erschienenen Band das seltsame Zwitterwesen der griechischen Polis, ihr „Zugleich von kommerzieller Bestimmtheit und aristokratischer Verfaßtheit“, analysiert. Ursprünglich der priesterköniglichen Reichtumsverwaltung entstammend, erweist sich hier das Handelskapital bald als Kuckucksei im theokratischen Nest, als neues Organisationsprinzip und Kristallisationspunkt der Polis, die schließlich auch die aristokratische Oberschicht köpft, den Priesterkönig entmachtet und mit dem Rumpf der landbesitzenden Aristokratie eine Symbiose eingeht. Für die aristokratischen Herrn wird damit jedoch eine Befreiung von den opferkultlichen Verpflichtungen möglich, die ihnen in der theokratischen Ordnung auferlegt sind: Sie ziehen in die Stadt, die nun nicht mehr das Zentrum einer Theokratie ist, sondern Marktzentrum, und können sich damit von der Pflicht räumlich und zeitlich festgelegter ritueller Anerkennungsgesten und kultischer Darbringungshandlungen emanzipieren, müssen nicht mehr den Opferer vom Dienst spielen, den Verbindungsmann zu den Göttern mimen, sondern können im Rahmen der Polis wesentlich freier über ihren Reichtum verfügen, den sie gleichwohl noch immer aus derselben Quelle beziehen: der Ausbeutung einer in agrarischer Fron produzierenden Bevölkerung. Aber diese Emanzipation gibt es nicht gratis: Der in der Polis residierende Aristokrat muß etwas hergeben von seinem Reichtum, der Stadt übereignen, herschenken. Die „Liturgie“ bezeichnet dieses Entgegenkommen: Mit den Mitteln der Aristokraten wurde schließlich all das Schöne finanziert, was dem Bildungsbürger die Griechen so wert macht.

Auch die Religion der Polis ist demnach schon bestimmt durch die (letztlich monotheistische) Abstraktion von allen konkreten kultischen Bezügen. Der Bezug auf ein abstraktes Wesen soll der sozialkritischen Negativität des dionysischen Kults die Spitze nehmen (so ungefährlich und irreal ist also der dionysische Rausch denn doch nicht) und überhaupt die traditionellen Garanten des gesellschaftlichen Reichtums, die Götter, ebenso überflüssig wie alle opferkultlich-rituelle Abhängigkeit von ihnen obsolet werden lassen. Vielleicht könnte die Religion der Polis als eine Art Gleichgewicht zwischen der alten opferkultlichen Praxis und dem abstrakten Wesensbezug vorgestellt werden – und das gesellschaftliche Leben der antiken Aristokraten als ein Balanceakt zwischen der Entrealisierung der Welt, die durch den Bezug aufs abstrakte Wesen droht, und der Freiheit, die Dinge dieser Welt ungestört zu genießen. Als Inbegriff dieser Balance zwischen Schein und Sein kann das Theater gelten, dessen Metaphorik Enderwitz nicht zufällig zur Beschreibung der aristokratischen Lebensweise in der Polis bemüht: Der Wesensbezug erlaube es dem A ristokraten, die Welt den Göttern und ihrem Verfügungsanspruch als ein Ganzes des Scheins „agnostisch zu entreißen und, wenn schon nicht zu seinem Schöpfungswerk, seiner Kreatur, zu erklären, so doch zu seinem Bühnenwerk, seiner Kulisse zu machen, erlaubt es ihm andererseits, sich auf dieser Bühne der Erscheinungswelt narzißtisch zu inszenieren …“ Die ersten Dramatiker, die das Abendland kennt, waren solche Aristokraten: Sie schrieben nicht nur selbst die Stücke, sondern kamen für die gesamten Kosten und die Organisation der Aufführung auf: die Geburt der Tragödie also nicht „aus dem Geiste der Musik“ (wie Nietzsche titelte), sondern aus dem des Narzißmus.

Es könnte in gewisser Hinsicht auch von einem säkularisierten Opferkult gesprochen werden, der in der Polis praktiziert wird: Statt Priester und Opfergemeinde stehen sich Aristokrat und Bürgerschaft gegenüber, während der Opferpriester aber an den Kult geschmiedet bleibt, braucht der Aristokrat von der Bürgerschaft Zustimmung und Anerkennung, um sich von ihm lösen zu können, und diese muß er immer wieder aufs Neue erringen – bei Strafe des Untergangs, der ihm in Gestalt von Scherbengericht und Verbannung droht. Solchermaßen gelingt es der Polis, den aristokratischen Reichtum zu integrieren. Die Demokratie bewährt sich als praktikable Umverteilungsmaschine des Reichtums: Einerseits integriert sie den aristokratischen, andererseits diffundiert sie auch den handelskapitalistischen.

Offene Fragen: Produktivität und Sklaverei

In seiner Rezension der ersten beiden Bände von Reichtum und Religion (in der Zeitschrift „Sinn und Form“) meinte Volker Reinicke, der „bloße Gedanke, die Widersprüche der Gesellschaft aus einem einheitlichen Prinzip ableiten zu wollen“, werde heute „bereits unter Ideologieverdacht gestellt“. Monokausalität – so müßte der Vorwurf also lauten, den man Enderwitz machen würde, gesetzt den Fall seine Bücher fänden unter den akademischen Freunden der Multikausalität überhaupt Leser. Aber das Problem, mit dem sich Enderwitz beschäftigt, ist nicht so sehr ein einheitlicher Gedanke als der eine Gedanke, daß sich mit der Entstehung des Reichtums in der Gesellschaft selber eine reale ‘Monokausalität’ herausbildet und im Kapital gewissermaßen perfektioniert, die jene schöne Vielfalt des Multikausalen, an der sich die verschiedenen „Ansätze“ der Wissenschaften erfreuen, verschlingt. Die Abstraktionshöhe, die Enderwitz durchhält und die manchmal schwindlig macht, beruht auf der realen Abstraktion, die durch die Formveränderung der Reichtumsproduktion entsteht; sie faßt das real Gemeinsame vieler verschiedener Gesellschaften zusammen. Wenn Enderwitz dabei auch vom Geschlechterverhältnis abstrahiert, so bleibt er ebenfalls in der Immanenz der Abstraktion – obwohl gerade sein Grundgedanke nicht wenig zur geschichtlichen Entwicklung des Geschlechterverhältnisses beitragen könnte: Die Durchsetzung der olympischen Götter war schließlich, wie auch der Wesenskult, immer mit einer bestimmten Abspaltung und Depotenzierung des Weiblichen verbunden.

Probleme ergeben sich also vor allem dort, wo die Immanenz der realen Abstraktion etwas von den gesellschaftlichen Konflikten verdeckt, über die hinweg und durch die hindurch sie sich behauptet. Am meisten gilt dies für Enderwitz’ neuen Band über die Polis. Die Bedeutung der Kriege (mit Ausnahme der Perserkriege) und der Sklaverei wird unterbelichtet; ebenso im Hintergrund bleiben die kleinen Landbesitzer, die freien Bauern (wie sie etwa bei Aristophanes die Szene beherrschen). Die Rolle des Handelskapitals kann gewiß nicht überschätzt werden, wohl aber die des Handwerks: Enderwitz sieht in dessen Produktivitätssteigerung eine entscheidende Kraft der Akkumulation und spricht von einem regelrechten „Produktivitätsgefälle“, das dadurch entstanden sei. Abgesehen davon, daß Fachwissenschaftler wie Moses I. Finley einer solchen Behauptung energisch widersprechen würden, könnte ebensogut gefragt werden, warum dieses Gefälle bei einer so hoch entwickelten Kultur wie der griechischen so gering blieb – etwa im Vergleich zum westeuropäischen Mittelalter – und die Arbeit bekanntlich einen schlechten Ruf genoß. Hier wäre wiederum auf die Funktion der Sklaverei für die antike Polis hinzuweisen, die einer Produktivitätssteigerung entgegenwirkte, und vielleicht auch auf die geringe Bedeutung des Pachtbesitzes, während im westeuropäischen Feudalismus offenkundig Leibeigenschaft, Lehenssystem und später Pachtbesitz zum Stachel der Produktivität werden sollten, wie es zumindest Perry Andersons Studie über den absolutistischen Staat nahelegt.

Doch sind dies allesamt Probleme, die dem Grundgedanken, dem Enderwitz folgt, nichts anhaben, sondern zeigen, daß dieser Gedanke noch weiter in verschiedenen Richtungen entwickelt werden könnte. Enderwitz selbst steuert freilich schon auf das abendländische Finale zu: Mit dem Christentum wird er im folgenden (wievielteiligen?) Band den Übergang zur „Macht des Kapitals“ darstellen und die Brücke schlagen zu den Theorien über Faschismus und Bürgertum, Antisemitismus und Volksstaat, wie sie aus seiner Untersuchung Der Konsument als Ideologe (von 1994), vor allem aber aus seinem Buch Antisemitismus und Volksstaat (von 1991) bereits bekannt sind. Letzteres hat neben Moishe Postones Aufsatz über „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ wesentlich die Diskussion des Antisemitismus in der deutschen Linken nach 1989 mitbestimmt. Darum hat Enderwitz’ Verlag (Ça ira, Freiburg), jetzt eine Neuauflage herausgebracht, die um einen älteren Text über den „revolutionären Staat“ als „Paradox der bürgerlichen Gesellschaft“ und ein neues Vorwort erweitert ist.

Kapitaler Potlatch und deutsche Volksgemeinschaft

Faschismus und „Volksstaat“ zeichnen sich Enderwitz zufolge als das letzte Kapitel von Reichtum und Religion ab. Wenn der Reichtum vollständig zu Kapital geworden ist und auf den in allen produzierten Gütern steckenden Wert reduzierbar wird, dann treten die Aneigner des Reichtums als Subjekte zurück und sind bloß noch Anhängsel des automatischen Subjekts. (Die Schicht der bürgerlichen Ideologen, Künstler, Philosophen etc. entsteht nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, den immer gigantischer werdenden Reichtum zu konsumieren, damit der produzierte Mehrwert auch realisiert werde.) Das Bürgertum, das dem Kapital seine politische Autonomie verdankt, bringt diese Autonomie letztlich dem Kapital selbst zum Opfer, sobald die Krise der Reichtumsproduktion erneut zuschlägt. Als konsumtiver Hauptnutznießer der Akkumulation läßt sich dieses Bürgertum freiwillig entmachten und veranlaßt den Staat, in die Rolle eines autokratisch handelnden Subjekts von kapitalen Gnaden zu schlüpfen.

In dem Text aus dem Jahr 1981, der der Neuauflage des Volksstaats beigefügt wurde, erscheint manches davon noch arg verkürzt: Napoleon wird geradezu als erster Faschist, Kierkegaard als dessen Philosoph interpretiert; die Revolution, gegen die Napoleon und der faschistische Staat mobilisiert worden sind, wird umgekehrt als rein subversive Bewegung betrachtet, die nur das eine Ziel gehabt habe, Staat und Kapital abzuschaffen. Andererseits konnte Enderwitz Napoleon und Hitler nur darum einander so naherücken, weil er offenkundig damals die Bedeutung des Antisemitismus für den Volksstaat noch kaum berücksichtigte und zu sehr auf die bürgerliche Klasse fixiert blieb, die Arbeiterschaft als integrierten Bestandteil des Staats aber weitgehend ausklammerte.

Dies wird durch den nunmehr wiederaufgelegten Text zurechtgerückt: Der Volksstaat bewährt sich gerade in der Integration der revolutionären Kraft – im selben Maß als der Antisemitismus eine Art Ersatzobjekt in den erneut ausbrechenden Krisen der Reichtumsproduktion bereithält. Im neuen Vorwort heißt es dazu abschließend: „Ausgeliefert sind die Staatsbürger dem im Faschismus kulminierenden leviathanischen Staat nicht etwa deshalb, weil er übermächtig, ein sie in seiner Objektivität und Selbständigkeit erdrückendes fremdes Subjekt, sondern weil er von ihnen bevollmächtigt, ihre zum fremden Subjekt verselbständigte und objektivierte eigene Macht ist.“ Als solche macht sich der Staat „den drei entscheidenden gesellschaftlichen Kräften Arbeiterschaft, Kapital und Bürgertum gleichermaßen unentbehrlich und etabliert sich als jene objektive gesellschaftliche Identität, in der alle drei ihre komplizenhaft ineinander verwirkte Existenz … haben.“ Damit gelangt Enderwitz schließlich in die Gegenwart, wobei er – kaum überraschend – auf die Kategorien von Reichtum und Religion zurückgreifen kann: „Weil der [Zweite Welt-]Krieg in einem Potlatch ohnegleichen, einer gigantischen Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums, resultiert und, negativ betrachtet, Not und Armut, positiv genommen, einen schier unerschöpflichen Bedarf an Subsistenzmitteln und Konsumgütern hinterläßt, kann die reale Erbin und Rechtsnachfolgerin des faschistischen Staatswesens, die nach dem Vorbild des letzteren retablierte westdeutsche Republik, kraft der qualifizierten gesellschaftlichen Arbeit, über die sie nach wie vor verfügt, und dank des Kapitals, das amerikanische Hegemonialmachtpolitik ins Land pumpt, ein ökonomisches Wiederaufbauprogramm starten, das sich mit den politischen Institutionen einer repräsentativen Demokratie bestens verträgt …“

Doch was geschieht, wenn der nächste Potlatch notwendig werden sollte – notwendig im Sinne der Verwertung des Kapitals, wenn die Reichtumsproduktion erneut zur Krise drängt – und die „finale Krise“, wie Enderwitz glaubt, sich als „unausweichlich“ erweist? „Sollte es unser Los sein, Zeitzeugen der großen Krise zu werden und den faschistischen Staat in seiner Agonie zu erleben, bleibt uns nicht einmal mehr die Hoffnung auf Gott – jedenfalls nicht auf den Gott, der den Leviathan erschuf – denn dieser Gott sind wir selbst.“

Aus: Konkret N°7 / 1999