Stefan Breuer – Maschinerie und Materialismus * Leseprobe aus ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung

Maschinerie und Materialismus

Stefan Breuer

I.

Einer der Gründe, weshalb die in den sechziger Jahren begonnene Renaissance des Materialismus inzwischen, wenn die Zeichen nicht trügen, ihren Zenit überschritten hat, dürfte in der auffälligen Fraglosigkeit zu suchen sein, mit der diese Theorie beinahe allen Problemen der Technologie, der Naturbeherrschung und -Zerstörung begegnet. Nicht, daß diese Probleme kein Thema für sie wären: kaum zu zählen sind die Traktate und Kommentare, mit denen sie ihre Aktualität auch auf diesem Gebiet unter Beweis zu stellen bemüht ist. Alle diese Anstrengungen haben jedoch den Verdacht nur bestärkt, der seit Lenins Formel, Sozialismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung, im Raume steht: daß der Marxismus nur eine besonders subtile Gestalt des technokratischen Ordnungsdenkens ist.

Der Materialismus lehnt, in beinahe allen seinen zeitgenössischen Varianten, eine Kritik der politischen Technologie und Methodologie als puren Romantizismus ab; und dies, obwohl noch vor wenigen Jahren Alfred Sohn-Rethel mit aller Deutlichkeit vor den Folgen einer solchen Tabuisierung gewarnt hat: “Zur Schaffung des Sozialismus wird verlangt, daß es der Gesellschaft gelingt, sich die moderne Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie zu subsumieren. Wenn die naturwissenschaftlichen Denkformen und der technologische Aspekt der Produktivkräfte sich aber der geschichtsmaterialistischen Betrachtungsweise wesensmäßig entziehen, so ist eine solche Subsumtion unmöglich. Dann geht die heutige Menschheit nicht dem Sozialismus, sondern der Technokratie entgegen, einer Zukunft also, in der nicht die Gesellschaft über die Technik, sondern die Technik über die Gesellschaft herrscht. Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus eine bloße Frage der Zeit” (Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt 1970; 14).

Eine solche Rettung des Marxismus durch Kompensierung seiner technik- und erkenntniskritischen Defizite versucht die Arbeit von Christine Woesler. Ihr Ziel ist es, im Gegenzug gegen Widerspiegelungstheorie und Wissenssoziologie die Gesellschaftlichkeit der Wissenschaft nicht in ihrem Dasein als Institution, sondern in den inneren Strukturen der wissenschaftlich-technischen Rationalität selbst aufzuspüren, wobei sie in produktiver Weise an die Vorarbeiten von Sohn-Rethel und Hans-Dieter Bahr anknüpft. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden, für den gegenwärtigen Stand der Theoriebildung wohl wichtigsten Autoren bildet das Hauptstück und den eigentlichen Erkenntnisgewinn ihres Buches, während die übrigen Teile – insbesondere das erste Kapitel über die Widerspiegelungstheorie und das sechste Kapitel über die Formen der Naturerkenntnis in China – gegenüber den Arbeiten von v. Greiff/Herkommer (1974) einerseits, Needham, Granet und Max Weber andererseits nicht viel Neues bieten: hier hätte die Autorin das ohnehin zu voluminös geratene Werk ohne großen Nachteil kürzen und dem Leser damit manche Durststrecke ersparen können; so ist ihr Buch jedoch etwas langatmig und an vielen Stellen redundant, weil es zu gründlich sein will.

Außerordentlich fruchtbar und weitere Diskussionen anregend hingegen sind die Kapitel 3 und 4, die der Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel und Bahr gewidmet sind. Ausgehend von der These, daß der formlose Begriff der ‚Arbeit’, wie er in den meisten Varianten der Widerspiegelungstheorie verwendet wird, zur Erklärung der nichtempirischen, reinen Denkformen wenig taugt, setzt Woesler mit Sohn-Rethel den Ursprung der reinen Erkenntnis in der Wertform an, m.a.W. in einem gesellschaftlichen Stadium, in dem sich die Produzenten vorrangig über den Austausch aufeinander beziehen. Die Wertform, die Zirkulation ist die Sphäre, in der vom Gebrauch, von der empirisch-besonderen Qualität der Arbeitsprodukte abgesehen wird, in der allein die abstrakte Werthaltigkeit der Waren gilt: eine ‚Realabstraktion’, die nach Sohn-Rethel konstitutiv für die Herausbildung abstrakter Denkformen ist. Während Sohn-Rethel jedoch zwischen Wertform und Arbeit einen so scharfen Schnitt legt, daß er die Äquivalenz der zu tauschenden Waren nur als Ergebnis der Konvention der Tauschenden begreifen kann, hält Woesler mit Marx daran fest, daß auch die Wertform noch durch die Arbeit bestimmt ist – nur eben nicht durch die konkrete, private Arbeit, sondern durch die abstrakt-allgemeine, die sich hinter dem Rücken der Produzenten als allgemeines Durchschnittsgesetz geltend macht. Die Kritik der Erkenntnistheorie, so schreibt sie, hat nicht an der Trennung von Arbeit und Austausch schlechthin anzusetzen, ihr Ausgangspunkt muß vielmehr der für die warenproduzierenden Gesellschaften typische Widerspruch zwischen konkret-nützlicher und abstrakt-allgemeiner Arbeit sein, der zur Privilegierung der letzteren gegenüber der ersteren führt.

Nicht die von der Arbeit durch einen hiatus getrennte Wertform, sondern die in der Wertform sich darstellende Abstraktion der Arbeit (im genitivus subjectivus wie objectivus) ist der gesellschaftliche Ort, an dem sich die Formen der reinen Naturerkenntnis herausbilden, wie z. B. abstrakte Qualität, Substanz und Akzidenz, Atomizität, Identität, abstrakte Bewegung, absolute Zeit, absoluter Raum und strikte Kausalität. Mit deren Hilfe entwickelt der sich im Zuge der Klassenspaltung gegenüber der Handarbeit verselbständigende Intellekt ein Konzept von Natur (bei Heidegger heißt es: einen .Entwurf), das nicht aus dem primären Stoffwechselprozcß zwischen Mensch und Natur gewonnen ist, sondern aus der gesellschaftlichen Form dieses Stoffwechselprozesses hervorgeht, dem Austauschprozeß von Warenproduzenten. “Der abstrakten Gesellschaftlichkeit des Geldes als unmittelbare ökonomische Macht entspricht die von allem Dinglichen losgelöste Allgemeinheit des theoretischen Denkens” (133).

Es mag nun den Anschein haben, als sei der Streit über das Verhältnis von Wertform und Arbeit, Zirkulation und Produktion lediglich scholastischer Natur, da Woesler von ihrem Ansatz her zu den gleichen Ergebnissen gelangt wie Sohn-Rethel, dessen Theorie sie ausdrücklich eine relative Gültigkeit bescheinigt. Doch ist diese Gültigkeit eben nur relativ: der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen wird deutlich, wenn es nicht nur um die reinen Formen der Naturerkenntnis geht, sondern wenn die exakte Naturwissenschaft ins Spiel kommt. Formales Denken nämlich, das arbeitet Woesler sehr gut heraus, ist noch nicht gleichbedeutend mit Naturwissenschaft: diese enthält außer den generellen Kategorien Raum, Zeit, Bewegung usw. noch andere Vorgehensweisen und Begrifflichkeiten, die allein aus den Realabstraktionen des Austauschs nicht erklärbar sind; Woesler nennt hier vorrangig das messende Experiment, das zum erstenmal von Newton entwickelt worden sei (241). Indem Sohn-Rethel den Bezugspunkt seiner Analyse ausschließlich auf die Zirkulationssphäre legt, die er von jeder Beziehung zur Produktion trennt, vermag er zwar die generellen Kategorien, die etwa der griechischen Naturerkenntnis zugrundeliegen, materialistisch zu erklären, doch entgeht ihm dabei die qualitative Differenz, die zwischen der eher kontemplativen griechischen Naturphilosophie und der experimentellen Praxis der modernen Naturwissenschaften besteht – eine Differenz, die sich nach Woesler nur dann entschlüsselt, wenn man die spezifische Vermittlung reflektiert, die im Obergang von Geld zu Kapital zwischen Zirkulation und Produktion stattfindet (144, 175).

Damit es zu der für die moderne Naturwissenschaft wesentlichen Substitution des primären, praktisch-sinnlichen Naturverhältnisses durch ein zweites, durch die messend-experimentellen Methoden erzeugtes Naturverhältnis kommen kann, bedarf es nach Woesler einer gänzlich anderen Konstellation von Produktion und Zirkulation als der für vor bürgerliche Gesellschaften charakteristischen, in denen der Austausch erstens nur z. T. die gesellschaftliche Synthesis dominiert, und zweitens nur formell mit der Produktion, über die Ware, verbunden ist. Die Zirkulation muß sich verallgemeinert haben (d.h. auch die Ware Arbeitskraft einbegreifen), das Kaufmannskapital muß sich in produktives Kapital verwandelt und Produktion und Zirkulation durch das abstrakte Prinzip der kalkulatorisch-quantitativen Bestimmung der Werthaftigkeit vermittelt haben: allein aus dieser Verwandlung des Verhältnisses von Produktion und Zirkulation in die Produktion und Zirkulation des Kapitals, das sich in der Manufaktur und Maschinerie selbst ‚experimentell‘ verhält, ist die experimentelle Naturwissenschaft und ihre technische Vergegenständlichung in der Maschinerie verständlich, nicht aber, wie Sohn-Rethel meint, schon aus der bloßen Existenz des Werts als Geld.

Von diesem, im fünften Kapitel über die Herausbildung der experimentellen Naturwissenschaft im 16. und 17. Jh. weiter ausgebauten Ansatz kommt Woesler zu einer völlig anderen, und, wie mir scheint, angemesseneren Einschätzung des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses als Sohn-Rethel. Während dieser aufgrund seiner rigiden Trennung zwischen Produktion und Zirkulation die durch die Verwissenschaftlichung bewirkte Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses nur aus den sachlichen Notwendigkeiten des Arbeitsprozesses selbst erklären kann und von dieser These zu der Behauptung gelangt, daß der vollvergesellschaftete Produktionsprozeß des Spätkapitalismus seinem Inhalt nach “sozialistoid” sei, macht Woesler deutlich, daß mit der Durchsetzung der Ökonomie der Zeit die Produktion umgekehrt eine dem Kapitalverhältnis adäquate Struktur erhält. Sie vermag zu zeigen, daß Sohn-Rethel einen genuin kapitalistischen Vorgang – die Anmessung der Produktion auch nach der stofflichen Seite hin an die Erfordernisse der Mehrwertproduktion – als eine Leistung der ‚Arbeit’ mißdeutet und eben damit sein Programm einer materialistischen Erkenntniskritik desavouiert. Auch Lenin hat bekanntlich im Taylorismus und der wissenschaftlichen Betriebsführung ‚sozialistoide’ Momente gesehen und damit den Sozialismus auf einen konsequent durchgeführten Staatsmonopolismus heruntergebracht. Indem Sohn-Rethel den gesamten Prozeß der Durchsetzung des industriellen Kapitals, der Maschinerie und der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ausklammert und die Vergesellschaftung der Arbeit erst mit Taylor beginnen läßt (und zwar als eine von der Arbeit, nicht vom Kapital ausgehende Entwicklung), beraubt er sich jeder theoretischen Waffe gegen diese von Lenin gezogene Konsequenz.

Mit ihrer These, daß die wissenschaftlich-technische Revolution eine solche des Kapitals sei und nicht der Arbeit (149), nimmt Christine Woesler das Ergebnis der Arbeiten von Hans-Dieter Bahr auf, die dieser bisher einem größeren Publikum vorenthalten hat, obwohl sie seit geraumer Zeit einen beträchtlichen Einfluß auf dem grauen Paper-Markt ausüben; lediglich ein kurzer Aufsatz über die ‚Klassenstruktur der Maschinerie’ liegt bisher vor, während die beiden wichtigen Texte über die ‚Kritik der Maschinisierung der Kopfarbeit’ (1973/ 74) nur als Typoskripte existieren. Ich muß mich daher mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Bahr geht im Unterschied zu Sohn-Rethel nicht von einer ‚Ableitung‘ der Denkformen aus der Tauschstruktur aus, da ein derartiges Verfahren nach seiner Meinung immer schon das voraussetzt, was eigentlich abgeleitet werden soll. Er setzt stattdessen bei den ideellen Formen als ökonomischen Funktionen an und fragt nach ihren Verteilungsgesetzen und Materialisierungen; insbesondere die ‚sinnlichen Maße’ als .innere Wertform der Maschinerie’ spielen dabei eine wichtige Rolle. Bahrs Konzeption, die Produktionsmittel als ‚Anzeiger gesellschaftlicher Verhältnisse’ (Marx) zu dechiffrieren, vermeidet die für Sohn-Rethel charakteristische Auseinanderreißung von Produktion .und Zirkulation und macht deutlich, daß die Produktionsmittel unter kapitalistischen Bedingungen auch in ihrer stofflichen Struktur vom gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis durchdrungen sind, wodurch jeder Arbeitsontologie (von der Bahr auch bei Marx zahlreiche Spuren entdeckt) der Boden entzogen wird.

Andererseits aber klammert Bahr die Rolle der Wissenschaft weitgehend aus, indem er sich auf die Analyse der ‚inneren Wertform’ der Produktionsmittel als immer schon existierender Vermittlung zwischen technischer Erfindung, theoretischer Naturerkenntnis und gesellschaftlicher Klassenspaltung beschränkt, eine Ausklammerung, gegen die Woesler m. E. zurecht Einspruch erhebt: “Zieht Sohn-Rethel aus Anlaß seiner spezifischen Fragestellung den Verstand vollständig aus der Ökonomie heraus, indem er ihn einseitig als theoretisch-philosophischen interpretiert, so zieht Bahr umgekehrt den Verstand unspezifisch und einseitig in die Ökonomie hinein” (184). Bahr bringt in der Tat ökonomische, mathematische und maschinelle Naturalformen des Kapitals zu schnell auf den einen Nenner der ideellen Naturalformen, ohne der herausragenden Rolle der experimentellen Naturwissenschaften große Aufmerksamkeit zu schenken; aber während Woesler diese Verkürzung mit Bahrs ‚resignativen’ politischen Konsequenzen in Verbindung bringt (183, 228), scheint es mir eher, als versuche Bahr durch die Ausklammerung der Zentralinstanz Wissenschaft sich eine revolutionstheoretische Hintertür offenzuhalten, indem er ähnlich wie Foucault von der Abwesenheit eines Zentrums und von der prinzipiellen Zerstreuung der ‚Macht’ auf die Möglichkeit schließt, diese an jedem Ort auch in Frage stellen und bekämpfen zu können. Formulierungen wie die vom ‚neuen Maschinensturm’, die sich in neueren Arbeiten Bahrs finden, lassen jedenfalls darauf schließen. Ein kritisches Urteil ist freilich angesichts der gegenwärtigen Textlage noch ausgeschlossen.

Woeslers eindringliche und die Sache außerordentlich fördernde Auseinandersetzung mit dem Problem einer historisch-materialistischen Erkenntniskritik schließt mit einer überraschenden Wendung, die in einem erstaunlichen Mißverhältnis zu ihrer gesamten vorangegangenen Argumentation steht. Nach dem Nachweis, daß aufgrund der technischen Realisierung des Kapitals heute der “Tauschwertcharakter der Waren auch in ihrer Gebrauchsstruktur steckt” und “die zweite Natur so vorherrschend ist, daß gar nicht mehr genau auszumachen ist, was in der Naturerkenntnis und in der verwissenschaftlichten Produktion aus Kategorien der zweiten und was aus denen der ersten Natur stammt” (178 f.), erwartet ‚der mit der marxschen Theorie vertraute Leser’ eine Reflexion darauf, was denn angesichts dieser Entwicklung aus der marxschen Revolutionstheorie wird, die ihre Kraft doch gerade aus der Überzeugung zieht, daß die Produktivkräfte der Arbeit über den zu eng werdenden Rahmen der Produktionsverhältnisse hinaus drängen: ein Modell, das offensichtlich dann obsolet wird, wenn die Produktivkräfte nichts anderes mehr sind als Objektivationen der Produktionsverhältnisse. Woeslers Gründe dafür, daß von einem Dilemma der Revolutionstheorie keine Rede sein könne, vermögen nicht zu verdecken, daß sie aus einer Not eine Tugend macht und eine offenkundige Defensivposition in eine Verzweiflungsoffensivc umzumünzen versucht. Die Vorstellung der Einbeziehung der Produktionsmittel in die gesellschaftliche Gebrauchswertproduktion der Subjekte sei nicht bloß Hoffnung, so erfahren wir, “sondern mögliche Erfahrung inmitten der schlechten Realität. Das Kapitalverhältnis hat sich in seiner Verallgemeinerung widersprüchlich durchgesetzt und verbreitet. Noch existieren früh- und vorkapitalistische Verhältnisse, sei es das kleine Lebensmittelgeschäft um die Ecke, seien es die kleinen Handwerksbetriebe oder die Landwirtschaft. Bei allem Konservativismus und aller Rückständigkeit, die in diesen dörflichen und frühkapitalistischen Beziehungen steckt; in ihnen ist so etwas wie Gebr auch und Nützlichkeit noch lebendig” (228). Marx hätte angesichts solcher Aussichten vermutlich seinen Hut genommen. Wenn alles, was man gegen eine Problematisierung der Revolutionstheorie an Argumenten zu bieten hat, in der normativen Deklamation besteht, daß der Gebrauchswert … eine politische Forderung” sei (227), so sollte man mit abkanzelnden Bemerkungen gegenüber Skeptikern doch etwas zurückhaltender sein. Die Idee hat sich in der Geschichte bisher noch immer blamiert, auch wenn sie im blumengeschmückten Gewande einer Idee des Gebrauchswertes auftritt.

II.

Während für Woesler das Verhältnis von Maschinerie und Materialismus, trotz der Rückzugsposition, von der aus sie argumentiert, letztlich unproblematisch bleibt, treibt Klaus-Dieter Oetzel in seinem Buch “Wertabstraktion und Erfahrung. Versuch über das Problem einer historisch-materialistischen Erkenntniskritik” die Reflexion in diesem Punkt weiter. Wollte man den Grundgedanken seines Buches auf eine einzige Formel bringen, so wäre es diese: die Kritik an Wissenschaft und Technik kann nicht einfach dem Gebäude des Historischen Materialismus hinzugefügt werden wie ein notwendig gewordener Anbau, der die Architektonik des Hauptkomplexes unberührt läßt. Maschinerie und Materialismus stehen nicht in einem gleichgültigen Nebeneinander, sie sind Vergesellschaftungsformen, die einander ausschließen. Wo die Maschinerie dominiert, ist der Materialismus zur Diskussion gestellt.

Oetzel entfaltet diese These in einem mehrstufigen Reflexionsprozeß, der sich methodisch an Marx’ Lektüre der politischen Ökonomie orientiert; einer Lektüre, die die verschiedenen Theorien nicht als Partner eines überzeitlichen Symposiums über Wesen und Wahrheit begreift, sondern als Etappen einer Selbstreflexion des bürgerlichen Geistes, in die, in wie verstellter Form auch immer, die Erfahrungen eingegangen sind, die dieser Geist in und mit seiner Gesellschaft macht: Theoriegeschichte als Sozialgeschichte. Die Reise beginnt, nach einer ersten vorsichtigen Erkundung des Terrains (Teil I), mit einem Marsch mitten in die Hauptstadt des Gegners, ins Zentrum bürgerlichen Selbstbewußtseins schlechthin, die idealistische Philosophie. Sohn-Rethels Hinweis folgend, daß eine materialistische Erkenntniskritik der Logik der Sache entsprechend dort einzusetzen hat, wo der Idealismus selbst noch als Erkenntnistheorie auftritt, in Kants ‚Kritik der reinen Vernunft’, unternimmt Oetzel den Versuch einer materialistischen Lektüre Kants, mit dem Ziel, die transzendentale Deduktion der Kategorien als begriffliche Verarbeitung eines bestimmten ‚nationalökonomischen Zustands der gesellschaftlichen Erfahrung’ zu dechiffrieren. Im Gegensatz zu Sohn-Rethel freilich, den die ‚Kritik der reinen Vernunft’ letztlich doch nur ephemer interessiert, da nach seiner Auffassung die wichtigsten Konstituentien des wissenschaftlichen Geistes schon in der Antike ausgebildet sind, macht Oetzel deutlich, daß Kants Werk eine Epochenschwelle in der Geschichte des Denkens markiert, insofern hier zum erstenmal der mathematische Verstand ausdrücklich zum Organisationsprinzip und Konstitutionszentrum der Erfahrung avanciert, während er in allen vorangegangenen erkenntnistheoretischen Konzeptionen nicht über den Status eines mehr oder weniger äußerlichen Ordnungsprinzips hinausgelangt. Die ‚Kritik der reinen Vernunft’ erlangt damit für das Projekt einer historisch-materialistischen Erkenntniskritik eine ähnliche Bedeutung wie die Werke von Smith und Ricardo für die Kritik der politischen Ökonomie, in denen gleichfalls der Aufstieg eines neuen gesellschaftlichen Zentrums – des Wertverhältnisses – thematisch ist.

Kants Problem, führt Oetzel aus, ist das gleiche wie dasjenige von Marx. Wie jener gezeigt habe, daß in der Welt des bürgerlichen Privateigentums die gesellschaftliche Arbeit in eine eigentümliche Zerrissenheit und Nichtidentität geraten sei, so stehe diese vor dem verwirrenden Sachverhalt, daß die ‚Naturalform’ der Erfahrung, die in die jeweilige Besonderheit des Materials vertiefte Wahrnehmung und Empfindung, nicht auch die unmittelbar gesellschaftliche oder allgemein gültige Form sei. Arbeit und Erfahrung, obwohl doch in gesellschaftlichem Zusammenhang stehend, seien unmittelbar gesehen nur privat, subjektiv, konkret, nicht aber allgemein, intersubjektiv, gesellschaftlich. Erst durch eine spezifische Vermittlung – den Austausch, die Verstandesleistung – erhielte sie eine Form, in der sie kommunizierbar seien: die Gebrauchsgegenstände müssen in Waren verwandelt werden, um gesellschaftlich zu sein, die Erfahrung muß rationale Form annehmen, um allgemein mitteilbar zu sein. Das ‚Systemproblem’ der bürgerlichen Gesellschaft – der im Doppelcharakter der Ware erscheinende Widerspruch zwischen Produktion und Gesellschaftlichkeit – reproduziert sich in der Erkenntnis im Doppelcharakter der Erfahrung, als Widerspruch zwischen der Naturalform der Erfahrung – der Sinnlichkeit – und der rationalen Organisation derselben – dem Verstand. Und wie in der politischen Ökonomie dieser Widerspruch auf Kosten des ersteren, besonderen Moments gelöst wird, so auch in der Erkenntnis durch Privilegierung der vermittelnden, abstrakten Form, die als ‚Transzendentalsubjekt’ zum exklusiven Träger der Gültigkeit wird. Kant behandelt dieses Problem nicht in der gleichen Weise und mit der gleichen Zielsetzung wie Marx, aber er registriert doch, ohne es ausdrücklich zu wollen, den gleichen Sachverhalt.

So wenig neu nun diese Einsichten vor dem Hintergrund der Arbeiten von Adorno und Sohn-Rethel sind, so originell und beeindruckend ist die Ausarbeitung, die diese bislang eher apercuhaft formulierte These in ‚Wertabstraktion und Erfahrung‘ erfährt. Oetzel begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Homologie von Transzendentalsubjekt und Wertstruktur, er konzentriert sich vielmehr ganz auf die eigentlich wichtige Frage, wie die Unterordnung des Gebrauchswerts unter den Wert, der Sinnlichkeit unter den Verstand erfolgt; denn daß diese Unterordnung erfolgt, daran kann angesichts der unbestreitbaren Existenz von Wissenschaft und Kapital kein Zweifel sein. Wenn aber Wert und Verstand gleichermaßen dadurch bestimmt sind, daß sie unabhängig von aller konkret-empirischen Besonderheit existieren, ‚reine Form’ bzw. ,reine Geltung’ sind, zugleich aber die Besonderheit unter sich subsumieren, so stellt sich für die Erkenntnistheorie wie für die Kritik der politischen Ökonomie die in der Tat zentrale Frage, wie eine derartige Subsumtion, die ja doch eine Vermittlung zwischen Ungleichartigen ist, überhaupt möglich ist. Oder, anders gefragt, da die Vermittlung durch die abstrakt-transzendenten Momente bestimmt wird: auf welche Weise geschieht es, daß die konkret-empirischen Momente abstraktifiziert und umgekehrt die abstrakt-transzendenten Momente realisiert werden? Die Analyse der Homologie von Wissenschaft und Kapital verwandelt sich damit in die Analyse der Formalisierung der Sinnlichkeit bzw. des Gebrauchswerts einerseits, in die Analyse der Realisierung des Verstandes bzw. des Werts andererseits.

Marx löst dieses doppelte Problem bekanntlich in seiner Theorie der Wertform, in der er darlegt, daß sich die bürgerliche Vergesellschaftung der Arbeit über den Mechanismus empirisch-ontologischer Verdoppelung vollzieht: die Produkte bringen den gesellschaftlichen Charakter der in ihnen enthaltenen Arbeit nicht unmittelbar zum Ausdruck – unmittelbar erscheinen sie nur in der Gestalt der empirisch-stofflichen Gebrauchswerte –, sondern durch Ausdifferenzierung eines Vereinheitlichungsmediums, das die Vergesellschaftung ermöglicht: gemeint ist das Geld. Durch einen Prozeß, der hier nicht dargestellt zu werden braucht, wird im Geld das konkret-stoffliche Moment soweit formalisiert, daß die gebrauchswerthafte Bestimmtheit des Geldes unmittelbar mit seiner gesellschaftlichen Formbestimmtheit zusammenfällt. In dieser exklusiven Ware wird also der Gebrauchswert formalisiert und die im Wert ausgedrückte a bstrakte Gesellschaftlichkeit realisiert, und durch diesen doppelten Vorgang kann das Geld als Organisationsform der gesellschaftlichen Produkte fungieren, die ihre Gesellschaftlichkeit ausschließlich in ihm darstellen. Als etwas Unsinnliches, rein Gesellschaftliches, und doch nichtsdestoweniger Daseiendes ist es gleichsam die realisierte Transzendenz, “abstrakte Gegenständlichkeit aller Gegenstände als ein von allen Gegenständen verschiedener Gegenstand” (139). Wir werden noch sehen, daß diese Konstellation: empirische Warenwelt einerseits, transzendentaler ‚Horizont’ des Geldes andererseits, bei aller Dominanz des letzteren ein Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung verkörpert, in dem die ‚abstrakte Gegenständlichkeit’ noch als abstrakte durchschaut und kritisiert werden kann, während dies mit dem Übergang zum Kapital anders wird.

Das gleiche Problem der Vermittlung, das sich in der Erkenntnistheorie als Verwandlung der Wahrnehmungsurteile in Erfahrungsurteile, als Synthesis von Sinnlichkeit und Verstand darstellt, wird von Kant in einer dem marxschen Unternehmen durchaus ähnlichen Weise gelöst, und zwar nach Oetzel in zwei Schritten: erstens in der transzendentalen Ästhetik durch die Einführung der ‚reinen Anschauung’, zweitens in der transzendentalen Analytik durch die Lehre vom ‚Schematismus’ als dem Mechanismus, der die Voraussetzung dafür schafft, daß die Verläßlichkeit der Erfahrung faktisch erzwungen wird. Mithilfe des Schemas, das eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Anschauung und Begriff einnimmt, gelingt es der Einbildungskraft, Verstand und Sinnlichkeit auf dem Boden der reinen Anschauung zusammenzubringen, indem sie die erforderliche Gleichartigkeit beider durch eine Entsinnlichung der Anschauung und eine Versinnlichung der Transzendenz erzwingt. Die Verstandesbegriffe werden anschaulich realisiert, während das Material und die empirische Beschaffenheit der Anschauung formalisiert und abstraktifiziert werden. “Die Synthesis der Einbildungskraft”, so faßt Oetzel seine Interpretation zusammen, “stellt die erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit dar und zugleich den Grund aller übrigen. Das heißt: im Schema ist die Subsumtion der Anschauung unter den Verstand vorgängig vollzogen, so daß sie vermittels des Schemas generell möglich geworden ist. Nicht anders beim Geld: der Gebrauchswert kann vermittels des Geldes unter den Wert subsumiert werden, weil er im Geld exklusiv unter ihn subsumiert ist. Im Schema schauen wir alle Gegenstände der Erfahrung rein an, so wie wir im Geld alle gesellschaftlichen Produkte rein anschauen. So wie das Geld den greifbaren Horizont der Warenwelt verkörpert, so stellt das Schema den ‚vernehmbaren’ (Heidegger) Horizont der Erfahrungswelt dar” (150).

Kants Theorie der synthetischen Urteile apriori und seine Lehre vom Schematismus lassen die Grundstruktur der neuzeitlich-experimentellen Erfahrungswissenschaft klar hervortreten. Diese Wissenschaft erkennt zwar die Empirie als eine Wirklichkeit an und ist insoweit metaphysikkritisch. Die Zertrümmerung der alten Metaphysik aber mündet in die Etablierung einer neuen, die um das Transzendentalsubjekt zentriert ist. Die ‚Objektivität’, der vielbeschworene Realitätsgehalt der modernen Wissenschaft, verdankt sich keiner schmiegsamen Anpassung an die Empirie, sondern der Konstitutionsleistung dieses Subjekts, das vor aller möglichen Erfahrung die ‚Natur’ so ‚entwirft’, daß sie mit den Verstandesbegriffen übereinstimmt. Die Empirie, an der die Begriffe kontrolliert werden sollen, erweist sich von hier aus nur als eine besondere Form der Verfügung über die Erfahrung, als bloße ‚Erscheinung‘ innerhalb eines Horizonts, der Erfahrung als wissenschaftliche überhaupt erst möglich macht. Es ist deshalb keineswegs zufällig, sondern liegt in der Logik dieser Argumentation begründet, wenn Kants idealistische Nachfolger (und schon Kant selbst in seinem ‚Opus Postumun‘) das empirische Restmoment soweit zurückdrängen, daß das Erkenntnissubjekt in der wissenschaftlichen Erfahrung eigentlich nur noch sich selbst begegnet. Man hat das wissenschaftliche Zeitalter dasjenige der ‚lumieres’ genannt; und in der Tat:, das Licht, das die Aufklärung über die Welt geworfen hat, hat alles verbrannt, was ihr nicht gleich war.

Welche Folgen hat nun der ‚Schematismus der Verstandesbegriffe’ für den Materialismus? Solange der Verstand seine kategorialen Netze fern von der Produktion spinnt, und das ist zu Kants Zeiten noch weitgehend der Fall: keine. Solange sich die Realisierung der abstrakten Transzendenz auf das Geld beschränkt, das die Produkte sozusagen nachträglich, nach Abschluß des Produktionsvorgangs in der Zirkulation vergesellschaftet, solange haben wir es noch mit einem Doppelcharakter der Produktion zu tun, dessen konkret-stoffliche Seite für die abstrakt-transzendente eine Grenze darstellt. Die abstrakte Allgemeinheit des Geldes kann ohne Mühe auf eine andere Allgemeinheit durchschaut werden, der Formalismus der Zirkulation auf die konkrete Inhaltlichkeit der Produktion. Oetzel spricht daher von einer “Durchschauenskonstellation”, die die Enthüllung des Geldes als eines bloßen Fetischs erlaubt. “Sie macht eine Gegenständlichkeit, die Empirie, als den kontrastierenden Grund einer anderen Gegenständlichkeit, der Ontologie des Scheins, sichtbar. Vor allen Dingen aber ermöglicht die Durchschauenskonstellation die Gegenüberstellung zweier Formen von Synthesis, einer privativen, die im Ding (d.h. im Geld, S.B.) resultiert, und einer produktiven, die bestimmte nützliche Gegenstände hervorbringt. Sie macht einsichtig, daß die wertabstraktive Aneignung der Natur durch das bürgerliche Subjekt, in der die Natur restlos im Aneignungsvollzug aufgeht, zu ihrer Voraussetzung eine an Gebrauchswert orientierte, produktive Aneignung hat, in der die Natur als irreduzibles stoffliches Substrat zum gesellschaftlichen Subjekt hinzutritt, ohne von ihm verzehrt zu werden” (159 f.).

Diese “Durchschauenskonstellation” aber, an der die Möglichkeit des Materialismus hängt, ist keine historische Invariante. Sobald mit dem Übergang vom Geld zum Kapital im frühneuzeitlichen Europa das Geld sich nicht mehr nur mit jeweils besonderen Waren austauscht, sondern mit der Substanz aller Waren, der Arbeit als subjektivem Arbeitsvermögen, verliert die Wertabstraktion ihre exklusive Stellung gegenüber den anderen Waren. Jedoch nur, um sich auf erweiterter Basis wieder zu gewinnen: die abstrakte Vergesellschaftung der Arbeit beschränkt sich mit der Entwicklung kapitalistischer Produktions- und Organisationsformen nicht mehr auf die Zirkulation, sie ergreift vielmehr die ihr bislang vorausgesetzten Sphären von Produktion und Konsumtion und beginnt, sich auch stofflich-technisch niederzuschlagen. Der Wert erweitert, wenn man so will, seine ‚ontologische Basis’. Und er folgt dabei dem gleichen Mechanismus von Formalisierung der Sinnlichkeit einerseits, substitutiver Objektivierung der Transzendenz andererseits, den wir bereits am Schematismus des Geldes studiert haben. Durch die ‚reelle Subsumtion’ der Arbeit unter das Kapital wird die Arbeit entsinnlicht, entwirklicht und der Bewegung des Wertes angepaßt; die experimentelle Situation hingegen verliert ihren außerordentlichen, nichtalltäglichen Charakter und wird durch die Maschinerie universalisiert. Im gleichen Maße, in dem wissenschaftlich-technische Verfahren die Produktion beherrschen, im gleichen Maße, in dem, in Oetzels Worten, die “statische Wertform des Geldes” in die ,,dynamische, technische Wertform der Maschine” übergeht, wird der Idealismus allgemein. Die von Kant beschriebene Verstandestätigkeit hört auf, bloße Gedankentätigkeit zu sein, aus dem ‚Schematismus der Verstandesbegriffe’ wird, wie Horkheimer/Adorno bereits in der .Dialektik der Aufklärung’ notierten, ein ‚Schematismus der Produktion’, die von der nun wirklich an sich selbst abstrakt gewordenen Arbeit und von der Maschinerie als automatischem System beherrscht wird. Zugleich verschwindet da s kontrastierende empirisch-stoffliche Moment, das auf der Ebene der bloß zirkulativen Existenz des Wertes ein Durchschauen der Fetischstruktur ermöglichte. Entmachtet, vernichtet, zerstört durch die kapitalistische, wissenschaftliche Organisation der Produktion, wird die konkrete, erfahrungsgebundene Arbeit marginalisiert, während die ‚formale’ Produktion der Maschine total wird auch in dem Sinne, daß sie die Konsumtion zu beherrschen beginnt: ein Vorgang, den Oetzel am Strukturwandel des Bedürfnisses und der tendenziellen Transformation der Ware in ein Rauschmittel illustriert. Das Zeitalter des Marktes wird vom Zeitalter der technischen Realisation abgelöst.

Es ist hier nicht möglich und auch für das Verständnis dieser Überlegungen nicht nötig, die vielen Belege aus der zeitgenössischen Philosophie und Gesellschaftstheorie zu zitieren, mit denen Oetzel seine These von der zunehmenden ‚Eindimensionalität’ (Marcuse) der spätkapitalistischen Gesellschaft untermauert, obwohl gerade die Kapitel über Heidegger, Wittgenstein und die nachmarxsche Monopoltheorie hinsichtlich mancher überraschender Übereinstimmungen zu den interessantesten Passagen des Buches gehören; besonders nachdrücklich sei in diesem Zusammenhang auf den von Oetzel entwickelten Begriff des ‚transzendentalen Positivismus’ verwiesen, der einen vielversprechenden Ansatz zur Überwindung des moralisierenden Räsonnements bietet, mit dem die dialektische Theorie bisher den verschiedenen Gestalten des spätbürgerlichen Bewußtseins begegnet ist. Hervorheben aber möchte ich die rückhaltlose Entschlossenheit, mit der Oetzel der Logik seines Arguments folgt. Im Gegensatz zu Woesler, die darauf verzichtet, ihre Einsichten reflexiv auf den materialistischen Revolutionsbegriff zurückzuwenden, macht Oetzel klar, daß die Radikalisierung der Werttheorie im oben skizzierten Sinne die Aufhebung der Revolutionstheorie impliziert: in diesem Sinne ist Kant nicht nur von Marx her zu interpretieren, sondern umgekehrt auch Marx von Kant her.

Oetzels Verdienst ist es, daß er sich dieser Konsequenz nicht aufgrund einer normativ verankerten reservatio mentalis verschließt, zugleich aber noch soweit loyal an den Grundlagen der marxschen Theorie festhält, daß diese, obwohl ihrer revolutionstheoretischen Implikationen beraubt, ihre Funktion als ‚Theorie des gegenwärtigen Zeitalters‘ bewahrt bzw. neu gewinnt. Anstatt der modischen Attitüde zu folgen, angesichts der offen zutage liegenden Insuffizienz der materialistischen Revolutionstheorie den gesamten marxschen Begriffsapparat zu verwerfen und in das Scheinrefugium einer ‚von der bestehenden Wirklichkeit her nicht zu fundierenden praktischen Vernunft’ zu flüchten (Koch/Narr), unterzieht Oetzel sich dem mühevolleren, aber theoretisch aussichtsreicheren Geschäft einer Nachlaßsichtung, die erst einmal prüft, bevor sie verwirft. Eben dadurch aber gewinnt sein Revisionismus an Gewicht, weil es ein Revisionismus ist, der nicht moralisierend von der Peripherie her urteilt, wie alle Revisionismen seit Bernstein, sondern aus der Immanenz der Theorie das Scheitern und die Wahrheit der materialistischen Dialektik entwickelt. Es wäre diesem Buch zu wünschen, daß die von ihm ausgehende Irritation sich nicht bloß auf den engen Kreis philosophischer Spezialisten beschränkte.

Aus: Ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg: ça ira 1985, S. 284 – 292

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