Stefan Breuer – Utopie als Affirmation * Leseprobe aus ders. Aspekte totaler Vergesellschaftung

Utopie als Affirmation

Bemerkungen zu Rudi Dutschkes Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen [ * ]

Stefan Breuer

Die Diskussion über Lenin und den Leninismus, lange Zeit erstarrt im unfruchtbaren Wechselspiel von blinder Identifikation und unreflektierter Ablehnung, hat in letzter Zeit durch eine Reihe kritischer Untersuchungen neue Impulse erfahren. Nach jahrzehntelanger Heiligenverehrung durch eine Orthodoxie, die in jeder Kritik an dem zum ‚Marxismus in der Epoche des Imperialismus‘ hypostasierten und für sakrosankt erklärten Leninschen Erbe nicht zu Unrecht einen Angriff auf ihre Legitimationsgrundlage witterte und mit den ihr zur Verfügung stehenden machtpolitischen Mitteln jede ernsthafte innermarxistische Diskussion unterdrückte, liegt nun mit den Arbeiten von Brigitte Nolte (1971), Christel Neusüß (1972), dem ‚Projekt Klassenanalyse‘ (1972), der ‚Marxistischen Aufbauorganisation‘ (1973) und Rudi Dutschkes neuem Buch (1974) eine Fülle von Einzelanalysen vor, die eine gründliche Revision des tradierten – auch von bürgerlicher Seite bislang kaum in Frage gestellten – Bildes von Lenin als dem Theoretiker der ersten großen sozialistischen Revolution anzeigen.

Wenngleich es zunächst nur das Ziel der genannten Arbeiten gewesen war, vor allem die Universalitätsansprüche der Theorie des ‚Staatsmonopolistischen Kapitalismus’ mitsamt ihren politisch-strategischen Implikationen zu relativieren, ohne dabei den Leninismus als solchen in Frage zu stellen, so führte doch die Auseinandersetzung mit der Leninschen Imperialismustheorie als dem eigentlichen Fundament dieser Auffassungen bald zu einer weitgehenden Problematisierung des gesamten Leninschen Ansatzes. Diese mündete schließlich in eine Kritik von dessen zentraler Prämisse: der behaupteten Identität des Leninismus mit der marxistischen Theorie, die dieser in adäquater Weise weiterentwickelt zu haben beanspruchte. Die Untersuchung der gesellschaftstheoretischen, ökonomischen, politischen und philosophischen Elemente des ‚Leninismus‘ konnte nachweisen, daß Lenins Begriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur höchst problematischen objektivistischen Verkürzungen unterlag, sondern darüberhinaus eines adäquaten Verständnisses des Wertgesetzes als des zentralen Strukturprinzips dieser Gesellschaft gänzlich ermangelte. Indem Lenins Analysen sich darauf beschränkten, nur eine Seite der warenproduzierenden Gesellschaft hervorzuheben – das Nichtvorhandensein eines gesellschaftlich erstellten Plans – gelangte er dazu, vor allem in der Disproportionalität der verschiedenen Produktionszweige die entscheidende Schranke der kapitalistischen Produktionsweise zu sehen. Dies rückte ihn folgerichtig in die Nähe von Disproportionalitätstheoretikern wie Tugan-Baranowsky, Hilferding und Otto Bauer, die in der bloßen Planung an sich bereits ein die kapitalistische Produktionsweise transzendierendes Moment entdeckten (Neusüß 1972; 88 ff.). Es war daher nur konsequent, wenn Lenin, wie vor allem Christel Neusüß herausgearbeitet hat, die bereits vom Kapitalismus selbst entwickelten vermeintlichen Lenkungsorgane wie Monopol, Finanzkapital und wissenschaftliche Organisation als direkt durch den Sozialismus übernehmbare Formen der Vergesellschaftung interpretierte, die, als Beseitigung der privatkapitalistischen ‚Unordnung‘, tendenziell bereits sozialistischen Charakter trügen. Sozialistische Politik, so resümierten Christel Neusüß und die ‚Marxistische Aufbauorganisation‘ übereinstimmend, schrumpfte unter diesen Bedingungen auf den bloßen politischen Kampf gegen die historisch überfällig gewordene ‚Hülle‘ des Konkurrenzkapitalismus, die die in den Monopolen inkorporierte Rationalität an ihrer Universalisierung, ihrer Ausdehnung auf die gesamtgesellschaftliche Produktion hinderte und so die zum Sozialismus drängende Produktivkraftentwicklung hemmte: sozialistische Vergesellschaftung war damit gleichbedeutend geworden mit der Befreiung des Monopols aus den Fesseln der Konkurrenz (Neusüß 1972: 90f. und Marxistische Aufbauorganisation, 1973: 229, 233).

Daß Lenin das Wertgesetz letztlich nicht begriffen hatte und in seinen theoretischen Untersuchungen deshalb an allen wesentlichen Punkten den für den Kapitalismus spezifischen Mystifikationen aufsaß, war auch der Kern der Kritik des ‚Projekt Klassenanalyse‘. Das Projekt wies nach, daß Lenin den Fortschritt der marxschen Theorie ausgerechnet in der Bestimmung der Weitgröße sah und nicht in der Analyse der Wertform, die doch die eigentliche Leistung des marxschen Ansatzes war (1972; 352) [ 1 ] . Indem Lenin den Wert als verallgemeinerte Ausdrucksform der Preise begriff und das Wertgesetz unmittelbar aus der empirischen Bewegung der Preise abzuleiten versuchte, begab er sich auf dieselbe Ebene wie die bürgerliche Theorie von Angebot und Nachfrage und deren Abstraktionsverfahren, das nicht in der Ableitung und genetischen Entwicklung der verschiedenen Formen des Wertes die eigentliche Aufgabe der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sah, sondern in der mehr oder minder gewaltsamen Reduktion aller Erscheinungsformen auf das ‚Wesen‘, die wertschaffende Potenz der Arbeit. Dieses methodische, in seinem Kern erzmetaphysische Prinzip, demzufolge das ,Wesen‘, die reine Form alles, die empirischen Erscheinungen dagegen nichts sein sollten, kennzeichnete die Leninsche Theorie in allen wesentlichen Momenten. So zeigte das ‚Projekt Klassenanalyse‘, daß Lenin die materialistische Methode als ein dem Stoff äußerliches Verfahren begriff, das in der Entfaltung evidenter und sich kohärenter Axiome bestand, die sich sodann an der chaotischen Natur der Erscheinungen zu bewähren hatten – eine Position, die der Vorgehensweise der wilhelminischen Soziologie weit näher stand als der marxschen Theorie.

Auf dieser nominalistischen Basis erschien der historische Materialismus als eine “Anwendung der Entwicklungstheorie … auf den modernen Kapitalismus” (Lenin, Werke, Bd. 25; 471), als ‚objektives Kriterium‘, mit dessen Hilfe die Fülle der empirischen Erscheinungen geordnet und in ein stringentes theoretisches System eingegliedert werden konnte. Als geniale Hypothese ermöglichte der historische Materialismus nach Lenin die Beseitigung der verwirrenden Vieldeutigkeit der Geschichte und die Konstruktion eines Schemas, wonach die Evolution der Gesellschaft mit unwiderstehlicher Gewalt zur Etablierung jenes ,etat final positif‘ (Comte) drängte, von dem schon die St.-Simonisten gehofft hatten, daß in ihm die Herrschaft von Menschen über Menschen einer bloßen Verwaltung von Sachen gewichen sein würde – ein Konzept, das sich in seinem objektivistischen Grundzug kaum von den szientistischen Geschichtskonstruktionen des 19. Jhs. von Haeckel bis Kautsky unterschied, die die Anatomie des Menschen aus derjenigen der Amöbe zu deduzieren bestrebt waren. [ 2 ]

Während sich nun jedoch auf der Basis dieser Untersuchungsergebnisse der Unterschied zwischen den theoretischen Grundpositionen der Zweiten und Dritten Internationale mehr und mehr als eine Scheindifferenzierung herausstellte, zögerten die Kritiker gleichwohl, aus ihren Analysen die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Christel Neusüß, die doch gerade die bürgerlichen Momente der Leninschen Kapitalismuskritik einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte, vollbrachte das Kunststück, im gleichen Atemzug Lenins Imperialismustheorie zur “präzisesten” Spezifikation der Marxschen Theorie vom Zusammenbruch des Kapitalismus zu erklären (1972; 25), die eigentlich falsch erst durch ihre Kanonisierung in der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus geworden sei (1972; 45). Womit jede Frage danach, ob die von Lenin vertretenen bürgerlichen Auffassungen denn bloß akzidenteller Natur waren und den Charakter des Lenini smus als Theorie einer sozialistischen Revolution im Kern nicht tangierten, schon vom Ansatz her tabuisiert wurde: eine Frage allerdings, die auch für jemanden, dem das Epitheton ‚sozialistisch‘ für die postrevolutionären Länder Osteuropas und die Tatsache “der in ihnen vollzogenen gesellschaftlichen Umwälzung (1972; 67 H.v.m.) so selbstverständlich erscheint wie für Christel Neusüß, ohnehin nicht von Belang ist. Und auch das ‚Projekt Klassenanalyse‘ beeilte sich, nach seinen kritischen Exkursionen rasch in den Schoß der Orthodoxie zurückzukehren: zwar habe Lenin, so argumentierte man, aufgrund seines ‚eingeschränkten Verständnisses der marxschen Theorie’ wesentliche Struktur zusammenhänge der bürgerlichen Gesellschaft ‚übersehen’ und daher seinen Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung der Taktik ‚nicht voll’ einlösen können. Doch stelle sein politisch-theoretisches Wirken nichtsdestoweniger eine “bedeutende Etappe in der Wiederherstellung (sic!) des wissenschaftlichen Sozialismus” dar (1972; 32 f.).

Obwohl Lenin, so könnte man das Ergebnis dieser Kritik zusammenfassen, niemals den Standpunkt der bürgerlichen Erkenntnistheorie verließ, ja geradezu neukantianische Positionen vertrat (1972; 69), obwohl seine Klassenanalyse höchst problematisch war und die Fehleinschätzung der Bauern katastrophale Folgen hatte für den Aufbau des Sozialismus, obwohl er ein wenig reflektiertes Verhältnis zur bürgerlichen Demokratie besaß und auch in ökonomischen Fragen eher zu bürgerlichen als zu marxschen Auffassungen neigte – trotz all dieser Mängel, wie sie von der Kritik herausgearbeitet wurden, sollte Lenin nach wie vor ein hervorragender Revolutionär, der Theoretiker der ersten erfolgreichen Revolution gewesen sein, deren Erfahrungen zwar historisch zu relativieren seien, dennoch aber einen festen Platz in der Tradition des revolutionären Sozialismus beanspruchen konnten: ein theoretischer Salto mortale, der freilich ein recht bezeichnendes Licht auf die scheinkritische Attitüde solcher Leninkritik wirft.

Mit Rudi Dutschkes ‚Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen‘ liegt nun – neben den Arbeiten Bernd Rabehls, auf die wir in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen können – ein erster Ansatz vor, die Auseinandersetzung mit Lenin über die Ebene einer bloß partiellen, auf den Nachweis einzelner ‚Fehler‘ beschränkten Kritik hinauszuführen und sich um eine Gesamtdeutung der Oktoberrevolution und ihrer Rolle innerhalb der sozialistischen Tradition zu bemühen. Dutschke geht es im Sinne Blochs um eine Klärung der ‚Erbschaft’, um die Herausarbeitung dessen, was von der russischen Revolution zu lernen ist – nicht im Sinne einer unkritischen Übernahme, sondern vielmehr einer Aneignung jener Momente, die durch die Totalisierung ganz bestimmter Erfahrungen bislang unterdrückt und nicht zum Tragen gekommen waren: die ‚asiatische Erbschaft‘, die konkrete historische Qualität des russischen Weges zum Sozialismus, deren Eigenständigkeit und Besonderheit es nach Dutschke allererst zu klären gilt, will man nicht von vornherein falschen Verallgemeinerungen aufsitzen, die dann, wie die Geschichte gezeigt hat, nicht nur für die sozialistischen Bewegungen anderer Länder, sondern ebenso für eine angemessene Rezeption des .wirklichen’ russischen Erbes hemmend sind. Was also ist die ‚asiatische Erbschaft‘?

Die ‘asiatische Erbschaft’

In Rußland, so lautet die These Dutschkes, hatte sich im welthistorischen Milieu des Imperialismus eine echte historische Besonderheit herausgebildet, die mit allgemeinen Rastern wie ‚asiatische Produktionsweise’ oder ‚Feudalismus’ nicht zu erfassen war. Bedingt durch das spezifische Steuersystem Peters L, der gegen Ende seiner Regierungszeit angeordnet hatte, die Steuern einer Gemeinde nach der Zahl der männlichen Seelen zu bemessen – der berühmten ‚Revisionsseelen‘ – hatte sich im 18. Jh. der sogenannte ‚Mir’ entwickelt, in dem der Bauer seinen Anteil am Gemeindeland (obschtschina) nicht von der Familie erbte, sondern von der Gemeinde in periodischer Umteilung zugeteilt erhielt. Gekennzeichnet durch die Dominanz naturalwirtschaftlicher Verhältnisse, gemeinschaftlicher Nutznießung des Landes sowie der Einheit von Agrikultur und Handwerk (Kustare), war der ,Mir’ das Objekt einer doppelten Ausbeutung durch den privaten Grundherren und durch die despotische Autokratie des Zaren, der als ‚Herrscher aller Reußen’ einen Teil des Mehrprodukts als Steuern in Anspruch nahm. Obwohl durch den stets länger werdenden Zettraum zwischen den einzelnen Umteilungen die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft langsam derjenigen zwischen Individuum und Eigentum zu weichen begann (Kramer, 1970) [ 3 ] und schließlich nur noch ein Schritt fehlte, um die Feldgemeinschaft in ein Dorf von Parzellenbauern zu verwandeln, entwickelte der ‚Mir’ eine eigene Schwerkraft, die einer raschen Auflösung dieser Form des ‚asiatischen Feudalismus’ (Dutschke) und einer Durchsetzung der kapitalistischen Akkumulation im Wege stand. Dutschke zufolge war es nun das Spezifikum der zaristischen Politik im 19. Jahrhundert, daß deren Maßnahmen – wenngleich ihrer erklärten Absicht nach auf eine Modernisierung der Agrarwirtschaft gerichtet – de facto in eine erneute Stabilisierung der ‚halborientalischen’, vorbürgerlichen Knechtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse mündeten (1974; 59).

Im besonderen Maße galt dies für die 1861 erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft, mit der der Zarismus formell die Europäisierung des Landes einzuleiten schien, die aber in Wahrheit äußerst verhängnisvolle Folgen hatte: Bildete vor der ‚Befreiung‘ die Wirtschaft der Großgrundbesitzer den wichtigsten Teil der russischen Ökonomie, so wurde nun die bäuerliche Parzellenwirtschaft zur eigentlichen Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion. Die oft unrentabel arbeitenden und trotz der Reform auf viel zu geringer Basis an Ackerland operierenden Kleinbetriebe, die ohnehin unter dem Druck standen, die ständig anwachsenden Schulden zu tilgen, erwiesen sich bald als außerstande, sowohl die gesellschaftliche Reproduktion zu sichern als auch die Entwicklung einer kostspieligen nationalen Industrie zu fördern, deren Akkumulation in hohem Maße vom Zustand des Agrarsektors als des zentralen Abnehmers ihrer Produkte abhing.

Hinzu kam, daß die Struktur der Feldgemeinschaft eine rasche Vermehrung der Bevölkerung begünstigte, da die Gemeinden verpflichtet waren, durch neue Umteilungen die vergrößerte Bevölkerung zu versorgen, die aufgrund des geringen Entwicklungsstandes der Industrie sowieso nur auf dem Lande ein Unterkommen finden konnte. Hatte sich bereits im Zeitraum von 1724-1851 die Bevölkerung von 13 auf 39 Mill. verdreifacht, so vermehrte sie sich von 1866-1900 noch einmal auf 86 Mill., während sich die landwirtschaftliche Nutzfläche kaum veränderte. Die steigende Nachfrage nach Land hatte eine Ausdehnung der Pachten zur Folge, was wiederum zur weiteren Auflösung der Großbetriebe und damit zur Verringerung der Rentabilität der Landwirtschaft insgesamt führte – ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien.

Unter diesen Umständen konnte sich nun auch, wie Dutschke herausarbeitet, die Industrialisierung nur schleppend vollziehen. Angesichts der erdrückenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt war es klar, daß sich die kapitalistische Akkumulation in Rußland nicht in einem ähnlich langwierigen und von außen nur geringfügig bedrohten Prozeß entwickeln konnte wie dies etwa in England der Fall gewesen war. Von Anfang an kam deshalb dem despotischen Staat eine besondere Rolle in der Forcierung der nationalen Akkumulation zu. Über eine gelenkte Nachfrage auf dem Binnenmarkt mittels zahlreicher Staatsaufträge, über den extensiven Einsatz von Dumpingmethoden und Hochschutzzöllen konnte der Staat mühsam eine kleine, doch technologisch hochentwickelte Industrie aufbauen, die freilich in hohem Grade von ausländis chem Kapital abhängig war. Aber während der zaristische Despotismus einerseits auf jede nur erdenkliche Weise bemüht war, über die Förderung des Eisenbahnbaus, des Bankensystems und der Schwerindustrie den Übergang vom halbasiatischen Feudalismus zur modernen kapitalistischen Industriegesellschaft voranzutreiben, konnte er dies doch andererseits nur – und dies ist eine von Dutschkes zentralen Thesen –, indem er die orientalisch-feudalen Relikte konservierte und beständig neu erzeugte. Die Beschaffung ausländischen Kapitals, von der die Industrialisierung abhing, war wiederum abhängig von der Stabilität der russischen Währung, diese jedoch von der Handelsbilanz Rußlands. Unter dem Finanzminister Wyschnegradskij wurden daher die Feldgemeinschaften unter brutalen fiskalischen Druck gesetzt (und damit erneut zusammengeschweißt), um wenigstens den Getreideexport soweit zu erhöhen, daß die großen Importe von Rohstoffen und Produktionsmitteln einigermaßen ausgeglichen werden konnten – eine Politik, an der auch dann noch verbissen festgehalten wurde, als in der großen Hungerkatastrophe von 1891/92 Tausende von Bauern aus Mangel am Nötigsten umkamen.

Aber alle dem russischen Bauern zugemuteten Opfer und Entbehrungen zeigten wenig Erfolg. Auf dem Weltmarkt wegen zu hoher Schutzzollmauern nicht konkurrenzfähig, abhängig von den Agrarkonjunkturen, taumelte die russische Industrie von einer Depression in die andere, ohne daß sich langfristig eine Aussicht auf Besserung aufgetan hätte. “Ein Agrarland voller Produktivität und Ressourcen”, so faßt Dutschke diesen Prozeß zusammen, “wird durch die ‚voreiligen’ Industrialisierungsversuche zerstört, ohne daß es einen Umschlag in kapitalistische Produktivität geben kann” (1974; 66). Aus dem halbasiatischen Feudalismus war ein halbasiatischer Staatskapitalismus geworden, der beständig seine eigenen, naturwüchsig gegebenen Voraussetzungen zerstörte und zugleich außerstande war, etwas Neues an deren Stelle zu setzen. Rußland geriet so in einen schleichenden Zersetzungsprozeß, von dem alle gesellschaftlichen Schichten des Landes betroffen waren und dessen hervortretendes Merkmal die Langsamkeit war, mit der er sich vollzog. Stagnation war zum Schicksal des russischen Staatskapitalismus geworden.

Die russische Revolution: lsquo;asiatischer’ oder ‘preussischer’ Weg zum Sozialismus?

Welche Möglichkeiten revolutionärer Politik boten sich nun in diesem langsam verwesenden Riesenland, dessen Überlebenschancen von Tag zu Tag geringer wurden? Dutschke sieht zwei Wege: der erste, zum erstenmal von Marx in seinen Exzerpten über Rußland, den Briefen an Vera Sassulitsch und verschiedenen verstreuten Bemerkungen beschriebene, ging von der Einsicht in die besondere Langfristigkeit der Umwandlung des halborientalischen Staatskapitalismus in eine moderne kapitalistische Gesellschaft aus und baute hierauf seine Strategie auf.

Diesem Konzept zufolge sollte es unabsehbare Zeit dauern, bis die alten, auf mutualistischen Produktionsformen und solidarischer Lebensweise gegründeten vorkapitalistischen Gesellschaftsstrukturen des agrarischen Rußland gänzlich eliminiert und durch die kapitalistische Produktionsrationalität des europäischen Westens ersetzt sein würden. Wenngleich Rußland bereits von einer “gewissen Art von Kapitalismus” (Marx) geprägt war, hatte sich jedoch in ihm, in einem einmaligen historischen Glücksfall, jene “urkommunistische Fähigkeit und Anlage” erhalten, “auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand sich jedweder Art der Arbeit anzupassen” – Dutschke zufolge “ein ganz besonders beständiges Merkmal der asiatischen Produktions- und Lebenszone” (1974; 62). Indem die russische Feldgemeinschaft noch nicht von den Auflösungsprozessen der kapitalistischen Akkumulation betroffen war, bot sich dem russischen Volk, wie Marx in seinem Brief an die Redaktion der ‚Otetschestwennyje Sapiski‘ hervorhob, “die schönste Chance …, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat” (MEW 19; 108), nämlich die vorhandene Form des russischen Gemeindeeigentums zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung zu machen (MEW 19; 296).

Marx zufolge – und Dutschke schließt sich diesem Urteil an – bestand in Rußland die außergewöhnliche historische Möglichkeit, den ,Mir’ als eine Form der urkommunistischen Gemeinschaft zur Grundlage einer modernen kollektiven Großwirtschaft zu machen, die nicht durch das ‚caudinische Joch’ des Kapitalismus hindurchgegangen sein mußte. Die russische Revolution sollte die zerstörenden Einflüsse beseitigen, die die freie Entfaltung der Landgemeinde bedrohten, und, gestützt auf die noch wirksamen urkommunistischen Assoziationen, sich die im Westen entwickelten neuen Produktivkräfte unmittelbar zu eigen machen, ‚ohne sich deren modus operandi zu unterwerfen‘. “Die Möglichkeit des scheinbar Unmöglichen, diese negative Dialektik, bildet hier die Basis des Ansatzes einer ‚konkreten Utopie’ (Bloch) als soziales Programm der russischen Revolution gegen die zaristische Despotie” (Dutschke, 1974; 60).

Asiatischer Sozialismus gegen asiatischen Staatskapitalismus (Dutschke 1974; 124) – so hätte nach Dutschke die Parole der russischen Revolution lauten müssen. Nicht nur das zahlenmäßig geringe Proletariat der Städte, auf dessen Führungsmonopol freilich auch Dutschke im Zeitalter des Imperialismus nicht verzichten zu können glaubt (1974; 122), sollte das eigentliche Subjekt dieser Revolution sein, sondern die ungeheure Masse der in Armut und Elend gehaltenen Muschiks, deren Protest sich gegen “das neue, sich herausbildende Wertgesetz des asiatischen Staatskapitalismus richtete” (1974; 122). Nicht die bürgerliche Revolution mit ihrer Fixierung auf unbedingte Entwicklung der Produktivkräfte stand auf der Tagesordnung, sondern die Revolution der gleichsam von Natur aus sozialistischen Massen Rußlands, die “zum agrikolen Urkommunismus zurückwollten und nicht zum zaristischen Despotismus der spezifischen Steuerausbeutung der staatlichen Maschinerie” (1974; 122). Es war das agrarische, von den solidarischen Produktionsformen des ,Mir’ bestimmte Rußland, das gegen die aufkommende kapitalistische Produktionsrationalität rebellierte und dessen Perspektive deshalb gerade nicht in einem – bewußten oder blinden – Weiterschreiten in der einmal eingeschlagenen Richtung, sondern einzig in der Entfaltung der .natürlichen‘ sozialistischen Tendenzen bestehen konnte. “Befreiung der Agrikultur von der Ausbeutung und Herrschaft des Staates” – so und nicht anders hätte die zentrale Forderung dieser Revolution lauten müssen (Dutschke 1974: 174).

Daß es hierzu nicht kam, daß Rußland letztlich den anderen, staatskapitalistischen, von perennierender Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichneten Weg beschritt, war Dutschke zufolge vor allem das Werk Lenins und der Bolschewiki. Im Gegensatz zu Marx, der sich stets nachdrücklich dagegen gewehrt hatte, seine ‚historische Skizze’ von der Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges zu verwandeln, der allen Völkern schicksalhaft vorgeschrieben sei (MEW 19: 111), waren die russischen Sozialdemokraten – Menschewiki wie Bolschewiki – unter dem Einfluß der mechanistischen Evolutionstheorien der westeuropäischen Sozialdemokratie fest davon überzeugt, daß der Kapitalismus nicht allein die nächste Zukunft Rußlands, sondern bereits dessen Gegenwart bestimmte.

Hatte schon Plechanow, dessen reduziertes Marxverständnis aus einer Auffassung hervorgeht, die die marxsche Theorie als eine ungebrochene Weiterentwicklung von Holbach, Helvetius und Spinoza begreift (Colletti, 1971; 34 ff.), die Unabwendbarkeit des Kapitalismus für Rußland behauptet, so entsprang nach Lenin die chronische Misere der russischen Wirtschaft gerade der Unterentwicklung, nicht den Wirkungen des Kapitalismus. Unter dem Einfluß von Kautsky, dessen Buch über die ‚Agrarfrage’ er enthusiastisch als “hervorragendste Erscheinung der neuesten ökonomischen Literatur seit dem dritten Bande des ‚Kapital’” feierte (Lenin, Werke, Bd. 4; 84 f.), vertrat Lenin die Auffassung, daß das Kleinbauerntum unrettbar verloren sei, und daß daher alle Versuche, die vorkapitalistischen Formen in Rußland zu verteidigen und sich der eisernen Logik des Geschichtsprozesses entgegenzustemmen, utopisch und reaktionär seien. Aufgrund seiner evolutionistischen Stadientheorie, derzufolge die Naturalwirtschaft zwangsläufig zur Entfaltung der kapitalistischen Produktion drängte [ 4 ] , kam Lenin zu dem Schluß, daß Rußland bereits ein kapitalistisches Land sei, in dem der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat dominiere und auf dem Lande bereits in das Stadium des Kampfes von Großkapital gegen Kleinkapital getreten sei (Lenin, Werke, Bd. 1; 247) – eine höchst abwegige Vorstellung, die Dutschke mit Recht einer scharfen Kritik unterzieht (1974; 78 ff.).

Tatsächlich entsprang – und Dutschke weist dies sehr überzeugend nach – die Leninsche Klassenanalyse, die zur Grundlage der Taktik der Bolschewiki wurde, weniger einer adäquaten historisch-empirischen Untersuchung der russischen Wirklichkeit, als vielmehr der fundamentalen ‚Europabefangenheit’ (Dutschke, 1974; 125), wie sie die gesamte russische Sozialdemokratie kennzeichnete. Menschewiki und Bolschewiki, Plechanow und Lenin, beide arbeiteten mit der Begriffswelt der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas, die sie bruchlos auf Rußland übertrugen, ohne zu erkennen, daß es sich hier bestenfalls um eine “asiatische Satire russischer Spielart des ‚Kapitalismus’” handelte (Dutschke 1974: 72). Zutiefst durchdrungen vom westeuropäischen Zivilisationsbegriff, war die russische Sozialdemokratie außerstande, in der asiatischen Tradition Rußlands etwas anderes zu sehen als Rückständigkeit und finsteres Mittelalter, das einzig durch eine rasche und rücksichtslose Entfaltung des Kapitalverhältnisses überwunden werden konnte. Lenin war, Dutschke zufolge, theoretisch der russische Kautsky, der einzig im ‚preussischen Weg’, in der Durchsetzung eines hochentwickelten kapitalistischen Großstaates eine Möglichkeit sah, die so zähen russischen Knechtschaftsverhältnisse zu brechen (1974; 124).

Von hier aus gelingt es Dutschke, wenn auch mitunter in zu pauschalisierender Weise [ 5 ] , ein recht konsistentes Bild des Lenin- sehen Revolutionsverständnisses zu entwerfen. Er zeigt, daß die Hoffnung auf die Entwicklung moderner kapitalistischer Verhältnisse in Rußland von Anfang an Lenins revolutionsstrategische Begriffe der Planung, des Zentralismus, der Effektivität, des Spezialistentums, des Staates und der Parteiorganisation in verhängnisvoller Weise technizistisch verkürzte und in vieler Hinsicht in die Nähe technokratischer Ordnungsvorstellungen rücken ließ (1974; 171, 175). Fixiert auf das eine zentrale Ziel: Entwicklung der Produktivkräfte unter allen Umständen, mußte den Bolschewiki der Sozialismus zur bloßen ‚Idee’, zur leeren Zukunftshoffnung werden, die mit den realen, konkret-unmittelbaren Bedürfnissen der agrarischen und industriellen Produzenten nicht vermittelt war. “Die konkrete Interessenlage der Arbeiterschaft wird mechanisch von dem ‚sozialistischen Ziel’ der SDAPR separiert. Eine Vermittlung von Nahziel und Fernziel, von konkreten und utopischen Interessen der Arbeiter und Bauern – der historischen Lage entsprechend – wird schier unmöglich gemacht. So ist es kein Wunder, daß Lenin gegen den ‚Bernsteinianismus’ ‚die Idee der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats’ verteidigt. In dieser ‚Idee’ – ohne materialistische Klarheit bei Lenin – steckt viel versteckter Lassalleanismus mit viel Moral und Ewigkeit der Kategorien, Ideen etc.” (Dutschke 1974; 108).

Dutschke zeigt, daß aus dieser Grundhaltung zwangsläufig der rigide Charakter der Leninschen Vorstellungen von Organisation, Partei, Staat etc. resultiert. Indem für Lenin der Klassenkampf bloßes Mittel eines wissenschaftlich vorgegebenen (und nur wissenschaftlich erfaßbaren) Ziels: der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland war und nicht die unmittelbare Emanzipation der Individuen, ergab sich zugleich die Notwendigkeit, eine vermittelnde Zwangsinstanz zu schaffen, die die unterschiedlichen Interessen koordinierte und auf dieses eine Ziel hin konzentrierte. Mit der Partei ‚neuen Typs’ entstand damit jene nicht-empirische, gleichwohl im Zentralkomitee materialisierte transzendentale Subjektivität, die als kommunistische volonté générale die Einheit des revolutionären Prozesses stiftete und der Kontrolle durch die empirischen Individuen immer schon entzogen war; eine Struktur, in der die Verselbständigung des Partei- und Staatsapparats bereits in nuce angelegt war.

Nicht in der Erfüllung unmittelbarer, konkret-sinnlicher Bedürfnisse hatte diese Revolutionstheorie ihr Ziel, sondern in der Durchsetzung abstrakter, aus der Entwicklung des westeuropäischen Kapitalismus abgeleiteter Zielvorstellungen. Politischer Kampf für den Sozialismus, Schaffung einer institutionellen Form, mit deren Hilfe ein sozialistischer Inhalt – die vergesellschaftete Produktion – allererst ‚erzeugt’ werden sollte – dies war das Grundmotiv des Leninismus und bestimmte die politische Strategie der Bolschewiki, der schließlich alle divergierenden Zielsetzungen zum Opfer fielen: die antikapitalistischen Orientierungen der Bauern (Arschinoff, 1969), die proletarische Rätebewegung in den Industriezentren und letztlich auch die oppositionellen Strömungen der eigenen Partei. Der Leninismus war eine idealistische Theorie – denn was wäre idealistischer als der Gedanke, die ‚Form’ sollte sich ihren ‚Inhalt’ erzeugen, die reine Vernunft praktisch werden? –, und als solche begann sie ihren auf Gewaltsamkeit gegründeten Charakter immer deutlicher zu zeigen, je länger sich die Bolschewiki an der Macht hielten und je deutlicher es wurde, daß auf eine Revolution im Westen, die hier hätte gegensteuern können, nicht zu hoffen war. [ 6 ]

Dies alles arbeitet Dutschke mit großer Klarheit heraus. Er zeigt die für Lenin charakteristische Befangenheit in bürgerlichen Kategorien, von der schiefen Rezeption der marxschen Reproduktionsschemata, die Lenin in eine evolutionistische Geschichtstheorie umdeutet, über die technizistische Reduktion revolutionärer Praxis im Partei- und Staatsmodell der Bolschewiki, die Stellung zum ‚asiatischen Erbe’, zur Nationalitätenfrage usw. – kurzum, den ganzen jakobinisch-idealistischen Grundzug, der dem aktivistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie von Anbeginn anhaftete und dessen Totalisierung durch die Kominternpolitik so verhängnisvolle Folgen für den außerrussischen Sozialismus hatte. Lenin war der Protagonist einer bürgerlichen Revolution ohne Bürger unter der Fahne des Sozialismus, zu einer Zeit, da, Dutschke zufolge, weder im hochentwickelten Westeuropa noch im stagnierenden Asien die bürgerliche Revolution mehr auf der Tagesordnung stand. Obwohl auf der Ebene der praktischen Politik durchaus ein “aufrecht gehender Revolutionär, der bedeutendste seiner Zeit” (Dutschke 1974: 77) [ 7 ] , war Lenin doch zu sehr präokkupiert von den Vorurteilen eines westlich-bürgerlichen Zivilisationsbegriffs, um ernsthaft das ‚asiatische Erbe’ fruchtbar zu machen, um wirklich der Aktualität der ‚weltweiten Opposition gegen den Kapitalismus’ theoretisch Ausdruck verleihen zu können und somit die “Perspektive des konkret-utopischen Programms der sozialen Befreiung der ‚Unterdrückten und Beleidigten’” zu entwickeln (Dutschke 1974: 175). Anstatt die ‚Asiatschina’ zum Ausgangspunkt eines sozialistischen Aufbaus in Rußland zu machen, in dem der Staat nicht länger als bürokratische Maschinerie die Produzenten zum bloßen Objekt der Herrschaft degradierte, verließen sich Lenin und die Bolschewiki in ihrer Westeuropafixiertheit auf die Weltrevolution und machten damit allererst, wie Dutschke hervorhebt, den russischen Sozialismus wirklich abhängig von den außerrussischen Verhältnissen – eine Konstellation, als deren notwendige Folge schließlich der zwanghafte Versuch der Bolschewiki sich ergeben mußte, die Weltrevolution nun ihrerseits zum Objekt ihrer spezifischen Interessen zu machen und zu diesem Zweck die organisatorisch-strategischen Erfahrungen der Oktoberrevolution zu verallgemeinern (1974; 223).

Der ‘asiatische’ Weg zum Sozialismus:
Zur Kritik des Populismus

Auf den ersten Blick erscheint nun diese Argumentation von bestechender Schlüssigkeit. War es nicht das Verhängnis der russischen Revolution, daß gerade die falsche Behandlung der Agrarfrage durch die Bolschewiki jene ungeheuren Schwierigkeiten heraufbeschworen hatte, vor denen schon Rosa Luxemburg gewarnt hatte, und die schließlich zur überstürzten und mit barbarischer Härte durchgeführten Zwangskollektivierung führten? Hat nicht die chinesische Revolution gezeigt, daß die Bauern durchaus nicht nur Objekte des historischen Prozesses waren, unfähig zu jeder eigenen, das unmittelbare Interesse transzendierenden Aktivität, sondern wirkliche Subjekte, die durchaus zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft imstande waren? Hätte nicht auch in Rußland, wie Dutschke meint, die Revolution an die tradierten, der Rationalität des sich verwertenden Werts diametral entgegengesetzten, gebrauchswertorientierten Einstellungen der Bauern anknüpfen und so, vermittels einer Stärkung der mutualistisch-antikapitalistischen Tradition, die Entstehung jener breiten Kulakenschicht verhindern können, deren anwachsende gesellschaftliche Macht Stalin schließlich zur Flucht in die Zwangskollektivierung trieb?

Wer so fragt, hat Dutschkes Prämissen freilich bereits ungeprüft übernommen. War es denn tatsächlich vor allem das ‚europabefangene’, auf Industrialisierung und Produktivkraftentwicklung fixierte Bewußtsein der Bolschewiki, das – ähnlich wie in der Anfangsphase der chinesischen Revolution – die Einsicht in die Möglichkeit einer solchen Alternative verstellte und damit zu deren Zerstörung beitrug? Einer Alternative, die, wie Dutschke mitunter suggeriert, in ihrem konkret-utopischen Charakter angeblich eher noch dem russischen Frühsozialismus vor Augen gestanden hatte, und die erst durch die westlich-marxistische, auf “Entsinnlichung und Intellektualisierung” gegründete Denkweise verdrängt worden war (1974; 333)? Trifft es zu, daß, wie Dutschke gegen ein ‚mechanisches Determinismusverständnis’ einwendet, “in jeder (!) geschichtlichen Lage … ein Rahmen von objektiven Möglichkeiten gegeben (ist) und damit ein Spielraum für unterschiedliche Entscheidungen” (1974; 332)? War die Geschichte Rußlands – um von .Geschichte überhaupt‘ hier ganz abzusehen – jenes offene Kontinuum, jener freie Raum, in dem ein historisches Subjekt Entscheidungen fällen, Strategien wählen, Utopien verwirklichen konnte? War die .asiatische Alternative’ eine wirkliche Alternative?

Wohl kaum. Tatsächlich erscheint es mir als die eigentliche crux von Dutschkes Arbeit, daß die von ihr so emphatisch beschworene ‚Alternative’ zu Lenins ‚preussischem Weg’ weder neu, noch besonders originell ist und ihre besondere Qualität im Rahmen von Dutschkes Argumentation einzig durch eine Aussparung der realen Geschichte gewinnt. Was Dutschke immer wieder Lenin und den Bolschewiki vorhält: daß in Rußland eine wahrhaft auf Emanzipation aller Produzenten gerichtete Bewegung gerade die asiatische Besonderheit des Landes hätte zum Ausgangspunkt der revolutionären Strategie machen müssen, war das Programm einer realen historischen Bewegung – des Populismus. Und jeder materialistische Erklärungsversuch, der sich nicht in der Konstruktion abstrakter und geschichtsfremder Spekulationen erschöpfen wollte, hätte eben die realhistorische Verwirklichung dieses Programms analysieren müssen, anstatt sich den Idealismus zu leisten, zwar die Idee des Populismus zu akzeptieren, deren spezifische Realisierung aber als akzidentell und bloß zufällig zurückzuweisen – ein Verfahren, das sich von idealistischen Geschichtsinterpretationen kaum unterscheidet. Gerade die Entwicklung des Populismus und seiner materiellen Grundlage, der russischen Dorfgemeinschaft, zeigt nämlich, daß der ‚Erfolg’ des Leninismus nicht auf Usurpation, auf der Vergewaltigung einer ‚an sich’ zum Sozialismus drängenden, tendenziell bereits immer schon sozialistischen Gesellschaft beruht, wie es Dutschkes Interpretation nahelegt, sondern seine eigentliche Basis in den Zerfallsmomenten einer Gesellschaft fand, die keineswegs in ihrem vorkapitalistischen ,Kern’ unangetastet geblieben war, wie Dutschke meint (1974; 130, 252). Welches waren die Bedingungen für jene Entwicklung?

Entstanden während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war der russische Populismus vorwiegend eine Bewegung unter der jungen akademischen Intelligenz, in deren Reihen er auf zahlreiche Anhänger zählen konnte (Wolff 1970). Unter dem Eindruck der Erfahrungen der gescheiterten Revolution von 1848, die viele von ihnen in Westeuropa aus nächster Nähe erlebt hatten, waren Herzen und Bakunin, Tschernyschewski, Lawrow und Tkatschow zu der Überzeugung gekommen, daß sich in Westeuropa die revolutionären Ideen gerade wegen der Existenz bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse nicht durchzusetzen vermochten (Gitermann 1949; Bd. III, 136 ff. und Wolff 1970; 166), und daß deshalb Rußland aufgrund seiner noch nicht erfolgten bürgerlichen Revolution gewissermaßen prädestiniert war, als erstes Land die Ideen von Freiheit und Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit zu realisieren. In Rußland hatte sich, so lautete die zentrale These, mit der Dorfgemeinschaft eine Lebens- und Gesellschaftsform erhalten, die einen unmittelbaren Übergang in eine höhere, kommunistische Organisationsform eher möglich erscheinen ließ als in Westeuropa, das den Sozialismus bislang nur als Utopie kannte und seine Einführung durch die Erweiterung der Rechte der partikularisierten Individuen noch mehr erschwert hatte (Venturi 1960; 129 ff. und Wolff 1970; 155). Herzen formulierte das Programm des russischen Populismus: “Die Aufgabe der neuen Epoche, in die wir eintreten, besteht darin, auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse bewußt die Elemente unserer ländlichen Gemeindeverwaltung bis zur vollen Freiheit des Individuums zu entwickeln, unter Vermeidung jener Durchgangsphasen, die die Entwicklung des Westens notwendigerweise auf unbekannten Wegen dahintappend, hat durchmachen müssen” (nach Gitermann 1949; Bd. III, 138).

Die verschiedenen Strömungen des Populismus, deren Gemeinsamkeit einzig in dem zentralen Gedanken bestand, daß die Revolution in Rußland nur dann möglich sei, wenn sie die schon im Gang befindliche kapitalistische Entwicklung unterbrach und die bereits unmittelbar sozialistischen Elementen – die obschtschina – freisetzte [ 8 ] , vereinigten sich Anfang der siebziger Jahre im Programm der .Narodniki’, einer zahlenmäßig recht bedeutenden Gruppierung von Intellektuellen, die von dem sicherlich ehrenwerten, aber nichtsdestoweniger hoffnungslos moralischen Bestreben erfüllt waren, ihre ,Entfremdung’ gegenüber dem Volk, die Schuld der verselbständigten Kopfarbeit gegenüber der ausgebeuteten und unterdrückten Handarbeit qua subjektivem Willensentschluß aufzuheben und in einer Art kollektivem Rousseauismus in die Einheit des mythischen Ursprungs zurückzukehren. Die Tradition der großen russischen Bauernrebellionen von Stenka Rasin und Pugatschow sollte wiederbelebt werden, die Agitation auf dem Lande sollte zu einer gewaltigen Erhebung der Massen führen, die man sodann in einem Marsch auf Moskau zum Angriff gegen die zaristische Despotie zu führen hoffte (Venturi 1960; 484).

Ziel der Erhebung wai die Erfüllung jenes uralten Traums von der ‚schwarzen Umteilu ng’, wie er die Bauern verstärkt seit der Enttäuschung der ‚Befreiung’ von 1861 beseelte, die für viele nur zu einer Verschärfung der Knechtschaft geführt hatte. Alles Land sollte zu gleichen Teilen an die arbeitende Bauernschaft aufgeteilt werden – “das Land dem, der es bearbeitet” –, die Dorfgemeinschaften sollten sich autonom verwalten: Rußland, so glaubte man, würde sich unter diesen Bedingungen in eine einzige große Dorfgemeinschaft verwandeln, in der nichts von jener Partikularisierung und Atomisierung der Individuen zu verspüren war, wie sie das Leben in Westeuropa bestimmte (Venturi 1960; 491, 573 und Gitermann 1949; Bd. III, 241 ff.).

Freilich, so weitreichend und radikal die Vorstellungen der Narodniki hinsichtlich der sozialistischen Zukunft Rußlands auch waren – die kollektivwirtschaftliche Organisation des ,Mir’ sollte in Verbindung mit den technischen Errungenschaften des Westens den unmittelbaren Sprung in das ,Reich der Freiheit’ ermöglichen –, so zeigte doch die politische Entwicklung der Bewegung, daß ihre Ziele nur insoweit aufgenommen wurden, als sie dem tatsächlichen, unmittelbaren Bedürfnis der Bauern entsprachen und daß alle weitergehenden Ansätze auf keinen fruchtbaren Boden fielen. Vor allem zwei Gründe scheinen mir für diese Entwicklung verantwortlich zu sein: erstens die reale Struktur der ländlichen Dorfgemeinschaft, die, wie noch zu zeigen sein wird, seit der Reformgesetzgebung von 1861 von nicht zu übersehenden Auflösungserscheinungen gekennzeichnet war; zweitens aber, und auch dies ist nicht zu vernachlässigen, die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten, vor denen unter den Bedingungen der zaristischen Repression jede Form der Landagitation stand, die nicht nur die unmittelbaren Bedürfnisse der Bauern aufnehmen, sondern diese in Richtung auf sozialistische Zielsetzungen transformieren wollte. Als im Frühjahr 1874 Tausende von jungen Intellektuellen – Schüler, Studenten, Lehrer u. a. – zu einem massenhaften ‚Zug ins Volk’ aufbrachen, um die Dörfer des Wolga-Beckens, des Uralgebietes und des Schwarzerde-Gürtels aufzurütteln, reagierte der Staatsapparat mit einem brutalen Einsatz von Militär, Polizei und Spitzeln, denen es innerhalb weniger Monate gelang, die gesamte Bewegung unter Kontrolle zu bringen und als politischen Faktor auszuschalten (Gitermann 1949; Bd. III, 234). Der ersehnte Volksaufstand aber blieb aus. Wenn auch die Bauern sich durchaus nicht gänzlich ablehnend gegenüber den Argumenten der Narodniki verhielten – viele ihrer Forderungen, wie die nach Aufteilung des Landes, waren ja schließlich auch ihre eigenen – so beurteilten sie jedoch die Erfolgsaussichten einer revolutionären Erhebung höchst skeptisch, weil sie es vor allem für nahezu unmöglich hielten, die Dorfbevölkerung eines so zersplitterten Landes wie Rußland gleichzeitig für den Aufruhr zu mobilisieren (Gitermann 1949; Bd. III, 234). Hinzu kam, daß auch die Parole vom Sturz des Zaren bei vielen, die noch auf das ‘echte’, bislang von der ministeriellen Bürokratie zurückgehaltene Manifest des Zaren hofften, das die ‚wahre’ Befreiung verkünden würde, auf wenig Verständnis stieß; zu groß war die Fixierung auf das einzige Symbol, das neben der Kirche die Einheit des Landes verbürgte, zu stark die Macht einer jahrhundertealten Unterdrückung, als daß der russische Bauer bereit und in der Lage gewesen wäre, sich gleichsam über Nacht von ihr zu lösen und im Staate und in der Religion, wie die Aufklärer forderten, sein eigenes, ihm entfremdetes Wesen zu entdecken.

An dieser grundsätzlich indifferenten, von den Sozialdemokraten schließlich verachtungsvoll als erzkonservativ diffamierten Haltung des Muschiks vermochten auch die verzweifelten Terroraktionen gegen die Vertreter der Dynastie und der herrschenden Klasse nichts zu ändern, zu denen der Populismus nach dem Scheitern der Landagitation Zuflucht nahm. Trotz aller Publizität, die ihm die Attentatsserien der Jahre 1878/79 verschafften, blieb der Populismus eine Intellektuellenbewegung, abgeschnitten vom Volk, und dies nicht nur aufgrund staatlichen Terrors. Die Bauern, so sollte sich sehr bald zeigen, waren nicht für die Verwirklichung von Ideen zu haben, sondern nur für die Erfüllung ihres dringendsten, unmittelbarsten Bedürfnisses: dem nach Land – und gerade dies sollte in seiner Isoliertheit und Abstraktheit schließlich zum eigentlichen Problem der russischen Revolution werden.

Aber greifen wir nicht vor. Zurückgeworfen auf sich selbst, erlebte der Populismus sehr bald einen theoretischen wie praktischen Schrumpfungsprozeß, der ihn letztlich in staatssozialistisches Fahrwasser trieb. Hatte er schon zuvor seine eigentliche Aufgabe darin gesehen, die ‚sozialistische’ Vergangenheit Rußlands zu dessen Zukunft zu machen und daher alle zerstörenden Einflüsse von außerhalb abzuwehren – eine im eigentlichen Sinne des Wortes reaktionäre Haltung, die gerade nicht in der Entwicklung kämpfte, sondern nur gegen sie – so beschränkte er sich nun, nach der Zerschlagung aller Ansätze zur praktischen Politik, auf die metaphysische Absicherung der ‚obschtschina’. Woronzow, Danielson, Michailowski u. a. stellten in den achtziger Jahren die These auf, daß eine Entwicklung des Kapitalismus im westeuropäischen Maßstab in Rußland ausgeschlossen sei. Die russische Industrie, so argumentierte Woronzow, sei zwar imstande, alle primitiven Formen der Gütererzeugung zu vernichten und einen großen Teil der russischen Bevölkerung zu pauperisieren, doch könne sie keine neuen Erwerbsmöglichkeiten schaffen, da sie aufgrund der begrenzten Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes und der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht expandieren könne. Der Kapitalismus würde daher in Rußland nur ein fremder Gast bleiben und die Struktur der traditionalen Gesellschaft nur sehr langsam und oberflächlich zu durchdringen vermögen – eine These, die von Danielson (Nikolaion), dem russischen Übersetzer des ‚Kapital’, zu der Behauptung zugespitzt wurde, der russische Kapitalismus würde auf die Zirkulationssphäre beschränkt bleiben, während die eigentliche Warenproduktion weiterhin vorkapitalistisch betrieben würde. Der russische Staat – und dies war der eigentliche Springpunkt der staatssozialistischen Schwundstufe des Populismus – sollte daher den ,Mir’ in die Lage versetzen, unter Benutzung der westlichen Technik auch die industrielle Produktion zu organisieren (Gitermann 1949; Bd. III, 320 ff. und Mandelbaum 1929; XXIII).

Genau hier aber lag das eigentliche Problem. War es denn tatsächlich so, daß der Weltmarkt, wie Woronzow, Danielson und heute auch Dutschke behaupten, gar keine bzw. nur unwesentliche Modifikationen auf die traditionale russische Produktionsweise ausübte und unter der ,Hülle’ einer “Pseudokapitalisierung” (Dutschke 1974; 130) der archaische ,Kern’ unangetastet lag? Konnte Rußland aus eigener Kraft, auf der Basis seiner ‚urkommunistischen’ Tradition und mit Hilfe einer bloßen Übernahme der westlichen Technik – Dutschke zufolge ein Set von beliebig auswechselbaren Instrumenten (1974; 63) – den Sprung zum Sozialismus schaffen? Marx und Engels – darauf wäre gegen die allzu umstandslose Einvernahme der ‚Klassiker’ durch Dutschke zu insistieren – verneinten diese Frage, und zwar aus guten Gründen. Wohl erklärte Marx in seiner Antwort auf den Brief von Vera Sassulitsch, daß die “Dorfgemeinde den Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands” bildet, sobald es gelänge, “die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen”, zu beseitigen (MEW 35; 167), doch war dies eine Überlegung, die von Anfang an in eine übergreifende Konzeption einer gesamteuropäischen Revolution eingebettet war – eine Konzeption, die nach Dutschke gerade das Kennzeichen der vulgärmaterialistischen Depotenzierung der marxschen Revolutionstheorie sein soll (1974; 123).

Wenn Marx und Engels den Gedanken der Narodniki aufnahmen, die urkommunistischen Institutionen Rußlands direkt in eine kommun istische Gesellschaft zu transformieren, so taten sie dies unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß sich die russische Revolution erstens binnen kürzester Zeit vollzöge, daß sie zweitens aber von einer proletarischen Revolution im Westen begleitet würde [ 9 ] . Blieben diese Bedingungen aus, “fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfalle des kapitalistischen Systems durchzumachen” (MEW 19; 108). Daß Rußland es schaffen könnte, die urkommunistischen Institutionen zu bewahren und in einer höheren Stufe der Produktion im dreifachen dialektischen Sinne des Wortes ‚aufzuheben’, dies konnte nach Marx’ und Engels’ übereinstimmender Auffassung “nur dann geschehen, wenn in Westeuropa noch vor dem gänzlichen Zerfall des Gemeinde-Eigentums eine proletarische Revolution siegreich durchgeführt wird …” (MEW 18; 565). Sich selbst überlassen, entwickelte der ‚Mir’ aus sich heraus – und nicht nur bedingt durch den zersetzenden Einfluß der kapitalistischen Umwelt – nur seine eigene Auflösung, nicht aber, wie die Narodniki supponierten, eine sozialistische Gesellschaft (Mandelbaum 1929; XIX).

Was Marx jedoch schon in den Sassulitsch-Briefen befürchtet hatte und Engels in den folgenden Jahren immer deutlicher herausarbeitete: das Ausbleiben jener einmaligen Chance, die an eine ganz spezifische historische Konstellation gebunden war, zeichnete sich gegen Ende des 19. Jhs. als der für Rußland wahrscheinlichste Entwicklungsgang ab (MEW 18; 668: MEW 38; 366, 468: MEW 39: 37). Zwar bewahrheitete sich zunächst die These der Narodniki, daß der Kapitalismus in Rußland nur eine Scheinblüte erlebte und keineswegs zu jenem dominierenden Verhältnis wurde, das Lenin schon im Jahre 1893 ganz Rußland als vom Gegensatz Bourgeoisie / Proletariat beherrscht erscheinen ließ, doch war es ebensowenig zutreffend, daß die ,Pseudokapitalisierung‘ das Wesen der sozioökonomischen Struktur des Landes, wie Dutschke meint, unangetastet ließ (1974: 130).

Faktisch war, was Dutschke als den Ansatzpunkt einer alternativen, nicht kapital-immanenten Strategie der russischen Revolution bezeichnet – die Feldgemeinschaft – spätestens seit den achtziger Jahren zum Untergang verurteilt. Die zaristische Regierung, die lange Jahre hindurch am ,Mir’ als der eigentlichen Stütze der ständischen Gesellschaftsordnung festgehalten hatte, begann etwa seit der großen Hungerkatastrophe von 1891 ihre Agrarpolitik grundlegend zu ändern. 1893 bestimmte ein Erlaß, daß Umteilungen nur noch alle zwölf Jahre stattfinden sollten, um so die aufgrund der chaotischen Gemengelage äußerst niedrige Produktivität der Parzellen zu verbessern (Brutzkus 1925; 70 und Robinson 1961:217).

Die Hauptfunktion des ,Mir’, aus dem auszuscheiden für den einzelnen Bauern freilich immer noch schwer blieb, wurde damit wichtigen Einschränkungen unterworfen, mit dem Ziel, die ungünstigen Auswirkungen des Gemeindegrundbesitzes auf die technische Entwicklung der Landwirtschaft einzuschränken. 1899 wurde die Solidarhaft für die Steuerentrichtung bei den bäuerlichen Eigentümern und 1903 auch für die Mitglieder der Dorfgemeinde beseitigt und damit die wesentliche Voraussetzung für einen Differenzierungsprozeß innerhalb der Bauernschaft geschaffen (Brutzkus 1925; 88). Als 1902 vor allem in den feldgemeinschaftlich organisierten Gebieten schwere Agrarunruhen ausbrachen, die auf die rasche und entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes abzielten (Robinson 1961; 138 ff.), setzte sich auch innerhalb der russischen Oligarchie die Erkenntnis durch, daß der ,Mir’ nicht nur konservierende Funktionen hatte. Witte, einer der führenden Köpfe der zaristischen Politik, der noch 1893 die Feldgemeinschaft verteidigt hatte, erklärte jetzt: “Wehe dem Lande, das in der Bevölkerung nicht das Gefühl für Rechtlichkeit und Eigentum gepflegt, sondern allerhand Kollektiveigentum eingeführt hat, besonders wenn dies nicht einmal einen bestimmten Ausdruck im Gesetz erhalten hat. sondern bald durch einen unbekannten Brauch, bald einfach nach Gutdünken reguliert wird. In einem solchen Lande können früher oder später einmal traurige Ereignisse eintreten, die vielleicht ihresgleichen nicht haben werden” (nach Brutzkus 1925:89).

In dieser Auffassung durch die revolutionäre Welle der Jahre 1905/1906 bestärkt, entwickelte die zaristische Regierung nun ein Agrarprogramm, das auf eine Stützung des Großgrundbesitzes vermittels der Schaffung einer neuen Schicht kleiner Grundbesitzer abzielte. Durch eine gewaltige Ausdehnung der Kreditvergabe durch die Bauernbank gingen 1905-1917 etwa zehn Mill. Desjatinen Land in bäuerliche Hand über (l desj. = 1,09 ha.), eine Zahl, deren Dimension sich etwa daran bemessen läßt, daß 1916 der private Großgrundbesitz ca. 75 Mill. Desjatinen besaß (Brutzkus 1925: 82 und Volin 1970; 133). Auch der ,Mir’ wurde jetzt in seiner Substanz angegriffen. In verschiedenen Erlässen dekretierte die Regierung, daß in allen Gemeinden, in denen seit längerem keine periodischen allgemeinen Umteilungen mehr erfolgt waren, die Parzellen nicht mehr der Gemeinde, sondern den jeweiligen Eignern als Privatbesitz gehören sollten; in allen übrigen Gemeinden, in denen die Umteilung realiter stattfand, sollte es den einzelnen Bauern möglich sein, ihr Anteilsland aus der Feldgemeinschaft ohne Rücksicht auf deren Willen auszuscheiden, wobei das ausgeschiedene Land darüberhinaus dem Familienoberhaupt als persönlicher Besitz zu eigen sein sollte, statt wie bisher der ganzen Familie zu gehören; damit verbunden, sollte eine gründliche Flurbereinigung durchgeführt werden, um auf diese Weise die Bildung großer zusammenhängender Betriebsflächen voranzutreiben, wovon man sich eine rasche Verbesserung der Ertragslage erhoffte (Brutzkus 1925; 91).

Wenngleich nun die Zahlenangaben über die Auflösung des ‚Mir’ stark differieren, so ist doch unübersehbar, daß die Stolypinschen Reformen eine tiefgreifende Veränderung der agrarischen Strukturen Rußlands zur Folge hatten. Während sich schon vor 1905 von den etwa 12 Mill. bäuerlichen Haushalten rund 2,8 Mill. in privatem Besitz befunden hatten, gegenüber etwa 9,2 Mill., die in Umteilungsgemeinden zusammengeschlossen waren (Robinson 1961; 215), veränderte sich nun dieses Verhältnis durch die Reform weiter zugunsten des Privatbesitzes. Bis. zum 1. Januar 1916 – und dies sind noch die am niedrigsten gegriffenen Zahlen – schieden etwa 2,5-2,6 Mill. Haushalte aus dem ,Mir’ aus (Volin 1970; 105; Brutzkus 1925, 94, und Male 1971: 19), so daß sich schließlich, wie die meisten Schätzungen lauten, am Vorabend des Ersten Weltkriegs Gemeinde- und Privatbesitz in etwa die Waage hielten. [ 10 ] “In many thousands of communes”, so faßt G. T. Robinson diese Entwicklung zusammen, “the relation of peasant with peasant were altered fundamentally, and the mark of this change was written upon the very face of nature: the old land-relations were dissolving, the old scattered Strips of plow-land were being assembled into individual farms, and the countryside was be-ginning to lose that minutely patched and quilted aspect so unfamiliar to the American eye”(1961; 208).

Zwar hielt ein großer Teil der Bauernschaft, besonders im Norden und in Mittelrußland, noch zäh an der Feldgemeinschaft fest, doch sicherlich weniger, weil man, wie Dutschke meint, zum agrikolen Urkommunismus zurückstrebte, sondern weil die Flurbereinigungen in den meisten Fällen zugunsten der Austretenden durchgeführt und der Gemeinde auf diese Weise große zusammenhängende Gebietsflächen entzogen wurden, sodaß die Zurückbleibenden sich nur durch gegenseitige Unterstützung über Wasser halten konnten. Trotz dieser Fortexistenz solidarisch-mutualistischer Strukturen aber, und dies scheint mir entscheidend, war es längst nicht mehr die ,urkommunistische’ Einheit von Individuum und Gesellschaft, die die ländliche Produktion Rußlands prägte – sofern es eine solche Einheit hier überhaupt jemals gegeben hatte [ 11 ] –, sondern die auf Tauschwertbeziehungen gegründete Warenproduktion, die zwar noch nicht – dies gegen Lenin – in eine bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise übergegangen war, wohl aber bereits durchgängig von Wertstrukturen geprägt war.

Hatte es sich vor der Reform von 1861 in der Landwirtschaft überwiegend um einfache Reproduktion gehandelt, so waren die Bauern durch die spezifischen Ablösungsbedingungen dazu gezwungen, Geld zu verdienen, um die hohen Schulden zu tilgen, die auf ihren Parzellen lasteten – was sie wiederum nur konnten, indem sie für den Markt produzierten, der als einheitlicher durch den Eisenbahnbau soeben erst hergestellt worden war (Gitermann 1949; Bd. III, 333 ff.). Indem es auf diese Weise nicht mehr der unmittelbare Bedarf war, für den die Bauern produzierten, sondern ein anonymer Markt, auf dem sie ihre Produkte gegen Geld veräußerten, setzte sich auch in der russischen Dorfgemeinde mehr und mehr das Wertverhältnis durch, das freilich zunächst noch auf die Ebene der Zirkulation beschränkt blieb und noch nicht in seinen ,Grund’ zurückging, indem es die Produktion revolutionierte. Letzteres war ein Prozeß, der sich auf die bescheidene Industrie beschränkte, die sich an der Oberfläche herausgebildet hatte.

Dennoch, um bürgerliche Denk- und Verhaltensmuster zu etablieren, bedurfte es jenes ‚Rückgangs in den Grund’, wie Marx ihn am Beispiel des westeuropäischen Kapitalismus beschrieben hatte, auch gar nicht. Schon daß sich die gesellschaftliche Reproduktion zu einem großen Teil über den Austausch von Waren vermittelte, war nach Marx ein Indiz für jene ‚Selbstzerrissenheit’ der gesellschaftlichen Arbeit, die, um ihre Gesellschaftlichkeit zu betätigen, eines vermittelnden Mediums bedurfte, das schließlich mehr und mehr zum eigentlichen Motor der ganzen Bewegung wurde und sich die Individuen, die partikularisierten und atomisierten Warenbesitzer unterwarf. Indem sich die Individuen unter den Bedingungen der Warenproduktion, wie Marx zeigte, nur noch als Agenten derselben, allgemeinen gleichgültigen Arbeit verhielten und nicht mehr als Akzidenzien des ursprünglichen Gemeinwesens, mußte sich auch ihr gesellschaftliches Verhältnis als sachliches, äußerliches Dasein ihnen gegenüber festsetzen – und sie schließlich subsumieren – eine Struktur, in der bereits in nuce, wie Marx hervorhob, die gesamte Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen und die Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion enthalten war, wie sie die voll entfaltete kapitalistische Produktionsweise charakterisierte (MEW 25; 887): “Das Geld ist damit unmittelbar zugleich das reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehens für alle ist, und zugleich das gemeinschaftliche Produkt aller. Im Gelde ist aber, wie wir gesehen haben, das Gemeinwesen zugleich bloße Abstraktion, bloße äußerliche, zufällige Sache für den Einzelnen, und zugleich bloß Mittel seiner Befriedigung als eines isolierten Einzelnen” (Marx, Grundrisse; 137).

Marx zufolge war mit der bloßen Ausdehnung des Austauschsystems, lange bevor das Kapital die gesamte Gesellschaft erfaßt und den Produktionsprozeß der reellen Subsumtion unterworfen hatte, die gesellschaftliche Grundlage für die Genesis jener Denkformen und Kategorien gegeben, die, wie das Denken in äquivalenten und abstrakten Quantitäten, das bürgerliche Recht etc., zwar erst in der voll entfalteten bürgerlichen Gesellschaft ihre eigentliche Basis besaßen, jedoch auch schon in den historisch früheren Epochen weitgehend das Bewußtsein der Produktionsagenten bestimmten. Die Zirkulation, so zeigte Marx, war konstitutiv für das bürgerliche Bewußtsein: in ihr, die auf der Gleichsetzung von wesentlich Ungleichem beruhte, entstanden jene Ideen von Freiheit und Gleichheit, die den plebejisch-bäuerlichen Massenbewegungen als Zielvorstellungen ihres Handelns vorschwebten, und die doch gerade in ihrer Abstraktheit nicht die Aufhebung der sich entwickelnden Warenproduktion intendierten, sondern lediglich die Beseitigung der aus ihr entstehenden Ungleichheit – ein Vorhaben, auf dessen immanente Dialektik schon Babeuf in seiner Kritik an der ‚loi agraire’ hingewiesen hat. [ 12 ] Freiheit und Gleichheit – dies waren nach Marx Prinzipien, die die bürgerliche Gesellschaft nicht nur in keiner Weise zu transzendieren vermochten, die vielmehr allererst aus ihr entsprungen waren und in ihr ihre einzig mögliche Verwirklichung gefunden hatten: “Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit, Gleichheit und Freiheit sind also” – weit davon entfernt, Prinzipien einer .urkommunistischen’ Gesinnung zu sein – “nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit” (Marx 1857/58: 156).

Der tatsächliche Verlauf der russischen Revolution und der alsbald danach einsetzende erbitterte Krieg zwischen Stadt und Land zeigen deutlich, wie weit diese Vorstellungen bereits das Bewußtsein der bäuerlichen Produzenten bestimmten. Obwohl die Forderungen des Populismus durchaus nicht, wie gegen Lenins gehässige Polemik einzuwenden ist [ 13 ] , die bloße Unmittelbarkeit des kleinbürgerlichen, nur auf Privatbesitz gerichteten Bewußtseins widerspiegelten, vielmehr gerade auf die Überwindung desselben, die Schaffung einer sozialistischen, auf kollektiver Produktion beruhenden Gesellschaft abzielten, vermochten doch gerade diese weitergehenden Forderungen sich innerhalb der bäuerlichen Massenbewegung nicht durchzusetzen. Der Populismus wurde zum Ausdruck der russischen Agrarrevolution nur dort, wo er sich auf die Artikulation des drängendsten und unmittelbarsten Bedürfnisses der Bauern beschränkte: dem nach Beseitigung der erdrückenden Landverknappung durch Nationalisierung und Egalisierung des Grundbesitzes. Und dies war, trotz aller antikapitalistischer Momente, wie sie zweifellos in regional begrenzten Bewegungen wie der Machnowtschina auftauchen mochten (Arschinoff 1969), eine genuin bürgerliche Forderung. [ 14 ] Was nicht hieß, daß sie nicht darüber hinaus geführt werden konnte, daß die Bauern a priori und für alle Zeiten Bürger waren, aber eine wirkungsvolle Landagitation erwies sich schließlich nicht nur aufgrund der theoretischen Prämissen Lenins als unmöglich, sondern war vor allem angesichts der zaristischen Repression nahezu ausgeschlossen: Selbst die Sozialrevolutionäre, die Nachfolger des Populismus, brachten es hier zu keinen nennenswerten Erfolgen (vgl. Robinson 61).

Tatsächlich hatte die russische Agrarrevolution aus objektiven Gründen, und nicht nur wegen der kautskyanischen Borniertheit Lenins, keine Chance. In den Gebieten der akuten Krise war das gesamte nichtbäuerliche Land, zieht man die Waldgebiete ab, etwa höchstens ein Drittel bis zwei Fünftel mal so groß wie der bäuerliche Besitz, so daß bei einer Aufteilung, wie sie faktisch im Frühjahr 1918 erfolgte, der Landzuwachs pro Kopf 20 % nicht überstieg, in vielen Fällen sogar darunter blieb (Brutzkus 1925; 151). Um zu einer effektiven Landverteilung zu kommen, die für alle eine befriedigende Lösung geboten hätte, hätte es eines gewaltigen Umsiedlungsprogrammes bedurft, da die Landknappheit regional außerordentlich stark differierte – und wie hätte ein solches Programm bei Bauern, die bereits erste Vorstellungen von Privateigentum entwickelt hatten, ohne staatlichen Zwang, der doch nach Dutschke als erstes hätte beseitigt werden sollen , auch nur die geringste, Aussicht auf Erfolg haben können? Sicher, die stalinsche Zwangskollektivierung war ein Akt äußerster Brutalität und auf ungeheuerlichen, kaum zu rechtfertigenden Opfern gegründet (Medwedew 1974). Aber was war sie anderes als die Konsequenz aus dem populistischen Egalitarismus, der das Agrarproblem, statt es zu beseitigen, nur weiter verstärkt hatte?

Nicht Lenin und die Bolschewiki hatten diese Situation herbeigeführt – darauf ist gegen Dutschkes überzogenen Subjektivismus, der mitunter hart an die Grenze einer Verschwörungstheorie gerät, zu insistieren –, sondern die Struktur der russischen Agrargesellschaft selbst hatte schließlich als einzigen Ausweg die stalinsche Lösung gefordert: was diese freilich, dies gegen die historisierenden Versuche, den Bolschewismus für den Sozialismus zu retten, längst noch nicht zu einer sozialistischen machte. Die Agrarrevolution vom Frühjahr 1918, auf die die Bolschewiki keinerlei Einfluß hatten, die dem spontanen, unmittelbaren Bedürfnis der Bauern entsprang, war die Realisierung des Traums von der ‚schwarzen Umteilung’, war die Verwirklichung des ‚asiatischen Erbes’. Denn ein anderes, nichtverdinglichtes, nicht durch bürgerliche Kategorien verunstaltetes ,Erbe’ gab es allenfalls noch in der Illusion, nicht aber mehr in der russischen Wirklichkeit. So wenig zu bestreiten ist, daß Lenin von Anfang an in den Bauern (wie übrigens auch in den Arbeitern) nur ein Instrument seiner eigentlichen Zielvorstellung sah: der Entwicklung kapitalistischer Großproduktion im Rahmen einer ‚sozialistischen’ politischen Form – so war doch das Ergebnis der russischen Revolution auf dem Lande: die Etablierung bürgerlicher Rechtsverhältnisse und damit die Herstellung gleicher Konkurrenzvoraussetzungen, nicht das Ergebnis einer von außen kommenden Vergewaltigung, der Durchsetzung eines der russischen Wirklichkeit wesentlich fremden Prinzips. Es war vielmehr die Verwirklichung dessen, wohin diese Wirklichkeit von sich aus drängte. Und dies war ein Determinismus, der real produziert worden war und nicht von den Subjekten beliebig aufgesprengt werden konnte.

Es kennzeichnete die russische Revolution, daß die Politik der Bolschewiki, bei allen jakobinischen Grundstrukturen (und vielleicht gerade deswegen) den zu dieser Zeit wahrscheinlich einzig gangbaren Weg bezeichnete. Angesichts der zentrifugalen Tendenzen im Innern und der imperialistischen Bedrohung von außen wurden die Bolschewiki geradezu zwangsläufig zu Maßnahmen gedrängt, wie sie schon die französische Montagne der Grande Revolution ergriffen hatte, um der sozialen Desintegration Herr zu werden. Wie die eiserne Entschlossenheit der Montagne, die Permanenz des Schreckens im Herbst 1793, die einzige Klammer bildete, die das Land vor dem völligen Auseinanderbrechen bewahrte, so stellte auch der revolutionäre Wille der Bolschewiki in den Wirren des Bürgerkriegs die einzige Kraft dar, der es gelang, die divergierenden Interessen zu koordinieren und zum entschlossenen Widerstand gegen die Konterrevolution zu vereinen – freilich unter Einsatz von Mitteln, und hier wiederum hat Dutschke völlig recht, die schließlich zur Verdrängung des eigentlichen Ziels der Revolution: der Emanzipation aller Produzenten führen mußten. [ 15 ]

Aber die ‚Subjekte’ hatten keine andere Wahl. Nicht sie waren es schließlich, die aufgrund eines falschen ‚Plans’, einer unangemessenen Revolutionsstrategie [ 16 ] , die russische Revolution erst wirklich vom Weltmarkt abhängig gemacht hatten. Diese Abhängigkeit bestand bereits, existierte als höchst realer Zwang, sich gegenüber der wirtschaftlichen und militärischen Bedrohung durch den Imperialismus zu behaupten, der mit Waffen, Geld und Truppen die weiße Konterrevolution unterstützte.

Wollten sie die politischen Errungenschaften der ‚Arbeiter- und Bauerndemokratie’ bewahren – Errungenschaften, die freilich rasch von dem sich zum Allgemeininteresse aufspreizenden Partikularinteresse der Bolschewik! liquidiert wurden –, so hatten die Bolschewik! angesichts einer Gegenrevolution, deren zentraler Fehler darin bestand, daß sie sich starr von der alten ständischen Ordnung her definierte, anstatt die Agrarrevolution anzuerkennen und so die Bauern wieder auf ihre Seite zu ziehen, eine einzige Chance: binnen kürzester Zeit die alte Idee der Narodniki zu verwirklichen, auf der Basis einer kollektivwirtschaftlichen Agrarordnung und unter Übernahme der westlichen Technik den Aufbau des Sozialismus in einem Land zu vollziehen – ein Programm, das unter den gegebenen historischen Bedingungen allerdings nur mit Hilfe eines starken Nationalstaates durchgeführt werden konnte, der, wie der Hobbes’sche ‚Leviathan’ in der Frühphase der kapitalistischen Akkumulation als disziplinierende Zwangsinstanz im Innern die Bürger zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe anhalten und nach außen das Land gegen die Absichten der imperialistischen .Räuber’ schützen sollte. Dies war eine Ausgangsposition, die schließlich auch die besten sozialistischen Zielsetzungen bis zur Unkenntlichkeit verzerren mußte.

Kapitalistische Technologie und soziale Emanzipation – Aporien der subjektivistischen Objektivismuskritik

Unter den restriktiven Bedingungen einer wie zum Hohn als ‚sozialistisch’ bezeichneten ursprünglichen Akkumulation hatte die russische Revolution von Anfang an keine Chance, eine wirkliche Alternative zum hochindustrialisierten Kapitalismus zu entwickeln. Indem Dutschke diese realen historischen Schranken vernachlässigt, gerät seine Interpretation zum schlechten Romantizismus, der die absolute Geschichtsmächtigkeit der Subjektivität einzig deshalb behaupten kann, weil er die wirkliche Geschichte beständig ausklammert. Einmal zum Weltmarkt erweitert, wie sie es spätestens seit der Großen Depression von 1873 war, die nicht mehr allein von England ausging (Neusüß 1972; 191), war die kapitalistische Produktionsweise zur alles beherrschenden Totalität geworden, die alle von ihr vorgefundenen Voraussetzungen zum Resultat ihres Daseins gemacht hatte. Auch dort, wo die Bewegung des Kapitals traditionale Produktionsweisen konservierte und so vermeintliche ‚nicht-kapitalistische’ Räume offenließ, waren dies doch Räume innerhalb der kapitalistischen Totalität, durch deren Existenz modifiziert und damit nicht länger jenes ,Ding an sich’, jener ‚Block’, der sich, wie Dutschke glaubt, prinzipiell gegenüber der Rationalität der Kapitalverwertung sperrte.

Wohl mochte es, wie in einigen Regionen Rußlands, in Spanien 1936 oder in China Agrarbewegungen geben, die partiell und für Momente diesen Zusammenhang zu sprengen vermochten. Aber indem es ‚ungleichzeitige’ Bewegungen waren, die isoliert und lokal begrenzt blieben und schließlich gezwungen waren, sich gegenüber dem Druck des hochentwickelten Imperialismus zu behaupten, mußten sich zwangsläufig ihre momentanen Vorteile – die Überlegenheit der ländlichen Guerilla gegenüber der westlichen Militärmaschinerie, die breite Mobilisierung des Volkes im Dienste der ersten Industrialisierungsversuche – in Nachteile verwandeln. So eindrucksvoll (und bei vielen westlichen Intellektuellen Begeisterung erweckend) die chinesische Kleinindustrie und die kulturrevolutionären Bestrebungen zur Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit auch sein mochten: langfristig gesehen waren es nur die ersten tastenden Gehversuche, von bedrückender Hilflosigkeit angesichts einer Technik, die ihre Überlegenheit gerade darin besaß, daß sie gänzlich jede Verbindung zur Handarbeit abgeschnitten hatte, reine Leistung der verselbständigten Kopfarbeit war, deren in der großen Maschinerie vergegenständlichte Resultate jede Illusion eines handelnden, konstituierenden Subjektes zunichte machten.

Der Imperialismus, dies war und ist nicht bloß, wie Dutschke offenbar meint, ein äußerliches Verhältnis, dem sich ein Land allei n mit der nötigen Willensanstrengung und einigen Strukturveränderungen auf sozialer und politischer Ebene entziehen kann. Er ist ein Produktionsverhältnis, das nicht nur in formalen, juristisch fixierten Eigentumsstrukturen besteht, sondern in einer ganz bestimmten Technik, einer ganz bestimmten Arbeitsteilung, einer ganz bestimmten Art zu produzieren materialisiert ist, und das folglich auch dort seine Gewalt keineswegs verliert, wo man wähnt, einzig aufgrund veränderter institutioneller Rahmenbedingungen das kapitalistische Instrumentarium zur Realisation emanzipatorischer Zwecksetzungen verwenden zu können.

Wer die kapitalistische Technik übernimmt, ganz gleich unter welchen Bedingungen, übernimmt die ‚Naturalform’ (Bahr) des Kapitals – denn die Abstraktheit kapitalistischer Vergesellschaftung der Arbeit, und dies weiß mitunter auch Dutschke (1974; 146), besteht nicht in einer den Arbeitsprozeß bloß überlagernden Logik der Verwertung, die gleichsam bruchlos und per Dekret abgezogen werden könnte, sie ist vielmehr real, im Geld wie in der Maschinerie handgreifliche Wirklichkeit, gegenständlich gewordene Ungegenständlichkeit. Anstatt, wie Dutschke meint, ein beliebig verwendbares Ensemble von Gebrauchsmitteln zu sein, geschaffen von einem souveränen Subjekt, das im Stoffwechselprozeß mit der Natur seine Bedürfnisse befriedigt und durch seine Arbeit gewissermaßen listig einen höheren weltgeschichtlichen Zweck realisiert, ist die Technik Mittel nur für ein ökonomisches Verhältnis, das, als spezifisch kapitalistisches einzig den Erfordernissen der Mehrwertproduktion folgt und weder bewußt noch “contre coeur” die Höherentwicklung der Gattung betreibt: “Die Immanenz der geschichtlichen Entwicklung als wechselnde, sich widersprechende und ihre technische Gestalt verändernde Verhältnisse des Kapitals, besser: der Besonderheiten der Selbstverwertung des Werts als gesellschaftliches Verhältnis – diese Immanenz hat keineswegs eine humanistische Richtung in ihrer Entwicklung, weil sie gar keinen Bezug auf das Bedürfnis der Subjekte hat, vielmehr sich obendrein die Natur dieser Bedürfnisse anmißt. Die kapitalistische Entwicklung hat gar keine durchgängige Richtung, die mehr beinhaltet als eben – Veränderung, Anderswerden der gerade vorherrschenden Struktur”. [ 17 ]

Dutschke jedoch möchte die in die Entwicklung der Produktivkräfte hineinprojizierte Richtung auf “Humanität”, die das Kapital in einer Art mystischen Verschwörung gegen sich selbst einzuschlagen genötigt sein soll, als Garantie der Revolution ebensowenig missen wie die Orthodoxie. Und genau an dieser Stelle wird nun allerdings der Scheincharakter von Dutschkes Alternative zum ‚preussischen Sozialismus’ Leninscher Provenienz sichtbar, wird deutlich, wie sehr im Ergebnis die ‚subjektivistische’, auf Rettung des Subjekts bedachte Kritik an den ‚unmenschlichen’ Strukturen der objektivistischen Konzeption mit dem Gegenstand ihrer Kritik zusammenfällt. Gegen Mandelbaum, der gegenüber den (auch von Marx durchaus nicht in der erforderlichen Weise kritisierten) Vorstellungen der Narodniki völlig zu recht darauf verweist, daß die kapitalistische Maschinerie mit einer spezifischen – eben kapitalistischen – Produktionsrationalität verbunden und daher nicht beliebig auf andere Produktionsweisen übertragbar sei, glaubt Dutschke auf das Argument rekurrieren zu können, daß die Technik, obwohl unter kapitalistischen Bedingungen aktuell die Entfremdung verstärkend, ‚an sich’ fortschrittlichen Wesens sei: “Die Maschinen werden als gebrauchswertorientierte Instrumente, als Objekte des agrarischen Weges zum Kommunismus angesehen. Sind also nicht die verdinglichenden Subjekt-Objekt-Zusammenhänge des westeuropäischen Konkurrenzkapitalismus, der westeuropäischen Zivilisations-, Verdinglichungs- und Entfremdungs-Begründung der modernen bürgerlichen Gesellschaft‘” (1974; 63).

Tatsächlich aber hat eine solche Trennung von Arbeits- und Verwertungsprozeß, wie sie Dutschke, wie aller Vulgärmarxismus vor ihm, vornimmt, folgenschwere Konsequenzen. Indem Dutschke die Naturalform des Kapitals, die kapitalistische Technik aus der Kritik ausklammert und darüberhinaus zur Vergegenständlichung des menschlichen ‚Wesens’ erklärt, die es lediglich von ihrer bornierten Form zu befreien gelte, schrumpft sein kritischer Ansatz, wie paradigmatisch etwa auch an Habermas zu studieren ist (Habermas 1968,55 ff.), auf eine bloße “Dialektik der Sittlichkeit”, die die technokratische Pervertierung des Sozialismus durch eine Reform des technokratischen Bewußtseins überwinden möchte. Eben dies soll die Beschwörung der ‚konkreten Utopie’, des revolutionären Willens leisten: Ähnlich wie vor ihm bereits Bloch, der in seinem ‚Geist der Utopie’ an Marx bemängelt hatte, daß dieser zwar die notwendigen ökonomisch-institutionellen Änderungen bestimmt habe, jedoch “dem neuen Menschen, dem Sprung, der Kraft der Liebe und des Lichts, dem Sittlichen selber” noch nicht die “wünschenswerte Selbständigkeit in der endgültigen sozialen Ordnung” zugewiesen habe (Bloch 1973; 303) – übrigens ein alter Topos bürgerlicher Marxkritik seit den neukantianischen Sozialisten –, geht auch Dutschke davon aus, daß der Gang des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, so notwendig er historisch gesehen auch gewesen sein mochte, nicht nur ein Fortschritt war, sondern zugleich zu einer verhängnisvollen Vernachlässigung der ‚subjektiven’ Dimension geführt hatte: “Marx und Engels versuchten, diese Utopien (sc. der frühen Sozialisten, S. B.) auf die Begriffe der politischen Ökonomie zu bringen, die Träume zurückzuholen in die Realität der Gesellschaft und der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung, darum also ‚wissenschaftlicher Sozialismus’. Wobei dann der Traum vom Kommunismus, der mehr ist als der Vorentwurf der in der derzeitigen Realität angelegten Entwicklung, allmählich unterging” (Dutschke, 1974; 333).

Indem Marx, Dutschke zufolge, nur den Begriff der kapitalistischen Gesellschaft entfaltete, ohne die sozialistischen Freiheiten positiv-utopisch zu bestimmen, mußte es notwendig dazu kommen, daß die sozialistische Bewegung der kapitalistischen Verdinglichung verhaftet blieb und sie gleichsam nur negativ wiederspiegelte – eine These, wie sie während der Studentenbewegung auch von deren wohl reflektiertestem Theoretiker, Hans-Jürgen Krahl, mit Nachdruck vertreten worden ist. [ 18 ] Aber während Krahl noch meinte, angesichts der “ökonomistischen Interpretation” des Arbeitsbegriffs in der Kritik der politischen Ökonomie einen gänzlich neuen, auf der “Produktion von Sittlichkeit” beruhenden emanzipatorischen Begriff von Arbeit entfalten zu müssen (Krahl 1971; 388) – d. h. die Kritik der politischen Ökonomie durch eine letztlich idealistisch begründete Revolutionstheorie zu ergänzen –, ist Dutschke überzeugt, diesen emanzipatorischen Begriff im Anschluß an das marxsche Verständnis von Arbeit als der “Vergegenständlichung des historisch-ontologischen Stoffwechsels von Mensch und Natur” (1974; 20) entwickeln zu können: “Wir haben zunächst einmal den Marxschen Geschichts- und Arbeitsbegriff zu skizzieren, um nicht in die Gefahr zu geraten, geschichtliche Prozesse ihrer subjektiven Seite, der menschlichen Aktivität, des menschlichen Handelns zu berauben. Die Kategorie der .objektiven Möglichkeiten’ (Lukács), das heißt die gesellschaftliche Szenerie des aktiven Handelns würde dann ihren Sinn verlieren, wenn geschichtliche Prozesse deterministisch ablaufen, der Mensch wäre dann nicht geschichtliches Subjekt, sondern wäre nichts weiter als Objekt” (1974; 21).

Schon aus dieser Formulierung – nicht zufällig übernimmt Dutschke von Lukács genau jene Kategorie, die am meisten der Weberschen Soziologie verhaftet ist – wird nun allerdings deutlich, welchen Preis Dutschke für seine ‚Rettung des Subjekts’ bezah len muß. Anstatt, wie noch Marx, von einer Kritik der kapitalistischen Wirklichkeit auszugehen, die aus den ‚wirklichen Lebensverhältnissen’ die .verhimmelten Formen’ allererst entwickelt – und dies gilt auch für Begriffe wie ‚Subjekt’ und ‚Objekt’ –, trifft Dutschke seine Vorentscheidungen auf analytischer Ebene und setzt sich dadurch dem Odium einer bloß moralisierenden Kritik aus. Für Dutschke ist, ganz gleich, wie die Wirklichkeit aussieht, die Entwicklung immer schon geschichtsphilosophisch verbürgt: indem er ‚Arbeit’ schlechthin zur Vergegenständlichung des ‚Gattungssubjekts’ erklärt, das in der Arbeit die von ihm gesetzten Zwecke realisiert, kann er die reale Subjektlosigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses, die als daseiende Abstraktion existierende tauschwertsetzende Arbeit als unwesentliche ‚Erscheinung’ einer dahinter liegenden, ‚eigentlichen’ Wirklichkeit begreifen, die für ihn, wie für allen Idealismus, um die welterzeugende, konstitutive Subjektivität zentriert ist. Mag auch die Arbeit, so etwa ließe sich Dutschkes Gedankengang sinngemäß ausführen, im Kapitalismus noch so entfremdet und zerrissen sein, mag auch das universale Subjekt zu noch so unmenschlicher Objektivität verdinglicht werden, es kann doch nie ganz verlorengehen, ist seiner ,ontologischen’ Struktur nach immer schon mehr als die vorfindliche, ‚bloß’ empirische Situation, die es eigentlich, vermöge seiner Arbeit, immer schon transzendiert hat wenn auch ohne es zu wissen. [ 19 ] Die Arbeiter und die Arbeiterführer mögen korrumpierbar sein – nicht korrumpierbar dagegen ist die Arbeit: dieses bekannte Diktum eines staatssozialistischen Funktionärs, das exakt das Bewußtsein der auf Wertabstraktionen beruhenden Regressionsstufe des neueren Marxismus ausdrückt, könnte auch Dutschke ohne zu zögern unterschreiben.

Dutschke will die technizistische Verzerrung des Marxismus, die Reduktion von Praxis auf eine jeglichen historisch-sozialen Inhalts entkleidete Technik überwinden und durch den Rekurs auf die “sprengende Sinnlichkeit der revolutionären Praxis” (1974; 21) einen anderen, wahren Sozialismus des ‚aufrechten Gangs’ (Bloch) begründen. Aber er vermag dies doch nur, indem er hinter den Technizismus / Objektivismus zurückgeht auf eine Ontologie der Arbeit, die in ihrem Kern nicht weniger metaphysisch ist als der Naturalismus der Orthodoxie. Sieht man einmal ganz davon ab, daß der von Dutschke formulierte Arbeitsbegriff genuin kunsthandwerklichen Ursprungs ist – denn wo ließe sich in einer durch Automation, Scientific Management und Taylorisierung gekennzeichneten Produktion sinnvoll noch davon sprechen, daß hier eine ‚Selbstverwirklichung des Subjekts’ stattfände (1974; 20)? –, so scheint mir vor allem der schlecht-affirmative Zug bemerkenswert, der solche ‚Dornröschenvorstellungen’ (Bahr) mit dem Objektivismus der Orthodoxie verbindet. Indem Dutschke, in dem Bestreben, einen archimedischen Punkt zu finden, von dem aus die Welt des Kapitals aus den Angeln zu heben wäre – eine Funktion, die im Kontext seiner Argumentation gleichermaßen von der russischen ,obschtschina’ wie vom ontologischen Arbeitsbegriff erfüllt wird –, auf eine Metaphysik der Arbeit zurückgreift, die von der immer schon existenten Vernünftigkeit der letzteren ausgeht, die es bloß ins Bewußtsein zu heben gälte, schlägt die ursprünglich kritische Absicht notwendig ins Gegenteil um und wird zum Ausbruch in den Spiegel: was geändert werden soll, ist lediglich die entfremdete Form der Arbeit, nicht aber die Dominanz der Arbeit als solcher, ihr herrschaftlicher, universaler Anspruch.

Arbeit sans phrase, als Selbstverwirklichung des menschlichen Subjekts, bleibt weltgeschichtliches Prinzip par excellence – und bleibt damit genau das, was sie in ihrer kapitalistischen Gestalt geworden ist: Arbeit schlechthin, abstrakte, gegen jede besondere Bestimmtheit gleichgültige Arbeit, ‚sich auf sich beziehende Negativität’, “rein mechanische, daher gleichgültige, gegen ihre besondere Form indifferente Tätigkeit…; bloß formelle Tätigkeit, oder, was dasselbe ist, bloß stoffliche Tätigkeit überhaupt, gleichgültig gegen die Form” (Marx, Grundrisse: 204). Was Dutschke als das ‚Allerkonkreteste’ präsentiert, ist das Allerabstrakteste: daß der Mensch wesentlich über die Arbeit bestimmt wird, daß überhaupt eine Ontologie der Arbeit entstehen kann, dies ist nach Marx Resultat der modernen kapitalistischen Produktionsweise, die ‚Arbeit’ als abstrakte, allgemeine Kategorie überhaupt erst produziert hat. Arbeit sans phrase, das meint die rastlose Produktivität der bürgerlichen Gesellschaft und damit die Arbeit als Naturalform des Kapitals, als qualitätsloses, beliebig zwischen verschiedenen Produktionssphären austauschbares Moment, das für sich genommen nur als völlig Sinnloses besteht – ein Sachverhalt, den Marx eindrucksvoll im 13. Kapitel des ‚Kapitals’ beschrieben hat. Wer ,die’ Arbeit hypostasiert, hypostasiert daher das Kapital: “Arbeitsmetaphysik und Aneignung fremder Arbeit sind komplementär” (Adorno, 1969; 36).

Nicht anders als die bürgerliche Anthropologie, die die kapitalistische Form der Arbeit zur Naturform hypostasiert, ontologisiert Dutschke ein allererst Gewordenes, projiziert ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise an den Anfang der Geschichte, das er auch noch, als “urkommunistische ‚Fähigkeit und Anlage’ in Asien, auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand sich jedweder Art der Arbeit anzupassen” zur Grundlage des asiatischen Weges zum Sozialismus machen will. Ärger geht es nun wirklich nicht: Nicht genug damit, daß Dutschke eine historisch spezifische Gestalt der Arbeit, die nur deshalb ‚allgemeinen’ Charakter hat, weil sie, getrennt von allen Produktionsmitteln und -gegenständen, zur bloßen Arbeitskraftentäußerung, bestimmungslosem Anhängsel der Maschinerie geworden ist, zur ‚Vergegenständlichung des Subjekts’ erklärt und damit der Kritik enthebt. Er kontaminiert nun auch noch diese Form mit der bornierten Nahrhaftigkeit der Arbeit in archaischen Produktionsweisen, in denen, wie Marx erkannt hat, die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit untrennbar verbunden ist mit dem ‚traditionellen Festgerittensein in eine ganz bestimmte Arbeit, woraus sie nur durch Einflüsse von außen herausgeschleudert werden’ (Marx, Grundrisse; 25). Ist dies Dutschkes konkrete Utopie?

Dutschke, so haben wir gesehen, geht es um positive Transzendenz, um die Bestimmung jener Momente, die den kapitalistischen Zauberkreis durchbrechen und die abstrakt gewordene Wirklichkeit mit neuem Leben erfüllen sollen. Aber was immer er zum angeblich ursprünglichen Prinzip stilisiert: vom russischen ‚Urkommunismus’ bis zur unbedingten Spontaneität des Subjekts, erweist sich als ein Vermitteltes, als bloße Phantasmagorie, deren Hypostasierung nur um so unentrinnbarer in die Verdinglichung hineinführt. Der Versuch, die welterzeugende Subjektivität zum Prinzip der Geschichte zu erheben und auf diese Weise die Verdinglichung als bloßes Durchgangsstadium geschichtsphilosophisch zu relativieren, vermag gerade das nicht zu erreichen, was er anstrebt – Transzendenz gegenüber dem Kapital –, sondern sanktioniert im Ergebnis den Inhalt der bisherigen Geschichte nicht anders als der mechanistische Evolutionismus der Orthodoxie: was war, war nur deshalb schlecht, weil die Subjekte sich in ihm nicht erkannten, die Aufklärung aber versöhnt sie mit ihrem entfremdeten Wesen.

Mündet die Orthodoxie in eine blinde Fetischisierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, dessen graduelle Expansion linear zur Entstehung des ‚Reichs der Freiheit’ führen soll, so retiriert Dutschke, erschreckt von dem Gedanken, daß eine solche Gesellschaft sich von der bestehenden möglicherweise nur durch eine größere Funktionalität unterscheiden könnte, auf eine Metaphysik der Arbeit, die die kapitalistische Verdinglichung nur u mgeht und in eine übergreifende Teleologie einbaut, ohne sie inhaltlich und strukturell in Frage stellen: eine Konzeption, die sich unter diesen Umständen als das romantische Gegenstück zum finsteren Realismus der Orthodoxie erweist, als illusionärer Zwillingsbruder einer illusionslos gewordenen Praxis, dem schließlich nichts mehr bleibt, als sich auftrumpfend auf die Beschwörung der menschlichen Willensfreiheit zurückzuziehen. Lenin, so scheint es, wird weiterhin auf dem Kopfe stehen. Er hat nämlich keine Füße.

Aus: Ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung. Freiburg: ça ira 1985, S. 228 – 252

Literatur

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  • Bahr, Hans-Dieter, 1973/74: Kritik der Mechanisierung von Kopfarbeit – Kapitalistische Naturalformen I, hekt. Ms. Bremen.
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  • Dutschke, Rudi, 1974: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischcn und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, Berlin.
  • Habermas, Jürgen, 1968: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt.
  • Kramer, Fritz, 1970: Über den Sozialismus in China und Rußland und die Marxsche Theorie der Geschichte, in: Rotes Forum 3, S. 5-27.
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  • Wolff, Michael, 1970: Hegel im vorrevolutionären Rußland, in: Oskar Negt (hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt 1970.

Lenin wird zitiert nach der im Ostberliner Dietz-Verlag erscheinenden 40-bändigen Ausgabe (Lenin Werke);

Marx und Engels werden zitiert nach der gleichfalls dort erscheinenden 40-bändigen Ausgabe (MEW).

Anmerkungen

[ * ] Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, 352 Seiten, DM 13.50, Berlin: Wagenbach.

[ 1 ] Die klassische Ökonomie verfahrt reduktionistisch, “sie versucht oft unmittelbar, ohne die Mittelglieder, die Reduktion zu unternehmen und die Identität der Quelle der verschiedenen Formen nachzuweisen… Sie hat nicht das Interesse, die verschiednen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf ihre Einheit zurückzuführen, weil sie von ihnen als gegebnen Voraussetzungen ausgeht” (MEW 26.3; 491); sie ist eben dadurch außerstande, die Fetischformen des Kapitalverhältnisses formanalytisch zu dechiffrieren. Vgl. auch MEW 23; 95, Anm. 32.

[ 2 ] Vertrauten Kautsky, Plechanow u. a. blind auf die eiserne Gesetzmäßigkeit des Geschichtsprozesses, so unterscheidet sich Lenin lediglich darin von ihnen, daß er diesen Prozeß beschleunigen will. Nicht der ;Sprung aus dem Fortschritt heraus‘, wie Horkheimer einmal das eigentliche telos der Dialektik bezeichnet hat, charakterisiert Lenins Denken, sondern die bloße Abkürzung eines als unilinear begriffenen Prozesses, dessen Unilinearität dadurch nicht aufgehoben wird. Auch die positivistische Geschichtstheorie war, wie Oskar Negt gezeigt hat, mit ihrem Begriff der ‚fatalité modifiable‘ für solche Strategien durchaus offen: vgl. Oskar Negt 1964.

[ 3 ] Dutschkes Buch kann auf weite Strecken als eine Paraphrase von Krämers zentraler These angesehen werden, die in bezug auf die Russische Revolution folgendermaßen lautet: “Wenn die Partei einen vermeidbaren Fehler gemacht hat, dann hat sie ihn nicht 1918, sondern etwa 1905 bis 1917 gemacht, indem sie auf die Organisierung und Agitation der Bauern verzichtet hat” (Kramer 1970; 21). Daß eben dies freilich kaum in der Gewalt der Bolschewiki lag, hoffen wir weiter unten deutlich machen zu können.

[ 4 ] Vgl. etwa das Schema in Lenin: Werke Bd. l (1893), S. 86/87, wo eine geradlinig erfolgende Verwandlung der Naturalwirtschaft in eine kapitalistische Wirtschaft konstruiert wird – ein Schematismus, der den dürren Geschichtskonstruktionen mancher bürgerlichen Universalhistoriker in nichts nachsteht.

[ 5 ] So geht beispielsweise der jakobinische Grundzug, der den Leninismus vom Menschewismus wie überhaupt vom Quietismus der Sozialdemokratie unterscheidet, in Dutschkes Darstellung weitgehend verloren. Zwar ist sich Lenin mit den Rechtssozialisten über den Inhalt der bevorstehenden Revolution lange Zeit durchaus einig, doch unterscheidet er sich von ihnen im Hinblick auf die Form, in der sie sich durchsetzen soll. Im Gegensatz zu den Menschewiki, die der spontan-naturwüchsigen Entwicklung vertrauen und daher eine Politik verfolgen, die in allen wesentlichen Momenten den Bedürfnissen der liberalen Bourgeoisie Rechnung trägt, vertritt Lenin die These, daß die ungehinderte ‚amerikanische’ Entfaltung des Kapitalismus in Rußland (und nicht, wie Dutschke schreibt, die ‚preussische’: letzteres ist bei Lenin die Bezeichnung für die naturwüchsige Entwicklung Rußlands – vgl. Lenin: Werke Bd. 3; 18 f.) nur auf dem Weg über eine politische Revolution durchzusetzen ist, die anstatt von der schwachen Bourgeoisie von den Massen der Arbeiter und Bauern getragen wird, und die mit der Nationalisierung von Grund und Boden überhaupt erst ‚ideale’ kapitalistische Verhältnisse schafft (vgl. dazu auch MEW Bd. 25; 635 f. und 816 f.). Lenins Theorie, darauf verweis t die ‚Marxistische Aufbauorganisation’ (1973; 222) ist durch eine spezifische Vereinigung Saint-Simonistischer und jakobinischer Motive gekennzeichnet, insofern die Revolution beides erreichen soll: Beschleunigung der Entwicklung der Produktivkräfte und größtmögliche aktiv-spontane Beteiligung der Volksmassen an der Regierung, “wobei sich die Arbeiter- und Bauernmasse in der günstigsten Lage befinden wird, die unter den Verhältnissen der Warenproduktion überhaupt denkbar ist; das bedeutet: Schaffung der günstigsten Bedingungen, unter denen die Arbeiterklasse dann ihre wahre und grundlegende Aufgabe: die sozialistische Umgestaltung verwirklichen kann” (Lenin Werke Bd. 3; 19). Eben dieser emphatische Begriff des Fortschritts, in dem die Notwendigkeit objektiv-gesetzmäßiger Entwicklung und der Gedanke subjektiv-spontaner Befreiung noch eine ungebrochene Einheit bilden, ist bei der Lenin-Interpretation nicht zu vernachlässigen (Marxistische Aufbauorganisation 1973; 155).

[ 6 ] Daß aller Idealismus auf Gewalt gründet, gleichsam der philosophische Ausdruck der Wertabstraktion ist, hat in der nachmarxschen Tradition der dialektischen Theorie niemand klarer gesehen als Adorno: “Große Philosophie war vom paranoischen Eifer begleitet, nichts zu dulden als sie selbst, und es mit aller List der Vernunft zu verfolgen, während es vor der Verfolgung weiter stets sich zurückzieht … Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus” (Adorno 1966; 31 f.). Wenngleich sich in der gegenwärtigen Diskussion der Gedanke durchgesetzt zu haben scheint, man könne einen praktischen Revolutionär wie Lenin, so problematisch dessen Materialismusverständnis im einzelnen auch sei, nicht philosophisch kritisieren, so wäre demgegenüber an der Einsicht Adornos festzuhalten, daß Erkenntniskritik, in adäquater Weise durchgeführt, immer zugleich auch Gesellschaftskritik ist. Unter diesem Aspekt wäre der Cartesianismus, der in Lenins Forderung nach ‚Klarheit’ und ‚Einheit’ zum Ausdruck kommt, als ein Vorgeschmack auf jene Art von Produktionsrationalität zu werten, die von der stalinschen Industrialisierungspolitik den Millionenmassen der russischen Muschiks eingebleut wurde: reine Funktionalität, Trennung von res cogitans und res extensa als Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, Unterwerfung unter die abstrakte Logik des sich verwertenden Werts.

[ 7 ] Dutschkes Analyse erweist sich in diesem Punkt als wenig konsequent. Um Lenin doch noch für den Sozialismus zu retten, was nach seinen sonstigen Ausführungen nun wahrlich keine einfache Sache mehr ist, trennt Dutschke zwischen dem ‚Theoretiker’ und dem ‚Praktiker’ Lenin und gesteht letzterem zu, gewissermaßen ‚instinktiv’ ein großer Revolutionär gewesen zu sein und das ,Richtige’ getan zu haben: eine Trennung freilich, die mit Lenins Selbstverständnis, Politik nicht instinktiv, sondern auf der Basis wissenschaftlicher Grundlegung von Strategie und Taktik zu betreiben, kaum zu vereinbaren sein dürfte.

[ 8 ] Die Realisierung dieser Zielsetzung wurde von den Theoretikern des Populismus auf höchst unterschiedliche Weise erstrebt: Bakunin, dessen Ziel eine freie Föderation der vom staatlichen Druck befreiten obschtschinas war, vertraute auf die Kraft des ‚Natürlichen’, die revolutionäre Potenz des Volkes, die als die lebendige Kraft schlechthin die verdinglichende und entfremdende Gewalt des Rationalismus, der Logik, des Geldes etc. hinwegfegen sollte. Lawrow forderte eine allgemeine Aufklärungs- und Erziehungskampagne durch die Intelligenz, die die revolutionäre Kraft der Massen allererst freisetzen sollte, und Tkatschow schließlich, der Jakobiner unter den Populisten, hob die Notwendigkeit raschen und planvollen Handelns hervor, dessen oberstes Ziel die Ergreifung der Staatsgewalt sein sollte. Eine Strategie, die bereits wesentliche Momente des Leninismus antizipierte, denn auch Tkatschow wollte, wie die Bolschewiki, die politische Form als Hebel benutzen, um mit Hilfe einer Wohlfahrtsdiktatur nach dem Vorbilde Robespierres die materiellen Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus zu schaffen. Diese Auffassung übersieht freilich, daß es nicht die Form ist, die sich ihren Inhalt erzeugt, sondern umgekehrt ein bestimmter Inhalt, der die ihm adäquaten Formen aus sich heraussetzt. (Venturi 1960; 413, 436, 445 ff., 420 ff-, 423).

[ 9 ] Vgl. MEW 4; 576 und MEW 19; 398: “Wenn Rußland in der Welt isoliert wäre, wenn es auf seine eigene Rechnung die ökonomischen Errungenschaften herausbilden müßte, die Westeuropa nur erworben hat, indem es eine lange Reihe von Evolutionen durchgemacht, von der Existenz seiner Urgemeinschaften bis zu seinem heutigen Zustande, dann würde, wenigstens in meinen Augen, kein Zweifel bestehen, daß seine Gemeinden mit der Entwicklung der russischen Gesellschaft unweigerlich zum Untergang verurteilt wären”.

[ 10 ] Robinson nimmt an, daß etwa 7,3 Mill. Haushalte in Privatbesitz einer ähnlichen Anzahl in Gemeindebesitz gegenüberstanden. (Robinson 1961; 215). Die niedrigste Schätzung, die von Male, beläuft sich auf nur etwa 10,5 % Privatbesitz, eine Schätzung freilich, die in Widerspruch zu den Ergebnissen der überwiegenden Mehrzahl der vorliegenden Untersuchungen steht (Male 1971; 19).

[ 11 ] Woran begründete Zweifel bestehen: vgl. die Zusammenfassung der Theorien über die Entstehung und Entwicklung des Mir bei Garsten Goehrke (1964).

[ 12 ] Vgl. dazu Frits Kool und Werner Krause: Die frühen Sozialisten, Band l, 26 f. Daß in den frühsozialistischen Programmen, wozu auch die Forderungen des Populismus zu zählen wären, durchaus antikapitalistische Intentionen enthalten sind, soll hier nicht bestritten werden. Post festum sind jedoch nicht diese subjektiven Intentionen entscheidend, sondern die Ambivalenz des Programms, die schließlich dazu geführt hat, daß der Frühsozialismus de facto außerstande war, der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise eine wirkliche Alternative entgegenzusetzen. Indem der Frühsozialismus Godwins, Owens und Fouriers zwar die Aufhebung der individuellen Wirtschaftsweise durch eine kooperative fordert, jedoch das Eigentum beibehalten will, kann er sich gegenüber der Dynamik des aufkommenden Kapitalismus immer nur reaktiv verhalten, ohne zu einer wirklichen radikalen Kritik der eigentlichen Grundlage der Ungleichheit zu gelangen, und dies gilt, mutatis mutandis, auch für die russische Bauernbewegung. Zur Kritik der frühsozialistischen Bestrebungen vgl. jetzt auch Leppert-Fögen (1974).

[ 13 ] Der Stil von Lenins Polemik läßt sich mitunter kaum noch durch verlegene historische Relativierungsversuche rechtfertigen. Die Volkstümler, bei allen Unzulänglichkeiten ihres Programms doch Vertreter einer sozialistischen Perspektive für Rußland, sind für Lenin “bloße Kläffer”, “Scharlatane” und “quallige Schleimer” (Lenin, Werke Bd. 1; 190, 216, 235). Auch hier gilt, daß, wer vom Leninismus nicht reden will, vom Stalinismus schweigen sollte: denn wer so von seinen Kontrahenten spricht, hat sie in Gedanken bereits liquidiert.

[ 14 ] Daß die Nationalisierung von Grund und Boden eine der ersten Forderungen der klassischen bürgerlichen Ökonomie war, zeigt Henryk Grossmann (1970; 341 ff.).

[ 15 ] Dies gilt nicht nur für die Agrarfrage, auf die wir uns hier vorrangig konzentriert haben. Faktisch war das Resultat der Revolution der völlige Zerfall des ökonomischen Gesamtmechanismus, der sich auf dem agrarischen wie auf dem industriellen Sektor in kleine und kleinste Produktionseinheiten auflöste und damit die gesellschaftliche Reproduk tion in Frage stellte. Auf industrieller Ebene gelang es weder den Gewerkschaften noch den Betriebskomitees, unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes, der fortschreitenden ökonomischen Zerrüttung und wachsender gegenseitiger Konkurrenz der Betriebe, lokale und regionale Kontroll- und Koordinationsinstanzen zu bilden, so daß die völlige Desorganisation der Wirtschaft nur noch eine Frage der Zeit war (Brügmann 1973; 136, 142, 151). Unter diesen Umständen ging es nicht mehr nur um das Überleben der Revolution, sondern um das der Gesellschaft, und die bolschewistischen Zentralisierungsbestrebungen waren Ausdruck dieses materiellen Zwangs zur Selbsterhaltung, nicht eines wie immer gearteten ‚Willens zur Macht‘.

[ 16 ] Wie wenig Dutschke letztlich selbst den idealistischen, auf die Verwirklichung eines ‚Plans’, einer ,Idee’ gerichteten Charakter des Leninismus überwunden hat, zeigen u. a. Bemerkungen wie diese: “Allein Lenin wäre infolge seines revolutionären Verständnisses der russischen Bedingungen und der asiatischen Konzeption von Marx und Engels in der Lage gewesen, die neue Planung zu verschieben, in eine andere Richtung zu lenken, ohne die Revolution zu verschieben” (Dutschke 1974; 115). Eine solche Auffassung, wonach Revolutionen gewissermaßen auf dem Reißbrett konzipiert werden, verträgt sich freilich gut mit Dutschkes durchgängiger Hypostasierung der Subjektivität.

[ 17 ] Hans-Dieter Bahr 1973/1974; 36. Die Arbeiten von Bahr sind ein erster Ansatz, die bornierte Trennung von Arbeits- und Verwertungsprozeß durch den Vulgärmarxismus zu überwinden und zugleich auf der Basis der Kritik der politischen Ökonomie zu untersuchen, wie bestimmte abstrakte, dem Tauschverkehr und der herrschenden Verteilung des Surplusprodukts entspringende (aber auch diese zum Teil erst ermöglichende) Denkgestalten (formale Logik, Mathematik etc.) gleichsam zur ideellen Bewegungsform des Kapitals werden: eine Idealität, die in der kapitalistischen Maschinerie gegenständliche Gestalt gewinnt und daher durch bloße Veränderungen der Eigentumsstruktur nicht tangiert wird: “Klassenstrukturen sind daher nicht nur in der Form ober-herrschaftlich wirkender Subjekte der Bourgeoisie zu suchen, sondern auch in den technisch verschleierten Formen der Arbeit und den entsprechenden Einübungen in ein abstraktes, subjektloses Produktionsdenken … Diese subjektlosen Klassenzwänge halten tradierte Formen des bürgerlichen Lebens fest, die selbst die unmittelbare kapitalistische Produktionsweise überleben können, ohne die prinzipielle Wertstruktur der bürgerlichen Gesellschaft aufzulösen” (Bahr 1973; 55).

[ 18 ] Vgl. Hans-Jürgen Krahl (1971): “Marxens Begriff der Arbeit ist zu überprüfen. Die These wäre, daß der Begriff der Arbeit, insofern er auf wertsetzende Arbeit verkürzt ist, selbst noch auf dem ‚Standpunkt des Kapitals’ verbleibt… In seinem entfalteten System hat Marx einen restringierten Produktionsbegriff, indem er produktive Arbeit auf wertsetzende beschränkt” (Krahl 1971; 388). Krahl gehört freilich auch zu den ersten Theoretikern, die auf das Verhältnis von Wertabstraktion und technischer Rationalität aufmerksam gemacht haben (Krahl 1971; 396).

[ 19 ] Dutschkes Argumentation erinnert, auch von der Terminologie her, an den Versuch des frühen Marcuse, über eine Ontologie der Arbeit den kapitalistischen Entfremdungszusammenhang zu transzendieren. Nach Marcuse sollte ‚die’ Arbeit als ,Existenzial’ allen bestimmten Arten der Arbeit immer schon vorausliegen und gleichsam als ‚Seinsstruktur’ die Transzendenz des Daseins, den ‚Überschuß des Seins über das Dasein’ (Marcuse 1968; 27) verbürgen. Aus Marcuses Beschreibung dieser ‚Seinsstruktur’ als einer “dauernden und ständigen Selbsterwirkung” des Menschen, als rastloser Vergegenständlichung und Entgegenständlichung (Marcuse 1968; 25) wird noch deutlicher als bei Dutschke, was es mit aller ‚Ontologie’ auf sich hat: sie ist die bloße Spiegelung der Realität der Produktion in der kapitalistischen Gesellschaft.

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