Armin Pfahl-Traughber: Wie die arabische Welt ihre Juden verlor
Armin Pfahl-Traughber
Wie die arabische Welt ihre Juden verlor
1945 lebten um die 900.000 Juden in der arabischen Welt. Heute sind es noch um die 4.500. Wie kam es dazu? Antwort auf diese Frage will Nathan Weinstock geben. Der belgische Jurist legte dazu die umfangreiche Studie »Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947 – 1967« vor. Seine Darstellung reicht indessen nicht nur bis 1947, sondern berechtigterweise gelegentlich bis ins Mittelalter oder noch davor zurück. Und der etwas literarisch klingende Haupttitel will auch nichts romantisieren, sondern ganz im Gegenteil auf einen Umbruch aufmerksam machen…
Juden lebten jahrhundertelang in der arabischen Welt. Dann wurde aber dieser Faden durch die Vertreibung zerrissen. Genau die damit einhergehende Entwicklung soll hinsichtlich der Ursachen und des Verlaufs untersucht werden. Es handelte sich dabei für den Autor um »die Vertreibung, Verfolgung und hinterlistige Vernichtung … ganzer Gemeinschaften von Juden …« (S. 9).
Für ihn kommt hierfür dem »Dhimmi-Status« ein herausragender Stellenwert zu, was bereits in der Einführung hervorgehoben wird. Es geht darum, dass Juden als »Schutzbefohlene« galten. Was sich wie Hilfe für Minderheiten anhört, bedeutete zwar tatsächlich, ein Bürger mit gewissen Rechten zu sein, aber als Bürger zweiter Klasse, der dafür noch Sondersteuern zahlen musste. Ein „Dhimmi« sei ein »reduzierter Mensch« (S. 20). Die damit einhergehende Rolle erklärte für Weinstock viele Vorurteile. Die Herrschenden präsentierten die Juden als Sündenböcke, die Marginalisierten standen ihnen mit Überlegenheitsgefühlen gegenüber. Die Gleichstellung durch die Kolonialisierung habe dann Ressentiments und Vorurteile eskalieren lassen: »Von diesem Moment an wird die Emanzipation der Dhimmis in der öffentlichen Meinung der Muslime als eine vom Westen im Rahmen seiner Strategie der Beherrschung der arabisch-islamischen Welt aufgezwungenen Perversion wahrgenommen …« (S. 215).
Die damit gemeinte Entwicklung wird dann anhand von vielen Länderstudien durchgegangen. Dabei fällt der Blick auf die arabische und nicht-arabische islamische Welt, wo die Geschichte der Juden eben vom Mittelalter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts thematisiert wird. Der Autor macht dabei an vielen Beispielen deutlich, dass von einer Harmonie und Toleranz nicht gesprochen werden kann. Es habe neben alltäglichen Diskriminierungen auch immer wieder schreckliche Gewalthandlungen gegeben. Darüber hinaus wird die Ausbreitung der europäischen Judenfeindlichkeit in den islamischen Ländern von Weinstock anschaulich geschildert. Er thematisiert auch viele Pogrome, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden und heute als Erfahrung jüdischen Lebens kaum bekannt sind. So gab es etwa 1920 und 1921 in Jaffa und Jerusalem blutige Unruhen, wo »Schlachtet die Juden ab« oder »Wir werden das Blut der Juden trinken!« (S. 354) gerufen wurde.
Man hat es gleich aus mehreren Gründen mit einer gelungenen Studie zu tun. Der Autor liefert eine beklemmende Darstellung, die hinsichtlich des Inhaltes gut strukturiert ist und auch eine klare Ursachenanalyse vornimmt. Er entreißt die Diskriminierung der dortigen Juden und ihrem Schicksal dem Vergessen. Dadurch erhält man einen anderen Blick auf den Nahost-Konflikt, denn gerade die Diskriminierung der dortigen Juden machte einen eigenen jüdischen Staat mit nötig. Es werden auch viele Augenzeugenberichte dokumentiert, welche von den schrecklichen Gewalttaten gegen Juden schon weit vor 1948 zeugen. Dabei liefert Weinstock immer differenzierte Wertungen. Hinsichtlich der Analyse könnten aber noch zwei Fragen gestellt werden: War nur der »Dhimmi-Status« der Grund für die Ressentiments? Kam darüber hinaus nicht auch religiösen Prägungen eine größere Relevanz zu? Ansonsten handelt es sich um ein aufklärerisches Buch, im besten Sinne des Wortes.
Nathan Weinstock, Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947 – 1967, Freiburg 2019 (ca ira-Verlag), 476 S., Euro 23,00.
Aus: Hagalil, 31. Oktober 2019