Reinhard Egenolf: Erinnerung an Klaus Heinrich

Reinhard Egenolf

Erinnerung an Klaus Heinrich

 

Was ist geblieben an Erinnerung von der Zeit des Studiums in Berlin 01/70 – 12/80? Elf Jahre Kampf. Weitgehend geprägt von Illusion und falschem Zungenschlag. Eine große Ausnahme: Klaus Heinrich, der am 23.11.20 im Alter von 93 Jahren verstorben ist.

Montags die Übung zum »Transzendentalen Subjekt«. Klaus Heinrich spannte den Bogen von Apollon/Dionysos über Herakles/Ödipus und die Lucia di Lammermoor zu den von A. Speer entworfenen Kandelabern, die die Ost-West-Achse/Straße des 17. Juni bis heute säumen als dingliche Vergegenwärtigung (als Warnung und Drohung zugleich) des Todeskults des NS.

Donnerstags 16.00 Uhr c. t., Henry-Ford-Bau, Hörsaal A : die Vorlesungen; Zum Beispiel: »Zur Figur und zum Problem des Heros; antike und moderne Formen seiner Interpretation und Instrumentalisierung«.
Der Hörsaal ist gut gefüllt. Ein eher kleiner Mann mittleren Alters von fülliger Statur betritt den Raum – im Winter mit Baskenmütze auf dem »mächtigen« Kopf, den Körper gehüllt in einen schweren dunklen Mantel. Darunter ein etwas enger, taubenblauer Einreiher, weißes Hemd, dessen offener Kragen von einer himmelblauen Krawatte zusammengehalten wird. Ein »Assistent« nimmt Mantel und Mütze an sich und setzt sich damit in die erste Reihe.

Klaus Heinrich betritt nicht das erhöhte Podest, stellt sich nicht ans Pult; er legt die wenigen mitgebrachten Bücher auf dem Podest ab, bleibt in etwa in der Mitte des Ganges zwischen Podest und erster Reihe stehen und beginnt nach einem ersten wachen und freundlichem Blick ins Auditorium mit seiner Wanderung: Vier Schritte nach rechts, vier Schritte nach links, den Kopf immer leicht in Richtung Zuhörer gerichtet: »Wie wir zur Kenntnis nehmen mussten …« Die ersten Minuten immer ein Bericht zur aktuellen Lage der Universität, die er mitbegründet hatte. In Mimik und Stimme oft ein Unterton, der die Sorge um die Veränderung der Universität zu einer technokratischen Institution zum Ausdruck brachte.

Dann der Übergang zur Wissenschaft: »Wie Sie alle wissen …«; vier Schritte nach rechts, vier Schritte nach links; es entfaltete sich eine Welt.

Figuren und Probleme des Heroischen und dessen Instrumentalisierung wurden besonders sinnfällig -so eine zweite unabweisbare Erinnerung an die Zeit in Berlin- in der damaligen Bernauer Straße. Erstieg man das Schaugerüst am Ende der Sackgasse, hatte man den Blick auf die Ecke Eberswalder/Schwedter Straße, wo sich das »Haus der Volkssolidarität« befand. Die Erinnerung sagt:
Nie betrat ein Mensch dieses Haus. Diese Art von Solidarität wollte wohl niemand: heroisierende Illusion vor dem Todesstreifen mit den an die Laufleine gefesselten, kläffenden »Schäferhunden«. Das Schaugerüst am Esplanade ermöglichte mit Blick nach halbrechts die Wahrnehmung eines unscheinbaren Hügels in der planifizierten Einöde hinter der Mauer: die ehemalige Bunkeranlage der Reichskanzlei, in der der NS sein personifiziertes Ende fand.

Die DDR-Oberen kriegten das Ding nicht weggesprengt, also wurde es »verfüllt« und verschüttet. Die Verschüttung brach auf nach dem Fall des »Antifaschistischen Schutzwalls« und entließ den untergründigen, verdrängten braunen Morast in die deutsche Wirklichkeit. Illusion, falscher Zungenschlag und Instrumentalisierung des Heroischen in der Stadt Berlin zwischen den Jahren 1945/49 und 1989.

Ich glaube, diese Lebenswirklichkeit der Stadt Berlin muss der Zuhörer bei den Vorlesungen von Klaus Heinrich immer als Matrix mitsehen: Den Spannungsbogen zwischen den Polen des verdrängten NS und dem illusionären Sozialismus stalinistischer Prägung als »falsches Spiel«. Beides Todeskulte, die die »empirischen Subjekte« bedroht haben und immer noch bedrohen.