Die Konversion des Christoph Türcke

Keine Sensation

Die Konversion des Christoph Türcke

Fabian Kettner

Am Anfang der „erregten Gesellschaft“ steht der Schock (132ff.). Er zieht Aufmerksamkeit auf sich und muss bearbeitet werden. Unter Wiederholungszwang wurde der Schrecken nachgeahmt. Die Urmenschen impften sich selbst mit homöopathischen Dosen des Inkommensurablen, das sie mit verschiedenen Gottesnamen benannt hatten und so handhabbar machten und unter deren Schutz sie sich stellten. „Das Heilige ist Chiffre für einen uneinholbaren Erregungsüberschuss“ (172), der über Religion, Kultur und Philosophie in einem „jahrtausendelangen Deeskalationsprozeß der Sensation“ (175) umgeformt worden sei. Demnach seien gegenwärtige Sensationen „verblaßte Nachfahren der Epiphanie des Heiligen“ (170), ihre Profanisierung; gleichzeitig aber komme es dabei zu einer Resakralisierung des Profanen in der Moderne (197), zu einer „Zurückwälzung ins Archaische“ (176). Sensation funktioniert über das Bild. In der Photographie lebe zum einen die „uralte magische Praktik der Stillstellung“ (196) des Schrecklichen (bspw. in der Höhlenmalerei) und setze sich dessen Vergewöhnlichung fort; zum anderen sei sie auch verantwortlich für die Zurichtung der modernen Welt. Ihr „metaphysische[r] Volltreffer“, der „Imperativ ‚Werdet Bild!’“, der „der gesamten Natur […] eine neue Eigenschaft“ schenke: „die Fähigkeit, Bild zu werden“ (186) werde der Welt und den Menschen auch zur Pflicht. „Sein ist wahrgenommenwerden“, dieser Satz Berkeleys sei Realität geworden. Heute fochten die Menschen einen „Kampf ums ‚Da’“ (52), unterlägen sie einem „Sendezwang“ (56), denn „nicht wahrgenommen werden heißt draußen sein, und draußen sein ist wie tot sein bei lebendigem Leibe“ (58). Durch die permanente Suche nach dem aufregendsten „Da“ würden die Menschen unstet, verloren und unsicher, unfähig zu Bindung und Aufmerksamkeit.. Um wahrgenommen zu werden, schickten sie SMS und E-Mails, filmten und photographierten sich und alle Welt, und um sich „in der Gummizelle eines Lebens“ (75) ihrer selbst zu vergewissern, lassen sie sich in „tiefe[r] Sehnsucht nach haptischer Erfahrung“ (74) Tattoos und Piercings machen. Türcke weiß, dass eine Erklärung der modernen Welt allein aus dem „audiovisuellen Schock“ nicht ausreicht. Denn er will aufs Ganze. „Sensationen stehen im Begriff, zu Orientierungsmarken und Pulsschlägen des gesamten sozialen Lebens zu werden“ (11). Es geht ihm um das Eine, das alles durchdringt und verknüpft. Der Sensation zur Seite stellt er den Markt und Sucht/Rausch. Deren Einfluss auf die Welt folge einer gleichen Logik. Markt und Sensation vergewöhnlichten das Heilige, für das alles drei „Surrogate (245) seien. Alle drei setzten eine Logik von Sucht & Entzug in Gang (nach mehr Ware/Geld, Sensation, Droge), und sie bedingten sich gegenseitig. Der Aufstieg des Marktes zur „Vergesellschaftungsinstanz“ (218) hatte die Entfaltung des Kapitalismus zur Grundlage. Er entwickelte die technischen Bedingungen visueller Medien, und unter seinen Bedingungen der Konkurrenz schaukeln die Sensationen sich auf. Er sei ihr „Nährboden“, sie sein „optisches Wahrzeichen“ (233). Die Marktgesellschaft entwurzelte und verelendete die Menschen, die Droge nahm sie auf. Man mag sich dem anschließen oder nicht. Man kennt solche Diagnose über die „condition moderne“ (245) mit rapide absteigender Güte von Adorno, Günter Anders, Ernst Simmel, Neil Postman und Jean Baudrillard. Türcke liegt im schlechten Mittelfeld. Bis hierhin ist es ein Buch, das einem der SoWi-Dozent als „fetzig“, „interessant“ und „steil“ ans Herz legen wird, wenn er gerade mal in aufmüpfiger Stimmung ist. Aber es geht um mehr. (1) um den Abschied von denen, die bislang seine Lehrer waren: Marx und die Kritische Theorie. Bei ersterem ist dies hahnebüchend, denn er liest Marx konsequent wie ein orthodoxer Marxist, der er zu Recht nie war. Türckes Kritik ist keine an tatsächlichen Mängeln, noch eine Weiterentwicklung, sondern (2) ein Bewerbungsschreiben für das „Philosophische Glashaus“ im ZDF. Marx wie Adorno & Horkheimer seien ihrer „infantilen ‚Allmacht der Gedanken’“ erlegen, mit der sie, „überschattet von krasser Fehleinschätzung des Machbaren“ (309), ihre eigenen positiven Erfahrungen persönlicher Freundschaft „auf die ganze Menschheit hochgerechnet“ hätten (303). Wohin „Allmachtsphantasien“ (304) führen, das weiß man ja: ohne jede Ausführung sagt er, dass „sozialistische von faschistischen“ „Utopien“ „gelegentlich so schwer zu unterscheiden seien“ (307). Von „Ausbeutung“ mag er nur noch als „Raubbau“ am Menschen (281), als „ästhetisch-neurologisch[er]“ (286) reden. Die „sozialistische Vision“ gehöre „auf die Seite der theologischen Ideen“. War es früher der originelle Kniff Türckes, das untergründige theologische Potential der Marxschen Kritik herauszustellen, um diese gegen die positivistische Verflachung im Marxismus zu wenden, so ist er nun Realist: „sie lassen sich nicht realisieren“ (305). Weil dem so ist, wird Christoph Türcke, der ehemalige Verteidiger der angeblich resignativen Kritischen Theorie gegen die Erpressungen der Praktiker, der Verteidiger der Idee der Erlösung gegen den Sozialreformismus und der Versöhnung gegen die kommunikationstheoretischen Zumutungen Habermasens, – zum Apologeten kritischen Mitmachens. Weil man sich von der Welt nicht so „rein“ halten könne, wie Adorno & Horkheimer es angeblich gefordert hätten, weil „nur in dementierter Form [..] der Revolutionsgedanke noch haltbar“ sei (310), kann Türcke mit den Zapatisten, den NGOs, Greenpeace und No Logo! zur „Notbremse (308ff.) greifen und ein „Gegenfeuer“ (316ff.) zum Beschuss von Seiten der Sensation entfachen. „Wie soll es denn sonst gehen?“, wenn nicht mit „’ Managementmethoden’“. Denn Türcke weiß, „daß die großen Revolutionäre […] im politischen Tageskampf Sorgen gehabt hätten, die ihrer Struktur nach Unternehmersorgen aufs Haar glichen.“ Wer sich darauf nicht einlässt, der „hat das 20. Jahrhundert verschlafen“, wie bspw. die „ausschließlich an Marx geschulte[.] Urteilskraft“ (er meint die Marxistische Gruppe (MG)!), die bestimmt nicht „realitätstüchtig“ dreinschaut, wenn sie „diese Organisationen einzig auf ihren Beitrag zum Sturz des Kapitalismus prüft (318). Gut, „daß Konformismus und Widerstand kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind“, da fällt Türckes Meuchelmord an der Dialektik nicht auf; da kann er im „manifeste[n] Konformismus der Bildabhängigen selbst schon latente[n] Aufruhr“ erkennen (308). Über die Differenz von Schein und Eigentlichem, über den schlecht abstrakten „gemeinsamen Nenner zahlloser, zerstreuter, zusammenhangloser Aktionen und Tätigkeiten […], in denen das diffuse Aufruhrpotential der allgemeinen Suchtverfassung die Kontur des Widerstands bekommt“ (310) kann er souverän schwafeln wie Hardt & Negri in »Empire«. Aber er hat auch gute Gegenmittel für den Hausgebrauch, „lauter kleine[.] alltägliche[.] Notwehrhandlungen“, deren Lächerlichkeit er ahnen muss, weswegen er ihnen „in ihrer ganzen Trivialität“ „ungewohnte Bedeutungsschwere“ zuspricht. „Etwas so Läppisches wie die Entscheidung, ob man sich Hintergrundmusik im Restaurant gefallen läßt oder nicht, kann plötzlich zur Prinzipienfrage, zum Probierstein von Zivilcourage werden“! So einfach geht das Schwere. Wem das Laute in der Öffentlichkeit nicht liegt, kann sich in Klausur begeben: „Das Abschreiben von Texten und Formeln, früher einmal das ganz gemeine Kennzeichen der Paukschule, kann unter den Bedingungen allgemeiner Bildschirmunruhe […] unversehens zu einer Maßnahme der motorischen, affektiven und mentalen Sammlung, der inneren Einkehr, um nicht zu sagen, des Eingedenkens werden“ (311). So schafft man den Sprung von Lüneburgs zu Klampen zu Münchens Beck und vielleicht auch in den Manufactum-Katalog neben Schopenhauer und Gustav Fr eytags »Sein und Haben«.

Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation.
München: C.H. Beck, 2002, ca. 320 Seiten, € 29,90

Trennmarker