Rezension zu »Freiheit und Trieb« in der aktuellen »Versorgerin«
Für die aktuelle Versorgerin (# 122) hat Florian Müller eine Rezension zu Freiheit und Trieb von Renate Göllner mit dem Titel Grenzen der Psychoanalyse verfasst:
Bereits 1910 betonte Sigmund Freud, dass sich die Gesellschaft im Widerstand gegen die Psychoanalyse befindet; denn, so führt Freud weiter aus, die Psychoanalyse verhalte sich der Gesellschaft gegenüber kritisch, indem sie ihr einen großen Anteil an der Verursachung der Neurosen zuschreibt. Am Widerstand gegen die Psychoanalyse hat sich bis heute nichts geändert. Obwohl sie als Heilverfahren wissenschaftlich anerkannt ist, spielt sie gesellschaftlich und im universitären Betrieb nur eine marginale Rolle. Gegenüber denjenigen Therapieverfahren, die einer auf Wertverwertung basierenden Gesellschaft eher entsprechen, da sie schneller und effizienter Erfolg verheißen und auf die Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit des Einzelnen abzielen, hat eine Psychoanalyse, die Zeit benötigt, und, zumindest in ihrer orthodoxen Variante, auf Selbsterkenntnis angelegt ist, keine Chance. Anstatt sich aber auf ihr kritisches Potential zu besinnen und über die eigenen Grenzen hinauszugehen, wie es Freud und seine Schüler versucht haben, bis sie vom Nationalsozialismus ins Exil vertrieben wurden, haben sich die Vertreter der etablierten Psychoanalyse ins eigene Behandlungszimmer zurückgezogen und vermögen heute kaum mehr über ihren eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dort, wo versucht wird, anschlussfähig an Nachbarwissenschaften zu bleiben, um einem vermeintlichen Determinismus Freuds zu entfliehen und die Psychoanalyse weiter zu entwickeln, werden stattdessen Allianzen mit dem strukturalistischen Determinismus der symbolischen Ordnung eingegangen, die sie um ihren letzten kritischen Stachel bringen.
Renate Göllner hat nun ein Buch unter dem Titel Freiheit und Trieb. An den Grenzen der Psychoanalyse vorgelegt, in dem sie sich gegen diesen Determinismus wendet und durch das Überschreiten der Psychoanalyse auch deren eigene Grenzen aufzeigt. Der Band, der ihre gesammelten Essays aus den Zeitschriften sans phrase und Context XXI enthält, hebt durch die gebündelte Form der Essays die inhaltliche Kohärenz der unterschiedlichen Beiträge deutlicher hervor. Bereits die Konjunktion im Titel des Buches verdeutlicht einen Zusammenhang zwischen diesen beiden zentralen Begriffen der Essays: dass auch der Triebbegriff einer Bestimmung dessen bedarf, inwiefern ein gewisser Grad an Freiheit angenommen werden kann; ohne diese Bestimmung besteht die Gefahr, in einen Determinismus zu verfallen, der zwar Freud immer wieder vorgeworfen wurde, aber von seinen Anhängern vertreten wurde. Insofern nimmt der erste Essay eine zentrale Rolle ein, da Göllner in diesem, anhand von Jean-Paul Sartres Auseinandersetzung mit Gustave Flaubert, die Besonderheit von Freuds Begriff der Neurosenwahl herausarbeitet. Sie verdeutlicht darin, dass auch das Ich sich aus dem vorhandenen Bündel an Trieben einen auswählt, ihn als seinen eigenen erkennt und zum Ausdruck bringt. Die Einsicht in diese Wahl, die gewissermaßen einer Selbstwahl entspricht, führt zur Erkenntnis über die Verantwortung für das eigene Handeln. Es gelingt ihr dadurch, Freuds Widersprüchlichkeit deutlich zu machen, dass er einerseits davon ausgeht, der Mensch werde von unbekannten, unbeherrschbaren Mächten gelebt, andererseits aber einen Grad der Freiheit annimmt, der psychoanalytisch nicht mehr aufzuklären ist. Gerade die Auseinandersetzung mit der existentiellen Psychoanalyse Sartres, für den das Unbewusste eine Provokation darstellt: »Ein Nichts, das dennoch Ding an sich sein soll« (S. 14) und es deswegen nicht gelten lassen kann, ermöglicht es, die Widersprüche im Freud‘schen Denken zu verdeutlichen und deren Grenzen zu erkennen; sie ermöglicht Göllner, die Paradoxie im Freud‘schen Denken aufzuzeigen, dass Freud von einer Disposition des Individuums ausgeht und gleichzeitig am Begriff der Wahl festhält. Eine ähnliche Paradoxie »gilt im Grunde für alle zentralen Begriffe der Psychoanalyse, so auch für den der Verdrängung: um von ihr sprechen zu können, muss bereits ein Bewusstsein angenommen werden, aus dem etwas verdrängt werde« (S. 15). Es verdeutlicht aber auch die Grenzen von Sartres Philosophie, denn durch die Leugnung eines Unbewussten ist es ihm nicht möglich, die Entstehung eines Ichs zu erklären. Die Auseinandersetzung mit seiner Philosophie führt aber zu einer Frage, die das ganze Buch durchzieht: Ist der Einzelne durch seine persönliche Disposition und die Bedingungen des Kapitalverhältnisses, denen er unterworfen ist, bereits determiniert oder in der Lage, sich auch anders zu entscheiden. Es geht also um die Frage, »wie der jeweils Einzelne Entscheidungen trifft, um dem falschen Allgemeinen zu entgehen« (S. 27). Wie dies versucht wird, zeigt Göllner vor allem in ihren literarischen Essays. Exemplarisch wird das anhand von Niklas Franks Abrechnung mit seinem Vater, der als Generalgouverneur von Polen den Tod Millionen von Juden zu verantworten hatte, deutlich. Göllner, die Niklas Franks Buch als »kategorischen Imperativ der Entnazifizierung« (S. 179) bezeichnet, hebt hervor, dass Frank zugleich die Legende der Bewältigung widerlegt und sich dem Weitertragen des postnazistischen Erbes widersetzt. Sein Buch ist nicht nur eine Abrechnung mit seinem eigenen Vater, sondern mit einer ganzen Generation von Nachkommen, die, anstatt den Bruch mit ihren Tätervätern zu vollziehen, in eine familiäre Gefühlsduselei versinken und sich selbst als Opfer gerieren.
In dem Essay über die Verdrängung der Bisexualität führt Renate Göllner aus, dass Freud den Menschen als nicht so festgelegt ansieht, wie seine Kritiker und Nachfolger, sondern einen offenen Naturbegriff vertritt, der dem der kritischen Theorie ähnlich ist. Anhand seiner Theorie der konzeptionellen Bisexualität verdeutlicht sie, dass Freud es als erklärungswürdig ansieht, warum sich der Mann überhaupt eine Frau als Objekt seiner Begierde aussucht. Der Begriff der konstitutionellen Bisexualität zielt nicht nur auf eine biologische Konstitution ab, sondern auch auf die Objektwahl, die im Unbewussten bereits vollzogen ist. Und diese Objektwahl, als psychische Dimension, steht im Zentrum von Freuds Untersuchungen. Er sieht diese Objektwahl, die unabhängig vom Geschlecht vollzogen wird und damit eine konstitutive Unbestimmtheit des Triebziels ist, als das Ursprüngliche an. Von Bisexualität »kann nur gesprochen werden, wenn beide Seiten, Natur und Gesellschaft existieren« (S. 89), denn es ist gerade die Kastrationsdrohung, die das gesellschaftliche Verhältnis der Geschlechter bestimmt. Mit dem Verdrängen der Bisexualität geht allerdings auch die Bedeutung des Triebbegriffs verloren. Es ist vor allem Jacques Lacans Weiterentwicklung der Psychoanalyse, die Natur und Materie leugnet und alles im Begriff des Phallus aufgehen lässt und in der das Begehren nach Unterwerfung durch das Opfer verlangt. Göllner ist zuzustimmen, wenn sie herausarbeitet, dass auch die Kritiker des Lacanschen Strukturalismus selbst einem Determinismus zu verfallen drohen, wenn sie, wie im Falle von Janine Chasseguet-Smirgel und Béla Grunberger, diesem einen Narzissmus entgegenhalten, der selbst biologistisch erklärt wird.
Dass sich die Psychoanalyse dort um ihren kritischen Gehalt bringt, wo sie selbst hinter wichtige Einsichten Freuds zurückfällt, zeigt Göllner an einer ansonsten so gewagten und kühnen Denkerin wie Melanie Klein, die Wesentliches zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse beigetragen hat. Klein geht davon aus, dass die Über-Ich Entwicklung, und damit verbunden auch der ödipale Konflikt, wesentlich früher einsetzen und an die Entsagung der mütterlichen Brust gebunden sind. Damit wird das Über-Ich von seiner gesellschaftlichen Funktion entkoppelt und erhält seine rigide und strafende Form nicht durch die Kastrationsdrohung und Verbot und Strafe durch die Eltern, sondern durch den Entzug der mütterlichen Brust im Zuge der Entwöhnung. Die Leistung Kleins, die Bedeutung von unbewussten Phantasien betont zu haben, kippt um, wenn sie diese Phantasien anthropologisiert. Göllner macht darauf aufmerksam, dass Klein im Konzept der »Vereinigten Eltern-Figur« in der Phantasie des Kindes, eine »genuine Heterosexualität« festschreibt und damit »die sich radikal gebärdende Klein, … als die auf eine gute Erziehung erpichte Lehrerin der Heterosexualität entpuppt« (S. 118). Wie Grunbergers Narzissmuskonzeption bleiben auch Kleins Theorien einem Biologismus verhaftet, wenn sie »Weiblichkeit und Männlichkeit als von Geburt an existierenden Gegensatz anthropologisiert, insofern sie gerade das gesellschaftliche Faktum der Kastrationsdrohung verdrängte« (S. 124).
Es geht aber nicht nur um die Grenzen der Psychoanalyse selbst, sondern auch um diejenigen Grenzen, die entstehen, wenn die Psychoanalyse als Erkenntnismethode gerade nicht mit einbezogen wird. Göllner zeigt dies vor allem am Misstrauen des Feminismus gegenüber der Psychoanalyse auf und verdeutlicht, dass der Feminismus dadurch nicht in der Lage ist, unbewusste Konflikte und Abhängigkeiten in den Geschlechterverhältnissen kritisch zu reflektieren, sondern es wird »die Verantwortung pauschal auf den ‚Mann‘ oder auf das ‚Patriarchat‘ übertragen« (S. 150). Göllner ist darin zuzustimmen, dass die Psychoanalyse den pathischen Gehalt von Projektionen auf Frauen, die als Reaktionsbildung auf die Auflösung personengebundener Herrschaftsformen verstanden werden müssen, und ihr Zusammenhang mit den Projektionen auf Juden freilegen kann; warum mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft kollektive Formen der Gewalt gegenüber Frauen abnahmen, Juden und Jüdinnen aber weiterhin mit dieser Gewalt rechnen müssen, darüber kann die Psychoanalyse unmittelbar keine Auskunft geben. Nur in Zusammenhang mit den Funktionsweisen kapitalistischer Vergesellschaftung wird erkennbar, dass die Juden als »Verkörperung der abstrakten Seite des Kapitals phantasiert« (S. 152) werden. Die Psychoanalyse ist als Erkenntnisinstrument notwendig, während gleichzeitig auch über ihre Grenzen hinausgegangen werden muss. Andernfalls ist es weder möglich Antworten zu finden, warum der Hass immer wieder die Juden – und Israel als ihren Staat – trifft und gleichzeitig die unmittelbare Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle in islamischen Gesellschaften wieder organisierte Gestalt annimmt, noch ist es möglich den antisemitischen Wahn als Krisenlösungsmodell des Kapitals zu denunzieren.
Quelle: Versorgerin #122