Polen. Die Ausnahme und die Regel
Polen
Die Ausnahme und die Regel
Joachim Bruhn
Im Ausnahmezustand hat sich je schon die Wirklichkeit gesellschaftlicher Normalität offenbart. Die Wirklichkeit des unterirdischen Bürgerkrieges dringt dann wie nicht tot zu tretendes Unkraut durch den Beton der Institutionen, erschüttert gar noch den entlegensten aller Überbauten, das Recht. Das Recht gesteht sodann erschüttert ein, daß die links-normativen Verfassungsrechtler unter seiner Nummer momentan (aufgrund der allgemeinen Kommunikationssperre) keine Appellationsinstanz antreffen werden, bis es sich selbst – nach einer Phase der ‘Normalisierung’ – wieder ins Recht setzt, den normalen Geschäftsgang der Bürgerkriegsverwaltung von oben zu koordinieren. Denn daß das Recht die Normalität vor allem vom Standpunkt des Bürgerkrieges aus regelt, erweist sich, wenn seine höchste Aufgabe, die gewaltlos-zwanghafte Integration, unerfüllbar wird. Dem bürgerlichen Geist, stets auf genaue Kalkulierbarkeit der Staatsaktion in Belangen der Ökonomie vertrauend, wird es dann plötzlich zum Mysterium, wenn die Übertragung eines gesunden Buchhaltervertrauens ins Bürgerliche Gesetzbuch auf das eines gesunden Staatsbürgervertrauens ins Staatsrecht nicht mehr gelingen mag. Dies kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Als Ausweg bietet sich nur das bürgerliche Eingeständnis an, es habe wohl mit der Politik, verstanden als dem Ort freier, nur verfahrensmäßig-formal geordneter Willensbildung der Staatsbürger, nun nicht mehr allzu viel auf sich. Nur noch als Naturprozeß, vergleichbar dem Wechsel der Jahreszeiten, sei Politik, sei Staatsrecht nun zu begreifen. Noch dem letzten Juristen fällt, befragt danach, wie es zu erklären sei, daß Deutschland in einem Jahrhundert nun zwar drei (und, nach Notstands- und Stabilitätsgesetz, sogar vier) Verfassungen verschlissen habe, nicht aber ein einziges Bürgerliches Gesetzbuch, der Meterologenspruch ein, Staatsrecht vergehe, Privatrecht aber bestehe. Ähnlich das Argument geübter Verrechtlicher des Rechtsentzuges: die Verfassung dürfe keine “Schönwetterverfassung” sein. Wird gleichwohl der Staat genötigt, sich selbst aus den Formen des Rechts herauszukatapultieren, dann nur im Interesse der Wiederherstellung des schönen Wetters und des friedlichen Sonnenscheins.
Dieser Vorgang erscheint bürgerlich als das Mysterium der Staatsraison. Obwohl Staatsraison, kann der Bürger sie sich nur als Verkörperung der Irrationalität, des Chaos und der Unvernunft vorstellen, die in den geregelten Mechanismus seines “business as usual” einbricht. “Werden wesentliche Teile dieses komplizierten Mechanismus für geraume Zeit stillgelegt, oder tritt gar, wie beim Generalstreik, eine Lähmung des gesamten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens ein, so wird auch das ordnungsgemäße Funktionieren des Staatsapparates unmöglich, und es müssen sich (dann, natürlich erst dann! – d.Vf.) zwangsläufig chaotische Zustände herausbilden”, hat dazu der Bundesgerichtshof in seinem Urteil zum Verbot des politischen Generalstreiks schon 1955 ausgeführt. [ 1 ] So ist die Abwehr des Chaos, das stets nur von unten kommen kann, der Dreh- und Angelpunkt noch jeder staatsrationalen Rechtssuspendierung von oben geworden. Darüber spricht man nicht gerne. Aber man bereitet sich vor, viele Freiheiten aufzuheben, um sich die Freiheit zu bewahren. Carl Schmitt, unter den Partisanen der Staatsräson noch der einzige, der sich bemüht hat (und zwar von 1933 bis heute), diesen vertrackten Zustand auf den (Bürgerkriegs-)Begriff zu bringen, hat 1934, nach dem Freispruch Dimitroffs im Reichstagsbrandprozeß, das Paradox der Herrschaft der Ausbeutung in den Formen des Rechts so ausgedrückt: niemandem könne das Recht zugesprochen werden, durch das Recht vor dem Zugriff des Rechts geschützt zu werden, d.h. das Recht zu mißbrauchen gegen den eigentlichen Sinn des Rechts. Was aber ist der Kem dieser geistigen Verwirrung des Volkes? Natürlich der Wahn “daß alle Macht vom Volke kommt”. Ein Wahn, der so mächtig ist “wie der Glaube, daß alle obrigkeitliche Gewalt von Gott kommt.” [ 2 ]
So kann in der FAZ und der “Welt” nun eitel Freude herrschen über die zwischen West-und Ostobrigkeit entstandene Solidarität der Staatsraison, des Kampfes gegen den Wahn der Volkssouveränität: der Westen freut sich – hat er in Santiago de Chile auch den Anfang machen müssen, damals noch verfemt und verächtet, so kommt nun die evidente Beweisführung der Allgültigkeit der Staatsraison in Warschau zu ihrem Ende. Herbert Kremp freut sich öffentlich in der “Welt” vom 16.12.1981, daß Erörterungen der Frage, ob der polnische “Militärrat des nationalen Heils” eine nach den Normen der Verfassung legale Institution sei, im Grunde “nebensächlich” sind, “da die marxistische Gesellschaftstheorie den Kriegszustand grundsätzlich impliziert”. Und der böse Zeitgeist assistiert prompt in der Gestalt des DKP-Präsidenten Georg Polikeit: daß es mit der Einhaltung der Legalität in Polen so nicht weiter gehen konnte, “wird in den vergangenen Tagen auch von vielen Menschen verstanden, die in anderen Fragen sonst mit uns Kommunisten nicht übereinstimmen”. Und er zitiert – leider nur in Paraphrase und ohne Quellenangabe, Originalität geschickt vortäuschend – das uns bereits bekannte Urteil des Bundesgerichtshofes zum Verbot des politischen Generalstreiks: “In Wirklichkeit ist die zeitweilige Aussetzung des Streikrechts und anderer demokratischer Rechte in Polen …, so unnormal dieser Eingriff auch sein mag, nur die Widerspiegelung (d.h. die korrekte Anwendung sowjetmarxistischer Erkenntnistheorie! – d.Vf.) der völlig unnormalen und außergewöhnlichen Notsituation… Es handelt sich um eine offensichtlich unumgängliche Maßnahme, um überhaupt erst wieder die Voraussetzungen für ein normales Leben herzustellen…” (Unsere DKP-Zeitung, 18.12.1981).
Die Argumente sind nicht zufällig dieselben. Die Theorie der Staatsraison ist wohl die einzige, die, den fatal-formalen Gegensatz der Systeme überspringend, in der Lage ist, die Gegenwart uns angemessen zu erklären, zumindest soweit sie das richtige Bewußtsein eines falschen Zustandes darstellt. D.h. die Theorie der Staatsraison ist eine klassische Ideologie, für die eigentlich niemand verantwortlich zeichnet, zeichnen kann. Denn im Westen wie im Osten ist es ebenso naturwüchsig entstanden wie nun unmittelbar einsichtig, daß, wie im Westen der Demokrat im Angesicht einer Gefahr für die Demokratie, sich “als radikaler Demokrat entscheiden muß, auch gegen die Mehrheit Demokrat zu bleiben” [ 3 ] , d.h. als Demokrat nur Diktator werden kann, so im Osten der Sozialist im Angesicht einer Gefahr für den Sozialismus sich entscheiden muß, nur als Diktator noch Sozialist sein zu können, d.h. “die verfassungsmäßige sozialistische Ordnung Polens” eben im Interesse des “sozialistischen Charakters der Staatsmacht” (Polikeit, s.o.,) aufzuheben. Eine gemeinsame Geschäftsgrundlage, wenn auch nicht für innig-intime Freundschaft, so doch für gutnachbarschaftliches Verständnis! Die Grundlage friedlicher Koexistenz zugleich, die zwar nicht die Feuerwehr ruft, wenn es nebenan brennt, aber wenigstens bereit ist, den Plünderern den Zutritt zur Brandruine zu verwehren.
Akzeptieren die sozialdemokratisch wie stalinistisch orientierten Teile der Arbeiterbewegung und der Linken den Basissatz der Staatsraison, so haben sie es relativ einfach: das mühselige Suchen nach Worten, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der polnischen Arbeiterbewegung zwar beinhalten, nicht aber ausdrücken dürfen, entfällt ebenso wie das peinliche Gestammel in jenen vor Konsulatsportalen devot niedergelegten Bittschriften, die nur vom Haltungsschaden des Bittstellers zeugen, dann obsolet wird, wenn man sic h den wortgewandten Zeilenschindern der FAZ einfach anschließt. Die folgenden Punkte regeln sich dann wie von Geisterhand:
- Das Risiko einer falschen Prognose des zukünftigen Siegers in Polen macht es schwierig, dem jeweiligen Sieger rasch zu Hilfe zu kommen. Die Aushilfe kommt von J.G. Reissmüller in der FAZ vom 16.12.: “Im übrigen wird sie (die Kirche) abwarten, was der Kriegszustand dem Volke auflädt und wieviel das Volk zu tragen bereit ist”. Wahlweise eingefügt werden kann: die Gewerkschaft, die SPD, die Bundesregierung; Es versteht sich von selbst, daß, da es um die Not der einfachen Leute geht, schon jetzt, unbeschadet um den Ausgang, einige Ladungen humanitärer Hilfe aus EG-Überschüssen noch rasch vor dem Versand nach Indien umgeleitet werden können.
- Das Risiko einer falschen Inhaltsangabe des Begriffes “Frieden”, die zu leicht nur dem Wahn der Volkssouveränität verfällt, d.h. den Anschein erweckt, Friede sei machbar. Die FAZ am 17.12.: “Ruhe, Alltag im Schatten liebgeworderter kleiner und großer Sorgen, kurzum: Friede zeigt da plötzlich als Geschenk – eine Gabe, die nicht jedem zuteil wird und niemandem für immer…” Vertrauen also nur bleibt je nach Gusto: in die polnische Kirche, in die staatsmännische Vernunft der Regierungen.
- Das Risiko, auf die friedensschaffende, friedenssichernde Macht der Verwalter der Staatsraison zu vertrauen, wird relativiert, da es sich auch bei diesen, menschlich-allzumenschlich, um fehlbare Wesen handelt. Hier versagt nun die Beckmesserei rationalistischer Kritik, d.h. es werfe niemand einem Staatsmann vor, er habe nationale Interessen zum Nachteil der Nation ausgelegt. Denn ‘”freilich, das Nationale, das so gut für die Geschichte taugt, verträgt es selten, nahe besehen, auf die menschliche Probe gestellt zu werden” (FAZ v. 19.12.).
All diese drei Punkte zusammengefaßt und im jeweiligen Weltanschauungs-Jargon vorgetragen, sind der Inhalt der offiziell verlautbarten Protestnoten. Dieser Inhalt ist sicherlich so skandalös, daß er zur Empörung treibt – aber er ist sicherlich ebenso aus dem alltäglichen Eintopf der Staatsraison gegriffen, daß ihn sogar der Papst schon vor über drei Jahren begriff. Die “FR” titelte am 2.1.1978 anläßlich einer Audienz: “Papst macht seelenlose Gesellschaft für Gewalt verantwortlich”. Und dies ist tatsächlich der Knackpunkt: mit Solidarnosc solidarisch zu sein, heißt daher nicht zuletzt, der Staatsraison, die vor Seele überläuft, mit einer politisiert-militanten Gesellschaft auch in der BRD entgegenzutreten. Dies scheint so das Zentrale und so das Wahre zu sein, daß es auch einem Rudolf Augstein, sonst bekannt durch seine labbrigen Kommentare zu allem und jedem, unversehens, wenn auch krause, aus der geübten Feder schlüpft: “Abgesehen davon, daß wir die Polen, die uns (!) ein Fünftel unseres Landes abgenommen haben, mögen und fast lieben: Ihr irgendwo doch (!) unverdientes Schicksal… kann uns auch aus Eigennutz nicht gleichgültig lassen” (Spiegel, 21.12.1981, S. 88). Dieser Empfehlung folgend, legen wir die Solidarität mit der bundesdeutschen oder polnischen Staatsraison beiseite und erklären uns solidarisch mit Solidarnosc aus wohlverstandenem eigenem Interesse.
Anmerkungen
[ 1 ] Zitiert nach: Sebastian Cobler, Die Gefahr geht von den Menschen aus, Berlin 1976, S. 135.
[ 2 ] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1961; S. 41.
[ 3 ] Schmitt, a.a.O:, S. 37.
Aus: Links. Sozialistische Zeitung N° 143 (14. Jg. 1982), S. 27 f.