Jour Fixe Programm Herbst/Winter 1994/95
Dienstag, 11. Oktober 1994
Nationale Identität, kapitaler Wahn
Über die Konsequenzen der deutschen Souveränität
Seit der Wiedervereinigung hat die schon vor 1989 vielbeschworene “nationale Identität” der Deutschen in Kambodscha und Somalia, in Jugoslawien und in Ruanda das Laufen gelernt. Das macht: Identität ist schön und gut, aber die unumschränkte politische Souveränität ist noch viel besser. Erst jetzt wird so recht deutlich, was gemeint war, wenn die Identität und das unverwechselbare Selbst der Deutschen als Deutsche zur öffentlichen Diskussion stand: die unumschränkte Verfügung des souveränen Gewaltmonopolisten über das Menschenmaterial, das innerhalb der Staatsgrenzen sein Leben zu fristen hat. Identität ist Tod, und nationale Identität nur ein anderer Name für ein Herrschaftsprojekt, das in letzter Instanz nicht ohne die Perspektive der Massenvernichtung verwirklicht werden kann. – Es spricht Joachim Bruhn (Freiburg), dessen Buch “Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation” gerade erschienen ist.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 18. Oktober 1994
Karl Marx und der Materialismus
Einführungsseminar in “Das Kapital”
Der sogenannte “Marxismus” genießt, ganz zu recht, wenn auch aus den ganz falschen Gründen, einen sehr schlechten Ruf. Denn der Versuch der traditionellen Arbeiterbewegung, sich vermittels des “Kapitals”, des Hauptwerkes von Karl Marx, wissenschaftlich zu legitimieren, hat das subversive Denken entfremdet und “den Marxismus” zum taktischen Mittel herrschaftlicher Eliten werden lassen. Aus einem Schlachtfeld der Kritik wurde ein Handbuch der Volkswirtschaft gemacht. Allerdings hatte Marx diesem epochalen Mißverständnis insofern selbst zugearbeitet, als er bemüht war, die Kritik des Kapitals auf eine Philosophie der Arbeit zu gründen, und im genauen Maße, indem er das Kapital als Selbstentfremdung der Arbeit darstellte, wurde er doch zu dem Marxisten, der er nie sein wollte. Indem Marx den Marxismus möglich machte, verfehlte er den Materialismus, und in der Folge verdinglichte die Kritik zur positiven Theorie, zum “wissenschaftlichen Sozialismus”. - Der Einführungskurs will zu einer kritischen Lektüre des “Kapital” ermuntern, indem er zeigt, wie überaus nützlich Marx dem Materialismus gleichwohl sein kann (Leitung: Joachim Bruhn und Manfred Dahlmann). Am Dienstag, den 18.10., um 20 Uhr im Archiv Soziale Bewegungen, Wilhelmstraße 15 soll das Konzept des Lektürekurses vorgestellt und diskutiert werden; der Kurs selbst findet dann alle 14 Tage Dienstags um 20 Uhr statt, beginnend am 1. November, und wird voraussichtlich bis Sommer 1995 dauern. Er wird nur abgehalten, wenn sich mindestens zehn Interessenten einfinden.
Dienstag, 25. Oktober 1994
“Das Imaginäre”, die Revolution und die Postmoderne
Die politische Philosophie von Cornelius Castoriadis
Cornelius Castoriadis, der in den fünfziger Jahren die französische Zeitschrift Socialisme ou barbarie begründete, stellte das Imaginäre in den Mittelpunkt der Gesellschaftstheorie. Damit ergab sich eine fundamentale Umwertung des bisherigen Gravitationszentrums allen “fortschrittlichen” Denkens, galt es doch stets als das Nicht-Reale und Nicht-Rationale, als das Ideologische und Fetischhafte, d.h. als Gegenprinzip des aufklärerischen Projekts einer vernünftig geordneten Welt. Castoriadis’ “Imaginäres” sollte den Anspruch, die Menschen könnten – als bewußt Handelnde – ihre Geschichte selbst machen, trotz des Fehlens eines revolutionären Subjekts vor dem szientistischen Verrat des Marxismus retten. – Aber das war einmal. Heute moralisiert Castoriadis im Irgendwo zwischen linkem Kommunitarismus und Habermas über “Zivilgesellschaft” und “Demokratie”. Hat seine Biographie die Philosophie seiner “besseren Tage” als instabile Zwischenstufe auf dem Weg vom Trotzkismus zum Katholizismus widerlegt? Oder eröffnet die Theorie des Imaginären doch einen Ausweg aus den Aporien der marxistischen Revolutionstheorie? – Es spricht Hubert Zick (München).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 8. November
Der Staat in den Köpfen
Wie den Staat denken, wie seine Überwindung praktizieren? Fragen, auf die im Anschluß an Louis Althusser und Nicos Poulantzas jenseits der traditionell-bürgerlichen als auch der marxistischen Konzeption des Staates Antworten gesucht werden sollen. Gegen die theoretischen und praktischen Sackgassen, in die sowohl das Beharren auf einer “revolutionären Subjektivität” als auch die Proklamation demokratischer Tugenden geführt haben, soll ein “erweiterter Staatsbegriff” für die heutige politische Situation fruchtbar gemacht werden. Es geht um die zentrale Rolle der ideologischen Formen bei der Aufrechterhaltung des Bestehenden, darum, wie diese im alltäglichen Leben umkämpft und in Frage gestellt werden. – Es sprechen Manon Tuckfeld und Jens Christian Müller, die lange Jahre bei den “Grünen” und bei der “Ökologischen Linken” aktiv waren und gerade das Buch “Der Staat in den Köpfen. Anschlüsse an Althusser und Poulantzas” veröffentlicht haben (Decaton Verlag). Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12.
Dienstag, 22. November 1994
Frank Schirrmacher, das FAZ-Feuilleton und der Abschied der Moderne
Es spricht Wolfgang Schneider (Hamburg, Konkret Redaktion).
Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12
Dienstag, 6. Dezember 1994
“Wer uns kennt, der weiß doch, daß wir das nicht so meinen.”
Über den “Sozialrassismus” guter Menschen
“Soziale Sanierung” heißt das Programm, mit dem Stadtplaner, Soziologen, Sozialarbeiter und das Forum Weingarten e.V. den gleichnamigen Freiburger Stadtteil aufwerten wollen. Aus Sozialwohnungsmietern sollen Eigentümer werden. Dafür dürfen “Mieterinnen, denen die notwendigen kommunikativen Grundlagen” fehlen oder solche, die sich “in besonders schwierigen sozialen Lebenslagen” befinden, nicht mehr zuziehen. Andere, “die den Hausfrieden stören”, werden dann gleich hinausgeworfen. Was Sozialdemokraten, Linke Liste und initiativenbewegte Bürger zur alternativen “Ausländer-Raus-Politik” treibt, ist Gegenstand dieses Vertrags. – Es spricht Thomas Hohner (Freiburg).
Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12
Dienstag, 10. Januar 1995
Staatsräson, Moral und Interesse
Zur Deba tte um die “Multikulturelle Gesellschaft”
Ohne den Fall der Berliner Mauer wäre “Multikulturelle Gesellschaft” 1989 konkurrenzlos “Wort des Jahres” geworden. Viele Beobachter haben die steile Öffentlichkeitskarriere und den alsbald einsetzenden inflationären Gebrauch des Begriffs in den Jahren 1989/90 als Modeerscheinung abgetan. Dieser verbreiteten Einschätzung möchte der Vortrag entgegentreten. Es soll vielmehr aufgezeigt werden, daß der Terminus, wie verquer auch immer, ein vielschichtiges und äußerst umstrittenes Problem verschlagwortet, das der “deutschen” Mehrheitsgesellschaft auf den Nägeln brannte und brennt. Denn “Multikulturelle Gesellschaft” dient als Kürzel für ganz verschiedene Antworten auf die eine Frage, wie “die Deutschen” ihr Verhältnis zu “den Ausländern” gestaltet und geregelt sehen wollen. – Es spricht Susanne Frank (Freiburg).
Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12
Dienstag, 24. Januar 1995
Die “Neue Rechte” im postmodernen Volksstaat
Der modernisierte Faschismus und seine Kritiker
Seit mehreren Jahren macht der Begriff “Neue Rechte” Karriere in den bundesdeutschen Feuilletons. Die einen sehen in dieser modernisierten Variante des Faschismus mit Siegfried Jäger nur “die alte Schande im neuen Gewande”, andere vermuten auch hinter dem “Neo-Rassismus” Drahtzieher am Werk. Der Modernisierungs-Theoretiker Rainer Zitelmann gilt zusammen mit einer ganzen Bagage von “ernstzunehmenden Wissenschaftlern” als wichtiger Anreger. Wenn es denn einen Erfolg dieser intellektuellen “Neuen Rechten” um Zeitschriften wie die “Junge Freiheit” und andere gibt, besteht er darin, daß sie mit ihrer modernisierten Ideologie von den Perspektiven der politischen Mitte fast nicht mehr zu unterscheiden sind und so ganz automatisch zu einer “normalen” Option des politischen Systems geworden sind. Viele “Demokraten”, wie auch einige linke Kritiker z.B. aus dem Argument-Verlag, der die bundesdeutsche Diskussion über die “Neue Rechte” hegemonisiert, arbeiten mit denselben ontologischen Begriffen wie die “Neuen Rechten”. – Es sprechen Jochen Baumann und Andreas Benl vom Projekt für interdisziplinäre Faschismusforschung an der FU Berlin.
Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12
Dienstag, 7. Februar 1995
Technokörper und postapokalyptische Faszination
Zur Warenästhetik der Negation
Der in elektronischen Netzwerken verstrickte Mensch, der “Technokörper”, ist der letzte Schrei der Science Fiction und des Diskurses über Neue Medien. Er tritt in verschiedenen Variationen als Terminator, Cyborg oder Robocop (“Dein Freund und Helfer!”) oder Flusserianisch in Computernetzen als mit K.I‘.s verbundene vergeistigte Biointelligenz auf. Eine Welle der Begeisterung eilt ihm voraus, und eine apokalyptische Stimmung, die auch Oswald Spengler nicht besser hätte heraufbeschwören können, folgt ihm. Der Vortrag versucht einige Hilfen zur Dechiffrierung der neuen posthistorischen Untergangsästhetik in der SF anzubieten und einen kritischen Beitrag zur Einschätzung der technischen Umzingelung der Körper, die von dieser Ästhetik mitthematisiert wird, zu leisten. – Es spricht Dierk Spreen (Freiburg).
Um 20 Uhr im Strandcafé auf dem Grethergelände, Adlerstraße 12
Dienstag, 21. Februar 1995
Soziale Differenzierung oder soziale Ungleichheit?
Eine feministische Kritik der Luhmannschen Systemtheorie aus der Perspektive der Kritischen Theorie. – Es spricht Prof. Regina Becker-Schmidt, Professorin am Institut für Psychologie an der Universität in Hannover.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Samstag, 4. März 1995
Ambivalenz und Identifikation
Zu Stanley Kubricks Film “Füll Metal Jacket”
Stanley Kubrick ist mit seinem radikalen Blick auf den Vietnamkrieg solitär geblieben: In seinem Film “Full Metal Jacket” hat er einmalig eine Erzählform entwickelt, die weniger auf die Entfaltung einer Geschichte denn auf eine strukturelle Analyse des Militärischen zielt. Die mitleidlose Dramaturgie dieses Filmes stiftet weder Identifikationen noch produziert sie Meinungen: angesichts des umfassenden Verlusts von Sinn kann es weder richtige noch falsche Haltungen geben. Warum “Full Metal Jacket” ein nihilistischer Thriller und insofern der letzte Kriegsfilm ist, wie er sich dem Authentizitätsanspruch entzieht und gerade deshalb – in Gegensatz zu “Platoon” beispielsweise – den Blick auf die politische und historische Wahrheit erst eröffnet, wird Stefan Reinecke (Berlin), Autor des Buches “Hollywood goes to Vietnam” (Hitzeroth Vertag) und Kulturredakteur der Zeitschrift “Freitag”, darlegen. Um 16 Uhr Filmvorführung, ab 18 Uhr Vortrag und Diskussion
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)