Gerhard Stapelfeldt – Ernst Bloch: Geist der Utopie * Leseprobe aus: ders. Der Geist des Widerspruchs Band 2

Ernst Bloch: Geist der Utopie

Gerhard Stapelfeldt

Im Jahre 1923 erschienen drei Werke, die Epoche in der auf Marx folgenden Theorie gemacht haben. Georg Lukács (1885–1971) publizierte: Geschichte und Klassenbewußtsein, Karl Korsch (1886–1961): Marxismus und Philosophie. Zeitgleich veröffentlichte Ernst Bloch (1885–1977) die zweite Auflage von Geist der Utopie (in: GA Bd. 3) die gegenüber der ersten Auflage von 1918 wesentlich stärker an Marx orientiert war.

Der historische Kontext jener drei großen Werke ist die Vollendung des Imperialismus durch eine epochale Krisis, die sein Ende und den Übergang in eine neue Epoche markiert: die Krisis des mit wissenschaftlich-technischen Mitteln geführten Ersten Weltkriegs; die nachfolgende große Wirtschaftskrisis, die zur Depression von 1929–33 führte; schließlich die »Krisis des Marxismus« (Bloch: GA Bd. 3, 297–307; vgl. Korsch 1931) und der Arbeiter­bewegung, erscheinend im Zusammenbruch der Zweiten und in der Gründung einer Dritten Internationalen. In diesen Krisen wurde nicht nur der irrational-rationale Geist des Imperialismus, der Abschied der bürgerlichen Welt von den klassischen Utopien des revolutionären Liberalismus offenbar. Sondern die Krisis erschien als eine weltgeschichtliche. Die bürgerliche ebenso wie die sozialistische Aufklärung: Vernunft, auch Rationalität, schienen von emanzipatorischen in destruktive Kräfte verwandelt und damit an ihr Ende gelangt. Alle Utopie schien verloren, so daß die Aufgabe unabweisbar wurde: diese Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1944/47) über sich selbst aufzuklären und den Geist der Dialektik und Utopie in revolutionärer Absicht doch noch zu retten. Die epochale Bedeutung jener Krisenkonstellation haben, in der bürgerlichen Gesellschaftstheorie, Max Weber (PS, 33–68, 306–443) und Sigmund Freud (Bd. IX, 33–60) besonders ent-täuscht ausgesprochen. Georg Lukács hat im Vorwort von 1962 zu seiner 1916 erstmals publizierten Theorie des Romans (a.a.O., 5f.) den Krieg und die zutage getretene Krise der Sozialdemokratie geschichts­philosophisch nicht als kulturelle Regression, sondern als Konsequenz der »westlichen Zivilisation« aufgefaßt; ebenso äußerte sich im Jahre 1918 Lukács’ Jugendfreund Ernst Bloch (GA Bd. 3, 11–13, 293–297).

Mit der objektiven Hoffnung schien alle Einsicht in das Bestehende ebenso verloren wie alle gesellschaftliche Erinnerung. Wie Marx nun die Epoche des klassischen Liberalismus an ihrem Ende durch dialektisch-vernünftige Aufklärung auf den Begriff brachte, so suchten Korsch, Lukács und Bloch die Epoche des Imperialismus in der Phase ihrer zusam­men­fassenden Krisis und darüber hinaus den weltgeschichtlichen Zerfallsprozeß doch noch dialektisch über sich selbst aufzuklären – durch eine utopisch gerichtete, auf revolutionäre Praxis zielende Erinnerung. Diese dialektische Erinnerung konnte freilich nicht, wie vordem Marx, die Tradition der Aufklärung – der Vernunft und auch der Rationalität – ganz selbstverständlich fortsetzen.

Während Lukács und Korsch, gegen den naturwissenschaftlich-positivistisch ausgerichteten »orthodoxen Marxismus«, in der Krisis des irrational-rationalen Imperialismus das Gesellschaftlich-Unbewußte des Werts und der Wertform – den Fetischcharakter der Ware – wieder entdeckten und somit den Zusammenhang von Dialektik und Revolution erneuerten, wandte sich Bloch (GA Bd. 3) – angesichts des Ersten Weltkriegs und des, durch die Logik der Einzelwissenschaften (ebd. 239–241), zu einem kausalen, technisch-rationalen »Automatismus der Welt« (ebd. 22; vgl. ebd. 335f., 345) verdinglichten gesellschaftlichen Kosmos, angesichts auch eines der instrumentellen Rationalität verfallenen Marxismus (ebd. 297–307) – dem Zusammenhang von Widerspruchsgeist und Utopie: der »utopischen Wirklichkeit« (ebd. 134) zu. Die Utopie, so schien es Bloch (ebd. 239), ist in der durch die einzelwissenschaftliche Rationalität gründlich entzauberten gesellschaftlichen Welt ausgetilgt, so daß es aus diesem rationalen »Gehäuse« (M.Weber), aus diesem »Zuchthaus« (ebd. 278), immanent keinen Ausweg mehr gibt, so daß es unmöglich ist, das »Zuchthaus« als »Zuchthaus« überhaupt zu erfahren – es herrscht die »Dummheit« (ebd. 335f.). Wo also ist zu finden, was fehlt: die Utopie? Deren Traum formulierte Bloch, wie sonst kein deutscher Philosoph seiner Zeit mit Ausnahme Walter Benjamins (1892–1940), in ausdrücklicher Rezeption der jüdisch-christlichen Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie): der im letzten Buch des Neuen Testaments durch Johannes gegebenen Offenbarung (Apokalypse) vom nahen Ende der Welt und dem kommenden Reich Gottes (siehe: ebd. 181, 190f., 289ff.). Diesen utopischen »Traum« (ebd. 186) spürte er allererst in der Musik auf, der »innerlich utopischen Kunst« (ebd. 206). Der Traum vom Kommenden, vom »ungeschehenen Drüben« (ebd.), wird durch die »utopische Philosophie« (ebd. 260) nicht in einen Alptraum verkehrt, sondern bewahrt und geschärft. Während die Frühsozialisten das Land Utopia beschrieben, während der Marxismus der Zweiten Internationale im Bestehenden positive Elemente des »Vereins freier Menschen« identifizierte, widmete Bloch sich in der Epoche der einzelwissenschaftlich negierten Utopien der utopischen Erinnerung in revolutionärer Absicht, ohne Utopia wiederum durch rational-begriffliche Konstruktionen und Entgegensetzung gegen das Bestehende zu verraten – denn in der Aufklärung, die die rationalistischen Einzelwissenschaften gebar, schien alle Utopie verloren (siehe ebd. 168, 190f., 208, 239–247, und öfter).

So treffen sich Korsch, vor allem aber Lukács und Bloch in einer dialektischen Kritik, die später erst zur negativen Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung (1944/47) Max Horkheimers und Theodor W. Adornos, dann zur Kritik der instrumentellen Vernunft Horkheimers (1946) führt; Blochs utopisch-vernünftiger Rekurs auf das Judentum und auf die jüdisch-christlich begriffene Kunst-Verheißung, zumal auf die Musik-Utopie, wird wenige Jahre später auch von Adorno, danach in der Dialektik der Aufklärung und endlich in Adornos musiktheoretischen Werken sowie in seiner nachgelassenen Ästhetischen Theorie entwickelt. Geist der Utopie: das ist Blochs erster Versuch jenes Hauptwerks, das er dann 1938–47 unter dem Titel: Das Prinzip Hoffnung, schrieb – eine systematische Geschichte, eine Enzyklopädie unabgegoltener Utopien. Der letzte Satz dieser Enzyklopädie:

»Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (GA Band 5, 1628)

– findet sich, nahezu wörtlich, schon im Geist der Utopie (GA Bd. 3, 186; vgl. ebd. 207).

Blochs Geist der Utopie ist mithin, wie Geschichte und Klassenbewußtsein seines Jugendfreundes Georg Lukács, dem er Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (geschrieben: 1936–37 und 1969–71: GA Bd. 7) widmete, eine Kritik der bürgerlichen Welt als eines technischen Kosmos, als »grauenhafte Verödung eines völligen Automatismus der Welt« (GA 3, 22), und darum zugleich eine explizite Kritik der positiven Einzelwissenschaften (ebd. 239–241) sowie eine implizite Kritik des orthodoxen, naturwissenschaftlich-positivistischen Marxismus. Diese Kritik stützt sich, wie die Lukács’ (vgl. 1916, 1920, 6), wesentlich auf die Tradition der Geisteswissenschaften, der Lebensphilosophie: auf den »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen.« (Dilthey: GS VII, 87) Bloch rezipiert durchgängig leben sphilosophische Grundbegriffe wie: »Leben«, »Expression«. Gleich dem Lukács der Theorie des Romans (geschrieben 1914/15) erkennt auch Bloch die kritische, utopische Instanz gegen die instrumentelle Rationalität in der Kunst: nicht in der Literatur, sondern in der Musik. In der Rationalität, in der verselbständigten Philosophie und Wissenschaft, so scheint es in Geist der Utopie, ist alle Utopie verloren, so daß diese philosophisch allein erinnernd zu retten wäre durch eine Verschränkung von Musik und Philosophie: im Geist der Utopie, konstatiert Bloch, steht der »verantwortliche Künstler dem Philosophen näher . . . als der subjektlose Empiriker« (GA Bd. 3, 190, 204; vgl. ebd. 239ff.).

Bloch schrieb, wie er selbst mitteilt, Geist der Utopie (zitiert nach: Gesamtausgabe Band 3) 1915/16, publizierte dieses »versuchte erste Hauptwerk« 1918, überarbeitete den Text für die zweite Auflage 1923 und dann später für die Werkausgabe (siehe: ebd. 347). Die Vorrede unter dem Titel: Absicht (1918, 1923, 11–13), die er am Beginn des zweiten Teils seines Werks ausdrücklich und fast wörtlich wiederholt (ebd. 293–297), deutet den historischen Kontext und die Folge des Dargestellten an. Der Erste Weltkrieg, geführt vom »kaiserlichen Deutschland« um »geistfeindlicher Ziele« willen: ein »Triumph der Dummheit«, »bejubelt von den Intellektuellen«; »die Universitäten sind wahre Grabesstätten des Geistes geworden«. Danach herrschen der »Gestank der Fäulnis« und »starre Verfinsterung«: »Der Krieg ging aus, die Revolution ging an und mit ihr die offenen Türen. Aber richtig, sie haben sich bald geschlossen.« Diejenigen, die »andere Fahnen geschwungen haben, so viel Blüte, soviel Traum, so viel geistige Hoffnung, sind tot.« Es herrscht die »Romantik neuerer Reaktion«, die »die Reaktion vor hundert Jahren« aufwärmt. Bloch nennt die »Erde«: ein »Zuchthaus, Irrenhaus, Leichenhaus« (ebd. 278). Die sozialistische Utopie scheint verloren: »Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken.«

»Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und, was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen Kern und kein sammelndes Gewissen des Überhaupt.« (Bloch: Gesamtausgabe Band 3, 13; vgl. ebd. 307–309)

Aber es »steht« die »marxistische Republik Rußland«. Und unverloren brennen »die ewigen Probleme unserer Sehnsucht« (ebd. 12, 294f.) – diese, als »Wachtraum« gegeben, soll ans Licht gehoben werden. Bloch beginnt beim »Ich bin. Wir sind«. Er folgt der Tradition der griechischen Philosophie, dem Imperativ des Orakels zu Delphi, in marxistischer Wendung: »Kenne dich!« – durch Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis, zur Weltveränderung. Der Anspruch des Autors ist immens: »in diesem Buch« werde das »stets Gesuchte, die eine Ahnung, das eine Gewissen«, das eine »Heil« ergriffen (ebd. 308; vgl. 333f.) und damit das »Sprengpulver der Welt« (ebd. 334) gewonnen.

So beginnt Geist der Utopie mit einem umfangreichen ersten Teil: Die Selbstbegegnung (ebd.15–287), der wesentlich der Philosophie der Musik gilt: dem »internen Weg«. Der zweite Teil: Karl Marx, der Tod und die Apokalypse Oder über die Weltwege, vermittelst derer das Inwendige auswendig und das Auswendige wie das Inwendige werden kann (ebd. 289–346), reflektiert die »externe, kosmische Funktion der Utopie, gehalten gegen Elend, Tod und das Schalenreich der physischen Natur«. Die Suche gilt der wahren Wirklichkeit, der wirklich gewordenen »Wahrheit«: der »utopischen Wirklichkeit« (vgl. ebd. 122, 133–135, 226, 344). Die Weise des Suchens ist zunächst eine Alltagsphänomenologie, die sich ins Kleinste, Unscheinbarste versenkt, immer mit dem prinzipiellen Blick auf das erscheinende Allgemeine: vermittelt durch eine literarisch geschulte, expressionistisch reiche Sprache, die dem Erscheinenden zum Wort, dem Suchenden zum Begriff verhilft, ohne das Gesuchte begrifflich-dingfest zu machen (vgl. ebd. 124–145). Blochs Schriften sind nicht referierbar, nicht reproduzierbar, nicht in ein Auswendiges verwandelbar: sie sind, als Kritik alles technisch Reproduzierbaren, im emphatischen Sinn Philosophie – andeutend, assoziativ, voller Metaphern, musikalisch und doch begrifflich-spekulativ komponiert, das Unsagbare in Konstellationen umkreisend, das Denken des Denkenden fordernd.

Bloch verständigt sich über den Krieg, die Krisen der bürgerlichen Welt und der Arbeiterbewegung, die Totalität der instrumentellen Rationalität, die Hoffnungslosigkeit, im expliziten Rekurs auf die jüdisch-christliche Eschatologie: auf die Offenbarung (Apokalypse) des nahen Zusammenbruchs der Welt und der kommenden Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden – die »spätere Reichszeit« (ebd. 181, 190f., 289ff.). Er erinnert die Gesellschafts­geschichte der Entfaltung und Zerstörung des utopischen Bewußtseins durch eine Geschichtsphilosophie der Kunst, zumal der Musik. Aber er formuliert diese Geschichts­philosophie auf der Grundlage der jüdisch-christlichen Mystik, der Geisteswissenschaften und der Lehre von Marx zugleich: als Aufklärung der Geschichte des »inneren Menschen«, dessen Expression sich im Auswendigen entfremdet materialisiert und ins Inwendige rückzuübersetzen ist – als »Wiedersehen des Ich mit dem Ich« (ebd. 38f.). Also forscht Bloch im Selbst, in dessen utopischer, nach auswendiger Verwirklichung drängender Sehnsucht: die Utopie ist apriorisch – ein anthropologisches, dogmatisches, dem rational-destruktiven gesellschaftlichen Kosmos entgegengesetztes Prinzip (vgl. ebd. 219–226), keine aus der Auf­klä­rung bewußtloser gesellschaftlicher Voraussetzungen hervorgegangene objektive Hoffnung. Der Titel des zweiten Teils der Schrift verweist lebensphilosophisch auf die Krisis, die utopisch zu überschreiten sei: den »Tod«. Das ist, in der Zeit der »Apokalypse« (ebd. 190, 289ff.) des Ersten Weltkriegs, plausibel. Aber der Tod ist kein empirisch, anthropologisch Gegebenes: dessen Erfahrung ist, wie Bloch selbst darlegt (ebd. 307–327), eine andere in der mythologischen Welt der Antike als in der entzauberten Welt des Liberalismus und in der tech­nisch rationalisierten Welt des Imperialismus. Der imperialistische Kosmos, als gesell­schaftliche Welt technischer Rationalität, ist die Welt der technischen Selbsterhaltung und Selbstzerstörung. Darum hat Weber (PS, 268) die Leistungen des Staates in diesem rationalen Kosmos in Rücksicht auf die Sicherung des »Existenzminimums zum Leben« einerseits, die Darbietung des »Schlachtfelds für den Tod« andererseits bestimmt. Indem Bloch die Utopie dogmatisch voraus- und dem mechanisch-rationalen Bestehenden abstrakt entgegensetzt, indem er die Utopie als Überschreitung des Todes durch Auferstehung bestimmt, erliegt er negativ dem entgegengesetzten technisch-rationalen bürgerlichen Kosmos und kann die Utopie nur mythologisch, anthropologisch und als Natur-Utopie bestimmen: als »konkrete Allianztechnik«, als Resurrektion der Natur, so daß der Mensch als Natur sich mit der äußeren Natur versöhnt: »Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur.« (GA Bd. 15, 250–264; siehe GA Bd. 3, 336–339)

Das Inwendige steht, in Geist der Utopie, am Anfang: Die Selbstbegegnung (GA Bd. 3, 15–287) – das seiner selbst inne werdende Ich. Bloch eröffnet die »wahrhafte Unendlichkeit des innerlich Wirklichen«, das – wie er kantisch formuliert (vgl. ebd. 219–226) – »Geheimnis des intelligiblen Reichs.« (ebd. 122, 123) Die Grundlage dieser »Ethik und Metaphysik der Innerlichkeit, der brüderlichen Inwendigkeit« (ebd. 205), ist eine Geschichtsphilosophie, die an der jüdisch-christlichen Mystik gebildet und der Theorie der »Entzauberung der Welt« (Weber: WL, 594; Horkheimer/Adorno 1944/47, 13) verwandt ist.

Bloch (GA Bd. 3) führt, alltagsphänomenologisch, den Leser durch die entfremdete Welt der »zivilisierten Sichtbarkeit« (ebd. 23). Das Ich erfährt erst a posteriori sein ihm unmittelbar unerkanntes, entfremdetes Sein; es wird erst durch dieses Innewerden wirklich: »das, was man ist« (ebd. 17–19; vgl. ebd. 122, 237–241). Das Ich erfährt die äußere Welt als eine »grauenhafte Verödung eines völligen Automatismus der Welt« (ebd. 22; vgl. ebd. 335): »die technische Kälte« der maschinell erzeugten Gegenstandswelt, die Welt der »billigen Massenproduktion«, in der der Produzent verschwunden ist – »der alte« kunstfertige »Handwerker« (ebd. 20–23). In der Leblosigkeit der Massenware ist ein »Phantasiemord« gegenständlich geworden, die Entfremdung des Produkts vom Produzenten, des Objekts vom Subjekt, des Auswendigen vom Inwendigen: nur zum Schein dient die Maschine der »Erleichterung der menschlichen Arbeit«; in Wahrheit dient sie der rationalisierten Ausbeutung des Menschen (ebd. 21f.; vgl. ebd. 332f.). Das maschinell Produzierte ist reine »Zweckform«. Man sucht es »farbig aufzulockern«, dem Kalten eine schale Humanität überzutünchen (ebd. 23ff.). Die »Einzelwissenschaften«, die fassen wollen, »was ohne uns ist und wie es war«, entsprechen dieser Maschinenwelt nicht nur, sie haben sie auch konstituiert und reproduzieren deren »leere Mechanik«; in ihrem »Schematismus«, der den Dingen eine Formel überstülpt, ohne sie zu erkennen, ist der »lebendig utopische Strom« verloren (ebd. 239f.; vgl. ebd. 251f.).

Dieser technischen Rationalisierung der Produktion, dieser Objektivierung des Produkts, setzt Bloch keineswegs die verlorene Humanität des »alten Handwerkers« romantisierend entgegen. Die »bewußt funktionelle Technik« würdigt er vielmehr als Möglichkeit einer »bedeutsamen Befreiung der Kunst von Stilvollem, von abgelaufener Stilistik und andererseits von kahler Zweckform« (ebd. 23). Geschichtsphilosophisch deutet er den Fortschritt instrumenteller Rationalisierung der Welt allgemein an (ebd. 202–208): als Fortschritt von einer ursprünglichen mythologischen, wesentlich »übersinnlichen« Welt subjektiver Mächte zu einer sinnlichen, diesseitigen, »rationalen Welt«. In dieser Welt, deren Logos die empirisch-rationalen »Einzelwissenschaften« bestimmt, scheint die Utopie verloren – es ist ein »Zeitalter der Gottferne« (ebd. 239–241, 275–279). An diesem apokalyptischen Ende der Welt jedoch, an dem die »Erde« ein »Zuchthaus« geworden ist (ebd. 278), erwacht die gleichfalls apokalyptische, utopische Sehnsucht des Subjekts, die sich religiös und in der Musik zugleich ausdrückt. Somit ist diese Geschichtsphilosophie allererst eine religiös inspirierte Philosophie der Kunst, zentral: der Musik. In dieser Rücksicht konstatiert Bloch einen »Ablauf aller Stile«, vollendet »vor hundert Jahren«: als Auseinandertreten von »integraler Technik« einerseits, »integraler Expression« andererseits, reiner »Zweckform« einerseits, »Ornamentik« andererseits (ebd. 24f.; vgl. ebd. 34). So hat sich die »hohe Kunst«, durch die Technik, vom »Gebrauch«, von den äußeren Gebrauchsdingen und dem »Kunstgewerbe«, so hat sich die »ästhetische Sphäre« von der »praktischen« emanzipiert (ebd. 26f.). Der Fortschritt von Ökonomie und Technik hat die »hohe Kunst« nicht sich subsumiert, so daß diese allein durch Verweis auf jenen begreiflich wäre (vgl. ebd. 54–60), sondern sie allererst freigesetzt, so daß von hier aus das Land Utopia über der technisch-rationalen Welt aufscheint: als Ort einer überwundenen Entfremdung des Menschen von sich selbst und von den Dingen (vgl. ebd. 284, 345), des Inwendigen vom Auswendigen, des Subjekts von der Objektivität, des Unwiederholbaren und »Unfixierbaren« (ebd. 130) von der technisch reproduzierbaren Maschinenwelt – »Alles menschlich Entfremdete ist wertlos« (ebd. 345).

Bloch datiert den Beginn der Entzweiung von auswendigem Zweck und inwendiger Expression auf die Zerstörung des metaphysischen Zeitalters durch »Sozialismus und Reformation«. Die im metaphysischen »Kunstgewerbe« noch vorhandene Einheit von »irdischem Gerät« und Verweis auf eine »andere Welt« (ebd. 28f.) ist zerbrochen und dadurch die Intention der »hohen Kunst« rein hervorgetreten: »Beschwichtigung seelischer Notzustände, . . . Trostgesang einer um Häßlichkeit, Schönheit unbekümmerten Ichexpression, . . . die zu den Menschen heruntergestellte Abschilderung oberer Erlösungsgeschichte«. In der Kunst, zumal in der Musik, ist die »Expression« als Ausdruck »eines Höheren, Göttlichen« (ebd. 27), gegeben. – Am Anfang noch koinzidieren »Zweckform« und Expression, »materialgerechte Zweckformen« und »Inwendiges«, »Strenge« und »Leben«, »Zweck« und »Stil« (ebd. 29f., 34): in der ägyptischen Baukunst, im »griechischen Stil« (ebd. 29–35). Die Gotik bereits aber würdigt Bloch überschwenglich (ebd. 35–40; vgl. ebd. 208): im »Ornament«, in der »gotischen Linie«, gelangte die »organisch-psychische Sehnsucht« zur Anschauung:

»Wenn jetzt also, hinter den abgelehnten, abgelaufenen Stilen, überhaupt noch eine Rettung möglich ist, dann kann sie nicht anders als durch eine Wiederaufnahme dieser fast völlig vergessenen organischen Linien geschehen.« (Bloch: GA Bd. 3, 36)

Der Geist der Utopie wird freigelegt durch die Erinnerung der utopischen Gehalte der mythologischen, frühen Kunst: »die Gotik, das begriffene Leben, ist der Geist der Auferstehung«, der »freie Geist der Ausdrucksbewegung« (ebd. 38), das »nach außen gebrachte Innere« (ebd. 39). Im gotischen Ornament, in den gotischen Kathedralen, geschieht das »Wiedersehen des Ich mit dem Ich« (ebd. 39f.). Die Idee einer Aufhebung der Entfremdung von Inwendigem und Auswendigem, die Idee der Resurrektion, hat sich dessen zu erinnern. – Also ist die »Sehnsucht« der »Ichexpression« (ebd. 27, 36) – des Expressionismus (ebd. 40–45) – bezeichnet: Koinzidenz von »menschlichem Inneren« und »Innerem der Welt«, Erfahrung des Selbst und der »Sache selber« (ebd. 45–48) – hegelisch: Aufhebung der Entfremdung des Ich von sich selbst und von der äußeren Welt in ein »mit sich Identischsein«, in eine Identität von Subjekt und Objekt (vgl. 47, 284; vgl. ebd. 168, 287).

Diesen Geist der Utopie entziffert Bloch an der Kunst, näher an der Musik. Er behandelt unter dem Titel: Philosophie der Musik (ebd. 49–201), zunächst die »Geschichte«, dann – systematisch – die »Theorie der Musik«. Er würdigt die Musik: den »Ton«, das »Singen«, das »Hören« – weil »schon die sprengende Melodie der Tonleiter . . . ein rein menschliches, unphysiologisches und erst recht unphysikalisches Gebilde darstellt.« (ebd. 182) Während »malerisch und bildnerisch« das »Stoffliche weniger aufgegeben« wird, gelangt der »Ton« zum »Ton des Seelenhaften«, des rein Inwendigen, und verweigert deshalb seine Verwandlung in ein »Mittel« (ebd. 183; vgl. ebd. 202–208); die Musik, diese »innerliche utopische Kunst«, liegt über »alles empirisch zu Belegende im ganzen Umfang« hinaus (ebd. 206; vgl. die entsprechende Kant-Rezeption: ebd. 219–226, vor allem 224).

Der utopische Geist der Musik ist inwendig, nach auswendiger Verwirklichung drängend (ebd.134), revolutionär: »die sich entwickelnde Neuzeit, Adventszeit als Begriff gefaßt, . . . braucht und liebt« den »Musiker« (ebd. 63). Die Musik zumal steht von allen Künsten jenseits der naturhaft-technischen, destruktiven Rationalität der gesellschaftlichen Maschinenwelt, diese utopisch transzendierend: weil dem »musikalischen Gegenstand«, weil der Musik ein »eigener Erlebnischarakter« zukommt, weil jener Gegenstand ein »begrifflich Unfixierbares« ist, weil dem »Material« eine prinzipielle »Unabgeschlossenheit« zukommt (ebd. 124–145, Zitate: ebd. 130, 132). Die Musik ist gleichsam, jenseits der »Welt der identischen Fälle« (Nietzsche Bd. III, 526) des Begriffs, das »Nichtidentische« (Adorno: GS 6), das »Unsagbare« (Bloch: GA Bd. 3, 208). Bloch demonstriert dies am Lied, am Klang, am Ton: »Es ist wichtiger, was in ihm vom Singenden selber umgeht, was also der Sänger oder Spieler in den Ton ›hineinlegt‹, als was sein Gesang rein tonal enthält.« (ebd. 126) Der Begriff impliziert das Reproduzierbare, das Austauschbare (ebd. 124), der Ton aber ist singulär, ohne »Ausdruck« nur »blind« (ebd. 128, 129). Das »Hörenkönnen« ist ein anderes als das Begreifen (ebd. 125). Darum läßt sich Musik nicht einfach in »Begriffe« übertragen (ebd. 125, 131); darum aber auch impliziert die Musik das Überschreiten der technischen Rationalität; darum auch ist das Verhältnis von Ton und Text im musikalischen Werk der Bruch:

»Es ist und bleibt so das Schicksal auch des guten Worts, auch des dichterisch wertvollsten, auch des musikhaft völlig einbezogenen, vor dem Ton schließlich zum Bettler zu werden. (. . .) Die Musik regiert schlechthin und will absolut werden, es gibt grundsätzlich keine andere als absolute und darin per se sprechende, rein nur noch spekulativ deutbare Musik.« (Bloch: GA Band 3, 144f.)

Freilich liefert Bloch keine empirische Darstellung der »Geschichte der Musik« (ebd. 50–124), sondern eine Geschichtsphilosophie: eine »Geschichtsphilosophie der erbauten Innerlichkeit in der Welt« (ebd. 66; vgl. ebd. 168, 180). Nach der einleitenden Skizze zur Genesis und Gegenwart des »völligen Automatismus der Welt« (ebd. 22) kann diese Geschichtsphilosophie nicht als Rekonstruktion eines linearen Fortschritts der »handwerklichen Entwicklung«, der »musikalischen Technik«, expliziert werden (ebd. 54–56). Insofern wendet sich Bloch implizit gegen die frühe Marxsche, noch dem Frühsozialismus verpflichtete Geschichtsphilosophie, die von einer befreienden Kraft der Produktivkraftentfaltung ausgeht. Bloch muß auch die Idee eines linearen Fortschritts überhaupt problematisch werden, nach der alle Seiten der Gesellschaft von einem logos bestimmt sind (ebd. 56–60): Ist die Gegenwart ein gesellschaftlicher Kosmos technischer Rationalität, führte nichts über ihn hinaus – »Krieg«, »Verfinsterung« und »Fäulnis« wären unübersteigbar. Also, lehrt Bloch, hat die Geschichtsphilosophie auf das zu sehen, was in den Fortschritt nicht hineinpaßte, was ihm transzendent blieb, was ihn utopisch transzendierte. Dies war die Musik: die prinzipielle »historische Ungleichzeitigkeit der Musik« (ebd. 57; vgl. ebd. 167). Ihr erkennt Bloch eine »geschichtlich exzentrische Rolle« zu (ebd. 180). Die Musik ist mithin nicht aus dem ökonomisch-technischen Fortschritt, also »von außen her« zu erklären, sondern aus sich selber. Bloch folgt darin Nietzsche, mit einer kritischen Wendung:

»Indes eben, all dies ›Erklären‹ von außen her bleibt selber letzthin äußerlich, macht die Gesamterscheinung, die tiefe historische Einsamkeit, die soziologisch uneinbeziehbare Seinsebene Bachs nicht begreiflich; noch ganz davon abgesehen, daß auch Nietzsche, wo er die historische Ungleichzeitigkeit der Musik erfaßt, diese doch allzu stark zum bloßen Revenant werden läßt, sie selber noch allzu historisch auf Vergangenes bezieht, statt sie von der Zukunft her zu erleuchten: als Geist utopischen Grades, der sich demgemäß, wenn auch mit zahllosen Wahlverwandtschaften und freien Rezeptionen, mitten in Geschichte und Soziologie lediglich sein eigenes Haus, das Gefüge seiner eigenen Entdeckungen und inneren Seinsebenen baut. (. . .) Wie Beethoven nur aus sich rollt, wie Mahler schon äußerlich seine achte Symphonie für eine andere Gesellschaft gewissermaßen vorausgeschaffen hat, so erdenkt sich auch Wagner Evchen und das Volk auf der Festwiese, ein selbstgewähltes, vom Künstler selbst als inspirativ gesetztes, utopisches Bayreuth, fernab aller zeitgenössischen Soziologie, ihren Inhalten und ihrem Formwillen. Wenn sich also ein Musiker von dem Willen seiner Zeit derart unabhängig fühlen konnte (. . .), dann ist es sicherlich auch nicht das Wesentliche, . . . , welches an der Musik ökonomisch und soziologisch eingeordnet werden kann. Der irrt also, der die in allem Anderen so wohltätige wirtschaftliche und somit sonst wie vereinheitlichende Betrachtung nach dieser Seite verabsolutieren möchte.« (Bloch: GA Bd. 3, 57f.)

Das Subjekt dieser ungleichzeitigen Musik nun, das sich dem »Kulturkörper« (ebd. 58) entzieht, ist – das »Genie« (vgl. ebd. 59f., 63). Darum, konstatiert Bloch, gibt es hier »nur Künstler und keine Kunst« (ebd. 62).

Nach dieser Geschichtsphilosophie, die die Musik als das »Ungleichzeitige« würdigt, ist diese Kunst apriorisch und utopisch ineins. Sie ist apriorisch (vgl. ebd. 203, 234): weil sie vom technisch-ökonomischen Fortschritt nicht mitgerissen wurde, weil ihr eine »zeitgeistige Immunität« (ebd. 61) zukommt. Darum aber ist sie auch utopisch: jung, subjektiv, zukünftig (ebd. 60–63). Das Apriorisch-Utopische der Musik erscheint als »Heimkehr«: »das Neue« steht »dem Alten, urältest zugrunde Liegenden, Einfachsten, Gegebenen, vorweltlich Ersehnten, in der erwachsenen Welt Verlorenen am nächsten« (ebd. 62). Die Musik als Utopie ist Mythos-Utopie, Altes-Neues, Vergangenes-Zukünftiges, Anfang-Ende: »revolutionäre Jugend« (ebd. 63; vgl. ebd. 66, 285). Bloch schreibt die utopisch gerichtete Erinnerung nicht im Geiste der Aufklärung als Genese vergangenen, gegenwärtigen Leids (vgl. Marx: MEW 23, 675f. Anm. 89), sondern als Vergegenwärtigung einer apriorischen, historisch zu sich selber kommenden Utopie: diese ist insofern als »Prinzip Hoffnung« vorausgesetzt. – Das Utopische der Musik ist, als ein zugleich Apriorisches, ein dogmatisch Gesetztes. Das Dogma gilt Bloch als »unangreifbar verbürgt«: a priori als eine »von Jesus in uns zuerst eingesenkte Subjektmagie«, utopisch als die durch Johannes mitgeteilte, von Gott – vermittelt durch den auferstandenen Jesus – gegebene Offenbarung (Apokalypse), die Weissagung des bevorstehenden Endes der Welt und der kommenden Errichtung des Reiches Gottes (ebd. 190f., 203f., 289ff.; siehe: Die Bibel, Neues Testament: Die Offenbarung des Johannes).

Die Musik hat nun die Erbschaft des »Logosmysteriums« angetreten und das rationalistisch destruierte utopische Offenbarungswissen aufbewahrt, weil sie in die Geschichte der »Entzauberung der Welt« (M. Weber) nicht einbezogen war (ebd. 203–205): sie ist der »erste Wohnort des heiligen Landes« (ebd. 208). – Die durch den »Automatismus der Welt« nunmehr vollzogene »Befreiung der Kunst« hat deren utopischen Gehalt offenbart: »seit Brahms und noch viel mehr seit Bruckner, scheint der letzte Anfang gemacht zu sein« (ebd. 64); Bloch würdigt »Schubert, Mahler und Bruckner als echte Erben des Beethovenschen Geistes« (ebd. 89–97, Zitat: 92f.). Die »rastlose Neuheit mitsamt der schlechten Unendlichkeit ihrer geraden Linie« hat sich zum »offenen System« gestaltet (ebd. 64). Weil die ungleich­zeitige Kunst dem rational-linearen Fortschritt entzogen ist, ist dessen utopisch gerichtete Kritik nicht streng immanent, aber auch nicht ganz utopistisch und transzendent: die Ungleich­zeitigkeit, die Emanzipation der Kunst ist Produkt jenes Fortschritts. Dieser freilich bewegt sich zum dogmatischen Kreis: das Apriorische vollendet sich im Utopischen (vgl. ebd. 203, 285).

Erst auf der Grundlage dieser Geschichtsphilosophie gibt Bloch eine »Geschichte der Musik« (ebd. 50–124): eine darum systematisierte (siehe ebd. 65f.) »Geschichte« – aber keine empirische, analysierende, den Gegenstand abtötende Geschichtsschreibung. Blochs Sprache ist metaphorisch: eine begriffliche, skizzenhafte Nach komposition der vorgestellten Werke, die kaum irgendwo einzelne Kompositionen, gar einzelne Partien analysiert, sondern das Ganze in Konstellationen umkreist, ohne ins »Übergleiten« (ebd. 74) abzuheben. Die Musik geht systematisch in die Philosophie ein, so verdichtet in der Metapher von der »Geschichts­symphonie« (ebd. 168).

Exemplarisch ist diese Klärung über Beethoven, die belegt, daß nichts hier reproduzierbar ist; gefordert ist nicht analytisches, sondern sinnliches, musikalisches, komposi­torisches Denken: ein Begreifen von begrifflich unfixierbaren Klängen, nicht von abstrakten Konstrukten (vgl. ebd. 124–132).

»So zeigt sich denn das Thema bei Beethoven weit davon entfernt, als lebendige Individualität zu gelten; es gibt keinen größeren Abstand in diesen symphonischen Werken als den zwischen der Ungehaltenheit des Einzelnen und der gewaltigen Standhaftigkeit des Ganzen. (. . .) Daß die Themen so scharf umrissen sind, liegt vor allem am Rhythmus, der sie überhaupt erst kenntlich macht, und dann, nach den langen Irrgängen der Durchführung, am jetzt, am plötzlichen wieder-Da des alten, zusammenhaltenden Grundtons und Gesichts. Hier wird der Nebel in das Feuer gegossen, es gibt dunkle Schächte, man fährt in der Durchführung wie in einem Bergwerk und aus diesem heraus, dem Schein des ersten Themas entgegen, das zuerst wie eine ferne Bogenlampe aussieht, bis es sich plötzlich zum vollen Tageslicht des Freien weitet, der sehnsuchtsvoll erstrebten und nun erst, nachdem sie genommen war, mit Gewinn wieder erreichten Tonika des ersten Themas. Aber das alles keimt aus einem anderen als dem Thema; es stammt aus weniger oder mehr, aus dem An- und Abschwellen der Erregung, aus Schwanken und Zaudern, Nachlassen, Erlöschen, Zweifeln, Aufsteigen und all den neuen dynamischen Ausdrucksmitteln eines sich wild hinstürzenden, sich rückhaltlos hingebenden, aussingenden, hinauswagenden Affekts, seiner Beleuchtungswechsel und dem weltlichen Spektakulum seiner Durchführung. (. . .) Derart sieht man hier völlig in das bewegte und zeugende, weltlich ausbrechende Innere herein. (. . .) Es ist hier eine Leidenschaft, das bloß innere Leben, die geschlossene Stille der Innerlichkeit zu verlassen, die das Ich zu einem wahrhaft kosmischen Gebilde verwandelt, so hoch und so tief, daß in ihm, ohne sich anzustoßen, Mond und Sterne auf- und untergehen könnten, und der ganze Umkreis der Menschlichkeit seinen Platz findet.« (Bloch: GA Bd. 3, 86f.)

Blochs kleine »Geschichte der Musik« endet freilich nicht mit Schubert, Mahler und Bruckner, sondern mit Wagner (ebd. 97–124). Er feiert an Wagners Werk, gegen die Apologie des »bloßen Naturwillens« in der Nibelungentrilogie (ebd. 118–123), das »Neue«, das »Unerwartete«: den »Sprechgesang und die unendliche Melodie« (ebd. 98; vgl. ebd. 99). An diesem Ende, bei Wagner, sei das Bisherige »wirklich da«, nehme es seinen wahrhaften »Anfang« (ebd. 97; vgl. ebd. 101–103). Im Tristan, der »tranzendenten Oper«, in der »zwei Menschen . . . von einer Welt in die andere« schreiten, sei die »Erlösung« der »eigentliche Gegenstand«: die »Geburt der Erlösung aus dem Geist der Musik« sei zur Darstellung gelangt (ebd. 108, 110, 111; vgl. ebd. 117, 122–124).

Die der »Geschichte« folgende »Theorie der Musik« (ebd. 124–201) entfaltet logisch-systematisch, was zuvor geschichtsphilosophisch konstruiert wurde: die »Geburt der Erlösung aus dem Geist der Musik« (ebd. 111). Die »Theorie« – genauer: die »philosophische Theorie der Musik« (ebd. 152–155) – sucht begrifflich zu fassen, was wesentlich nicht begrifflich, nicht abstrakt, nicht austauschbar, nicht reproduzierbar, unabgeschlossen ist (ebd. 124–145). Ihr Medium ist dieser Widerspruch, die Darstellung dieses Widerspruchs: von »Ton« und »Wort« (ebd. 138f.), von »Unfixierbarem« und Fixierbarem (vgl. ebd. 130), von nicht Reproduzierbarem und Reproduzierbarem. Einerseits transzendiert der »Ton« utopisch das »Wort«; so will die Musik »absolut werden« (ebd. 145). Nach Blochs Geschichtsphilosophie wurde die Musik nicht in den Fortschritt der »okzidentalen Rationalisierung« (M. Weber) hineingezogen, steht als Ungleichzeitiges (ebd. 57f.) außerhalb, und vermag darum über die Destruktivität des technisch-rationalen »Automatismus der Welt« (ebd. 22) »Erlösung« zu bewahren und zu versprechen (ebd. 111). Insofern langt das Wort nicht hin, die Musik-Utopie auszusprechen; insofern ist die Musik-Utopie das »Unsagbare« (ebd. 208). Als Utopie ist das »Kunstwerk« »prinzipiell unabgeschlossen« (ebd. 147). Es wäre erst vollendet, wenn das Ich nicht seiner selbst und seiner Welt entfremdet, wenn es mit sich und der Welt versöhnt wäre (vgl. ebd. 17–23, 38f., 45–48, 284); Bloch gibt dieser Utopie den Namen: »Ich und Wahrheit« (ebd. 149; vgl. ebd. 152, 154), »Wir« (ebd. 88; vgl. ebd. 207).

Andererseits ist die utopisch gerichtete Musik in sich eingesperrt, in sich abge­schlossen. Zwar verkündet sie die »Erlösung«, zwar kommt ihr eine »realisierende«, »handlungsmäßige Kraft«, eine »ungeheure Methode des Verwirklichens« zu (ebd. 117, 134, 138), aber sie ist in sich vollendet: »Denn der Bogen des großen Werks ist rein ästhetisch durchaus geschlossen« (ebd. 153). Die Selbstvollendung der Musik bewegt sich im Zusammen­hang von »Seele, Ausdruck und Inhalt« (ebd. 145–152, Zitat: 145); der »Künstler« bleibt »stets im Scheinen stehen.« (ebd. 151) Die »Kunst« als Kunst ist »eine immer noch innerweltlich virtuelle Vollendung« (ebd. 152). Ihr utopisch auf eine wahre Wirklichkeit gerich­teter Gehalt muß über sie hinaus, auch gegen sie, allererst freigesetzt werden. Das leistet das »Wort«: nicht als Medium technischer Rationalität, sondern als »spekulativer Begriff« (ebd. 155; vgl. ebd. 145) – der freilich seinen utopischen, auf Verwirklichung drängenden Gehalt nicht an sich selbst trägt, sondern aus der utopischen Musik empfängt (vgl. ebd. 152–155). Der »spekulative Begriff«, das Element der »utopischen Philosophie« (ebd. 260), ist seinerseits gleichfalls nicht in sich vollendet, sondern bedarf der weltverändernden Praxis (vgl. ebd. 149). In Rücksicht auf das Verhältnis von Ton und Wort wäre die Utopie als der Moment zu bezeichnen, »wo der Ton spricht« (ebd. 208).

Jener Widerspruch: von »Ton« und Wort«, von Musik und Musiktheorie, von nicht Reproduzierbarem und Reproduzierbarem, ist freilich schon in der Musik selbst enthalten als Widerspruch von »Form« und »Inhalt« (siehe ebd. 65, 146f., 149, 152–155). Musik als Form: das ist die Harmonielehre (ebd. 156–163), der Rhythmus (ebd. 163–168), der Kontrapunkt (ebd. 168–181). Wird innerhalb der Musik die »Form« gegen den Inhalt zum Selbstzweck und somit herrschend, verwandelt sie sich in eine »Formel«, die der Logik des Reproduzierbaren folgt (ebd. 157, 165, 169), und eliminiert den utopischen Gehalt der Musik. Am Rhythmus tritt dies deutlich hervor: Als »Formel« wird der Rhythmus zur abstrakten Zeiteinteilung nach dem Modell der »gesetzmäßigen« »Bewegung sichtbarer Körper«, des »bloßen Ablaufs der Welt« (ebd. 164f.); als Formel wird auch der Kontrapunkt zur »bloßen Geschicklichkeit« (ebd. 178). Als »Form« aber ist der Rhythmus »die Chiffer zu einer seelenhaften Aktion, die sich im wesentlichen innen, in dem Gegenstandsgebiet der Musik selber abspielt.« (ebd. 165; vgl. ebd. 166) Als Form enthalten die »Arten des Kontrapunkts« den »transzendierenden Valeurwert« der Musik (ebd. 169, 178).

Nun hatte Bloch jenen utopischen Gehalt am Ton erläutert: die Musik sei »unabgeschlossen« (ebd. 147), weil sie nicht reproduzierbar sei wie das Begrifflich-Abstrakte. Der Ton sei kein subjektunabhängiges Ansich: »So mag hier also nichts von selber klingen.« (ebd. 155) Der Ton sei wesentlich Ausdruck des Subjekts: »Es ist wichtiger, was in ihm vom Singenden selber umgeht, was also der S änger oder Spieler in den Ton ›hineinlegt‹, als was sein Gesang rein tonal enthält.« (ebd. 126) Die Expression sei zentral (ebd. 129) auch beim Rhythmus, in dem – als Form, nicht als Formel – sich das »tiefere sich Selbstzählen der Seele« ereignet (ebd. 165). Die derart rhythmisierte Zeit nennt Bloch eine »von Vernunft und Vorsehung bewegte Zeit« (ebd. 167). – Innerhalb der Musik wird die Herrschaft der Form bei Schönberg gesprengt durch die »herrlichsten und interessantesten Dissonanzen« (ebd. 159; vgl. ebd. 160). Innerhalb derMusik wird, durch das »Bachsche und Beethovensche Kontra­punktie­ren« (ebd. 168–181) in der Fuge und in der Sonate, die Verdinglichung der Form zur Formel aufgebrochen; bei Beethoven in der Weise revolutionärer Entzweiung, eines musika­lisch – durch den »Widerstreit der Themen« (ebd. 172f.) – ausgedrückten Widerspruchsgeistes (siehe ebd. 170–175). Näher beschreibt Bloch »vier große Weisen, Kontrapunkt zu haben«, die eine »Beziehung zu den metaphysisch-ethischen Ichsphären« aufweisen (ebd. 180f.).

Ist der Kontrapunkt allgemein die musikalische Form des Verhältnisses von Grund­stimme (cantus firmus) und Gegenstimme als »Antwort«, so daß beide in die »Einheit« eines harmonisch-gegensätzlichen Zusammenklangs aufgehoben werden (ebd. 170–175), dann liegt die höchste und zugleich tiefste Form des Kontrapunkts nicht in den Kompositionen, sondern im Verhältnis der Komponisten-Individuen Bach und Beethoven zu den Antwortenden, zu »unserer Rezeptivität« – Bach und Beethoven existieren als »transzendierender Kontrapunkt« (ebd. 180). Dieses Verhältnis der Einheit Gegensätzlicher ist zunächst ein Reflexionsverhältnis: das Gegensätzliche besteht nicht selbständig für sich, sondern nur in Relation, also in Einheit mit dem Anderen. Dadurch aber wird jedes, durch seine Reflexion im Anderen, zur Selbstreflexion getrieben: das wahrhafte Hören ist ein Akt der Reflexion und Selbstreflexion, durch den die Entfremdung von sich selbst und der Welt überwunden wird. Insofern wäre das Hören die utopische Überschreitung der entfremdeten Welt; der Hörer konstituierte sich als ein »neues Ich« (ebd. 197–201). – So wird die Form nicht beiseite geschoben, aber mit der Ex­pres­sion des Subjekts versöhnt, so daß ein »Zusammenfall von Ausdruckswahrheit und Kon­struk­tionswahrheit«, von »subjektiv Irrationalem« und »musi­ka­lischen Zahlen­verhältnissen« (ebd. 156, 162) resultiert. Durch die Form drückt sich »der Mensch« als das »direkte Maß aller Dinge« aus (ebd. 169). Im Verhältnis von Musik und Musiktheorie wird die Herrschaft der Form über den Inhalt gebrochen durch den »spekulativen Begriff«, der den utopischen Gehalt der Musik, der das »Ich«, das »Wir« als Einheit von Rede und Gegenrede, als utopisch gerichteten »Widerstreit« klärt (ebd. 148f., 172f.).

Der spekulative wäre der kontrapunktische Begriff: der Widerspruchsgeist der Dialektik. Dialektik ist sowenig eine gegen den Inhalt verselbständigte, auf jeden Inhalt anwendbare Methode wie die musikalische Form: sie wäre dann vom Widerspruch gegen Widersprechendes gereinigt, rein positiv, technisch, instrumentell, überhistorisch geltend. Die Musik-Utopie, die »Verkündigung« der »Erlösung aus dem Geist der Musik« (ebd. 111, 117), die durch die philosophische Theorie der Musik nicht nur über die in sich selbst vollendete Musik, sondern auch über die Philosophie selbst hinausgetrieben wird, ist indes nicht be­griff­lich zu antizipieren: sie geriete, nach Blochs Darstellung, zur technisch-rationalen »Formel«, zur Verdopplung des »Automatismus der Welt« (ebd. 22). Ist die Utopie negativ als Selbst- und Welterkenntnis des Ich, als Überwindung der Entfremdung des Ich von sich selbst und von der Welt zu bestimmen, dann ist die Utopie inhaltlich ein »integrales Selbstsein« oder »neues Ich«, formal aber ein unsagbares »Ding an sich« zu nennen (ebd. 168, 191–201, 204f., 345). Nun hat Bloch den utopischen Gehalt der Musik geschichtsphilosophisch aus ihrer Ungleichzeitigkeit expliziert: sie scheint vom Fortschritt der gesellschaftlichen Ratio­na­lisierung ausgenommen. Darum ist die Musik apriorisch und utopisch ineins. Das geschichtsphilosophische Apriori benennt Bloch durch Rekurs auf die jüdisch-christliche Mythologie: darin liegt, noch vor der Musik, das Land Nirgendwo. Weil die Musik sich als ein Ungleichzeitiges (ebd. 57) zum historischen Prozeß der Rationalisierung verhält, steht sie neben dem Prozeß der Auflösung der Utopie, der Ent-Göttlichung der Welt (vgl. ebd. 139–141, 275, 279) – darum konnte sie die Erbschaft der biblischen Offenbarung antreten, darum konnte die unter dem herrschenden Rationalismus erodierende utopische Eschatologie sich in der Musik bewahren (siehe: ebd. 202–208).

Bloch expliziert mithin die Musik-Utopie ausdrücklich im Geist und mit den Wortbildern der durch die Johannes gegebenen jüdisch-christlichen Lehre der Apokalypse: des bevorstehenden Zusammenbruchs der Welt und des kommenden Reichs Gottes (ebd. 181–191; vgl. ebd. 203–205); nach diesem letzten Buch des Neuen Testaments hat Gott die Offenbarung an den von den Toten auferstandenen, den Tod überwundenen Jesus Christus gegeben, der sie seinem »Knecht Johannes« kundtat. Auf dieser Grundlage begreift Bloch den »Geist der Musik«, der die »Erlösung« impliziert: als rein »Seelenhaftes«, Stoffloses, Überweltliches, Inwendiges – das über »das Grab«, den Tod hinausweist (ebd. 207; vgl. ebd. 224, 307ff.):

»Man hat oft von der Askese des Beethovenschen Klaviersatzes gesprochen, . . . Es ist nicht ganz unrichtig, wenn Bekker bemerkt, daß die b-Dur-Sonate und die Diabelli-Variationen letzthin unspielbar sind, als für ein Instrument geschrieben, das niemals existiert hat und niemals existieren wird, daß diese beiden Werke nicht mit dem realen Klang, sondern mit körperlosen, rein gehirnmäßigen Klangabstraktionen arbeiten, um sich der Klaviersprache nur als eines ungefähren, prinzipiell skizzenhaften Schriftzeichens zu bedienen. So dünn also auch der Ton schon an weltlicher Fülle ist, an der Kraft, die Formen einer breiten und vielgestaltigen äußeren Welt in sich aufzunehmen, so begrenzt bleibt auch das tiefere Vermögen dieses überwiegend künstlichen Produkts, mit den Werken seiner eigengesetzlichen Bestimmtheit vor den Thron des inneren, rein innerlich erleuchtenden musikalischen Gottes zu treten.« (Bloch: GA Band 3, 183f.)

Darum entzieht sich die Musik, trotz ihrer zahlenmäßig ausdrückbaren Proportionen, der naturwissenschaftlichen, technischen, mathematischen, empiristischen Rationalität (vgl. ebd. 182, 187): die »ästhetische Tonphysik bleibt öde ohne eine neue Ton-Metapsychik«, eine »Tonmetaphysik« (ebd. 183f.). Die Musik transzendiert die bestehende, die äußere Welt, die »Erscheinungswelt«; sie eröffnet eine wahre Welt des antizipierenden Traums:

»Nur muß hier zwischen Traum und Traum unterschieden werden: der eine sinkt herab und gibt lediglich eine abgeleitete, eine Mondscheinlandschaft der Tagesinhalte, ein bloßes Erinnern dessen, was schon war; und der andere zieht hinüber, ist ein Dämmern, ein am Klangsubjekt, schließlich ontologischen Wortsubstrat allernächst geschehendes noch nicht bewußtes Wissen dessen, was sich dereinst, drüben, im noch ungeschehenen Drüben zuträgt; freilich so, daß auch hier ein Wiedererinnern, ein sich Zurückfinden in die Heimat wirksam ist, aber eben eine Heimat, in der man noch niemals war und die dennoch Heimat ist. Der Leib aber dieses letzten Traums mitten in der Nacht ist allemal von Gold, ist Ton, Goldton; denn gleich dem bedeutenden Menschen, der mehr Fehler als die anderen macht, weil er niemals ganz ermessen kann, wie unbedeutend, ihm unhomogen die Welt ist, kann auch der letzte Gott, das Wehen des letzten Gottes, in keinen Rahmen bloßer Sichtbarkeit und Bildhaftigkeit, Materialwert mehr eingehen.« (Bloch: GA Band 3, 186; vgl. ebd. 199f.)

Die utopische »Heimat« steht jenseits der reproduzierbaren, empirischen, natur­wissenschaftlich-technisch beherrschbaren Welt, jenseits des immergleichen Begriffs (ebd. 202f., 206); sie ist sowenig auf den Begriff zu bringen wie der »letzte Gott«. Das jüdische Verbot, den Gottesnamen auszusprechen (ebd. 201, 273, 339; vgl. Horkheimer/Adorno 1944/47, 35f.), ist das Verbot, das »noch ungeschehene Drüben« begrifflich zu bestimmen – es würde in die rationalisierte Verdopplung des Bestehenden verwandelt. Bloch kritisiert (GA Bd. 3, 187–190, 193–197), diese Lehre der Musik-Utopie sei nicht in die Metaphysik einer kosmologischen Musik von Pythagoras bis Schopenhauer aufzulösen. Sie stehe vielmehr auf dem Boden der Apokalypse: der Verheißung des Endes der Welt und des kommenden Reichs Gottes:

»Denn auch Schopenhauer ist noch weit davon entfernt, das wahrhaft Apeironhafte der Musik zu verstehen, sofern er diese nur passiv, kosmisch und nicht im Individuellen, Heroischen, Christlichen verankert, sofern er mit anderen Worten der Musik zwar die Kraft gibt, der Erscheinung das Ding an sich hinzuzusetzen, jedoch dieses Ding an sich lediglich als ein Metaphysisches unbestimmter, individuationsloser, prozeßfremder, ja bereits empirisch aller­realster Art definiert. Die Selbstbegegnung, Wirbegegnung (. . .), wie sie als Grundbegriff der Wertphilosophie, letzthin der Apokalypse, der letzthinnigen Enthüllung des Wirproblems, als dem Grundbegriff des gesamten Systems der Philosophie entspricht, darf das Wahre weder als einfach induktive Tatsachenlogik noch auch als griechisch definitive Umfangslogik eines Allgemeinsten und darum Realsten bestehen lassen. Sondern es gibt, wodurch eben der verantwortliche Künstler dem Philosophen näher steht als der subjektlose Empiriker, noch eine andere Wahrheit als diejenige dessen, was gerade existiert; eine, die nur auf uns geht, auf den Umkreis der von uns gefärbt erlebten, beschleunigend aufgefassten und religiös vollendeten Welt, auf eine durchaus ›subjektive‹ und doch höchst substantielle Welt – jenseits des bloß empirisch-komparativen Status des gegenwärtigen Zustands und seiner einfach erreichten Seinslogik –, gerichtet nicht auf Dingerklärung und nicht auf Menschenklärung, sondern auf eine erste Adäquation der Sehnsucht an sich selbst, auf das Innere und unbekannte sich Vernehmen hinter der Welt.« (Bloch: GA Band 3, 190f.)

Das Hören der Musik, als kontrapunktisches Verhältnis von Komponisten-Individuen und Antwortenden, ist darum kein unangestrengtes, konsumierendes Hören, sondern ein vom Geist des Widerspruchs eröffnetes antizipierendes Träumen, ein spekulatives Erhören des utopischen Geistes der Musik: der Verkündung der »Erlösung«. Dieses utopische Hören ist freilich das Vernehmen einer »irdisch nicht realisierbaren Utopie« (ebd. 201; siehe ebd. 199).

Bloch beschließt den großen ersten Teil von Geist der Utopie über Die Selbs­tbegegnung, in dem er dem »internen Weg« der »Erlösung« gefolgt ist, mit einem längeren Kapitel über Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage (ebd. 209–287). Darin entwickelt und präzisiert er die geschichtsphilosophisch, auf der Grundlage der Johannes-Offenbarung explizierte Idee des utopisch antizipierenden Traumes weiter. Dieser »Wachtraum von Musik und Spekulation« (ebd. 213), so variiert er einleitend die bisherige Erörterung, scheint in der apokalyptischen Gegenwart auf: einer Zeit der »größten Verdunkelung, sowohl des Innen als vor allem auch des Außen und Oben, die jemals in der Geschichte vorkam.« (ebd. 212) Der Traum besitzt seine Quelle im Orient (ebd. 213–217), in der »Bibel«, im »apokalyptischen Bewußtsein«: in »Zion«, in »Jerusalem« (ebd. 215, 249). Bloch nennt die Paradoxie: gerade im »Nihilismus der Neuzeit«, »mitten im Einsturz der Erde und des Himmels«, brennt das »Licht« des »Wachtraums«, der »Wendung aller Dinge zum Paradies«; »nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirklichkeit.« (ebd. 216) Die »vorhandene Welt« also, dieses Nichts, eliminiert nicht die Utopie, sondern setzt sie allererst frei, wie die Offenbarung, wie die Apokalypse lehrt: »Was hier spricht, das Gebet der Erkenntnis: möchte es doch so sein!« (ebd. 218) Das utopische Licht scheint, weil es dunkel ist wie nie zuvor (vgl. ebd. 212). Es drängt über das Inwendige hinaus nach Verwirklichung. Obwohl Bloch so eindeutig von der »irdisch nicht realisierbaren Utopie« sprach, insistiert er mit Franz Xaver von Baader (1765–1841) – gegen Kant (ebd. 219–226) – darauf, daß das Intelligible nicht absolut vom Empirischen getrennt sei, daß deshalb auch der »Kantisch utopische Geist« einer bloß unendlichen Annäherung an die Vernunft gegen sich gerettet werden müsse: daß die mögliche Verwirk­lichung der Vernunft-Utopie in der »subjektiven Spontaneität« enthalten sei (ebd. 219, 225f.).

Diese Verwirklichung, argumentiert er gegen Hegels sich selbst vollendendes und daher abschlußhaft in sich kreisendes philosophisches System, fordert die Veränderung der Welt durch »Handeln« (ebd. 226–236). Nun hat Bloch die Utopie geschichtsphilosophisch aus dem »Geist der Musik« und, tieferliegend, aus der Eschatologie expliziert. Also muß er, um im Inwendigen den utopisch antizipierenden Traum zu bestimmen, den Begriff des Traums ebenso wie den des Unbewußten differenzieren. – Zunächst ist, nach Blochs Geschichtsphilosophie, der utopische Traum nicht in der Aufklärung enthalten. Wenn das Ich seiner selbst nicht unmittelbar bewußt ist, sondern nur rückwärtsgerichtet, durch Aufklärung der Vergangenheit, dann enthält solche Aufklärung wohl ein Bewußtsein des »gerade Vergangenen«, aber nicht des »gelebten Augenblicks« der Gegenwart, schon gar nicht der besseren Zukunft – beide, Gegenwart und Zukunft, liegen im Dunkeln (ebd. 237–256, vor allem: 253, 256, 261). Bloch negiert mithin, nach seiner Version der »Entzauberung der Welt«, den Zusammenhang von Erinnerung, Gegenwartsbewußtsein und Utopie: die Aufklärung scheint ihm an die vergangene Geschichte gefesselt. – An die Vergangenheit gefesselt ist auch jener Traum, den Freud analysierte (ebd. 237–241). Dieser »Schlaftraum« reproduziert in symbolischer Sprache jenes »Un­bewußte«, in dem sich etwas sedimentierte, das »irgendeinmal, in der Kindheit und Vorgeschichte, vergegenwärtigt war«. – Von diesem unbewußten Vergangenheits-Traum verschieden ist der »apriorische Wunschtraum«, der »produktive Wachtraum« (ebd. 239f.). Wenn die aufklärende Erinnerung ohne utopischen Gehalt ist, muß dieser Traum der »Hoffnung«, dieses »Unbewußte« sich – jenseits der Aufklärung, jenseits des Begriffs – aus einer anderen Quelle speisen: nach Blochs Rekurs auf die Eschatologie aus dem »Messias­geist« (ebd. 241–243). Dieser ist, als ein Jenseits des rationalen Begriffs, das »noch nicht Bewußte«, das »Unbewußte höherer Ordnung«: das »Ding an sich«, das »Unsagbare«, das »Unnennbare«, der »Urbegriff«, das »Urwort« (ebd. 243–247, 253) – »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« (Die Bibel: Joh. 1,1) Die »Grenze zum noch nicht Bewußten« überschreitet, gespeist vom »Messiasgeist«, vor allem die »Musik«, allgemein die »schöpferische Arbeit selber« (Bloch: GA Bd. 3, 242f.). – Das Objekt nun, auf das sich der »produktive«, utopisch-messianische »Wachtraum« richtet, ist so wenig begrifflich zu fixieren wie seine eigene Quelle: die Utopie ist das Unsagbare. A priori ist das Erfüllende des Wachtraums unerkannt, nur erahnt; bekannt kann nur die »falsche Sättigung« sein (ebd. 247–250). Die »Frage« nach der »Seligkeit« nennt Bloch insofern: die »einzig erlaubte«, abe r eben »unkonstruierbare Frage« (ebd. 209ff., 247).

Bloch hat geschichtsphilosophisch den Fortschritt der »Entzauberung der Welt« (M. Weber) angedeutet als Weg vom ursprünglichen Mythos bis zur Aufklärung und schließlich zu den utopielosen Einzelwissenschaften (vgl. ebd. 20–29, 54–60, 202–208, 239–241, 251f.). Am Ende kehrt er, explizit, zum »Mythos« zurück: zur Johannes-Offenbarung, zur Eschatologie der

»Juden«, die auch die »Philosophen« bewegt (ebd. 256). Aber dieser Mythos ist nicht der zurückliegende, sondern ein »anderer als bisher«, ein kommender: ein »Mythos an Utopie« (ebd.). Nachdem der weltgeschichtliche Prozeß der Rationalisierung die utopiefernen Einzelwissenschaften gebar, nachdem die »Entzauberung der Welt« (M. Weber) eine »gottlos« gewordene Welt konstituierte (ebd. 275, 279), kann die Utopie nur im Mythos gefunden werden oder nirgends: in dem, was vom Fortschritt nicht mitgerissen wurde – in der Kunst, zumal der Musik, in der Mythologie der Juden und Christen. Dieser utopische Mythos weist über den toten »Automatismus der Welt«, überdas in sich selbst eingesperrte Ich: das »selbstische Ich« (ebd. 257), hinaus (vgl. ebd. 22, 240) auf eine »letzte Zukunft«, einen »Endzustand« (ebd. 256). Von hier aus, von dieser »anderen Welt«, fällt Licht auf die »bestehende«, die »vergangene Welt«: die Welt der toten »Tatsachenwahrheit« (ebd. 260). So erst, durch dieses »Sich-selber-Denken«, gelangt das an sich selber leere Ich über sich hinaus zu sich selbst und zum »Wir« ineins (ebd. 256f., 258, 260). Nachdem die Aufklärung im Rationalismus der Einzelwissenschaften zur Vollendung, zur toten Mechanik geraten ist, ist der Zusammenhang von Selbst- und Welterkenntnis, von Ich und Wir, von Selbst- und Weltveränderung (vgl. ebd. 258 260), nur noch eschatologisch und nicht länger strikt immanent-reflexiv gegeben: als Utopie »wahrhafter christlicher Liebe«, in der das »Ich« im »Nächsten« lebt (ebd. 266f.; vgl. ebd. 272). Emphatisch heißt die Utopie, eschatologisch: »die rufende Kenntnis unseres Namens, des endlich gefundenen Namens Gottes« (ebd. 339).

So hat Bloch (GA Bd. 3) durch eine an der Eschatologie gebildete Geschichts­philosophie die »Geburt der Erlösung aus dem Geist der Musik« (ebd. 111) dargelegt. Dieser erst inwendige, antizipierende Traum (ebd. 186, 237–287) drängt nach auswendiger Verwirklichung. Nachdem der »Heiland . . . und Gott selber . . . die eigene Kraft, zu kommen, und scheinend zu wirken, eingebüßt« haben (ebd. 203) durch die Aufklärung, das »Zeitalter der Gottferne« (ebd. 221, 279), bedarf es des handelnden Subjekts, um die Welt, »die da sein soll . . . um Gottes Willen« (ebd. 233; siehe ebd. 346), zu erschaffen. Dieses Auswendigwerden der Utopie erläutert Bloch im kleinenzweiten Teil von Geist der Utopie unter dem Titel: Karl Marx, der Tod und die Apokalypse, oder über die Weltwege, vermittelst derer das Inwendige auswendig und das Auswendige wie das Inwendige werden kann (ebd. 289–346). Der Titel deutet unmißverständlich den Gedanken an: »Marxismus und Religion« in utopischer, revolutionärer Absicht zu versöhnen (ebd. 346). Bloch wiederholt ausdrücklich die einleitenden Bemerkungen und Andeutungen über die weltgeschichtliche Krise von bürgerlicher Gesellschaft und Arbeiterbewegung: über den Ersten Weltkrieg, über die »Restauration« der »Reaktion vor hundert Jahren«, über die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts (ebd. 293–297; siehe ebd. 11–13), um die Aufgabe anzugeben, vor der »wir Sozialisten« stehen: »praktisch zu sein«, eine »praktisch-exemplarische Konkretionsstufe zu erstreben«. Dieser Fortgang, bemerkt Bloch, ist notwendig: »wie könnte es eine Innerlichkeit geben, . . . , wenn sie aufhörte, aufständisch und trostlos an allem Gegebenen zu sein?« (ebd. 295f.). Freilich erneuert er auch die Absage an jede Formulierung des Kommenden, des »Reichs sittlicher Wesen«: der »revolutionäre Begriff« beschreibt »nicht unbedingt sogleich Aufrufe und Parteistatuten«, weil das »denkende Subjekt nicht nur in seiner Zeit steht«, sondern wesentlich »zeit-exzentrisch« ist (ebd. 296f.).

Bloch formuliert den ausstehenden, den fälligen »sozialistischen Gedanken« (ebd. 293–307; vgl. ebd. 12). Unter diesem Titel skizziert er eine Theorie der Revolution: der Selbst- und Weltveränderung. Das Erträumte, das begrifflich nicht zu fixieren, zu antizipieren ist, kann nur auf einem Weg verwirklicht werden, auf dem die Revolutionäre zunächst vor allem Personifikationen der herrschenden Verhältnisse sind und mit Mitteln der Verhältnisse diese stürzen, um dann doch das »Reich sittlicher Wesen« (ebd. 297) zu verwirklichen. – Was also gilt es zu stürzen, welches »schlecht Bestehende« ist zu »vernichten«? (ebd. 302) Das ist, sagt Bloch: Wirtschaft, Militär, Verwaltung, organisiert durch den bürgerlichen Staat (ebd. 297–299). Der Staat ist der Staat des Kapitals, inhaltlich und formal: das Recht, das er setzt und dem er Geltung verschafft, ist allererst Eigentumsrecht; der »Formalismus« des Rechts entspricht der »Fähigkeiten der Ausbeuterklasse«, dem »Rechnen, Mißtrauen« und der »hinterhältigen Kalkulation« (ebd. 297f.). Der Staat ist sodann, als Rechts-Staat: Verwaltungsstaat. Der Staat ist endlich: »Kriegsstaat«, »Macht«-Staat (ebd. 298f.). – Welches ist das revolutionäre Subjekt? Das Proletariat, eine »völlig neue Klasse«, im »Bund« mit den »Denkern« der utopischen Philosophie (ebd. 299). Bloch zitiert aus Marxens Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung: »die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (ebd. 300; siehe: MEW 1, 391) – Wie kommt der revolutionäre Akt in Gang, wie schreitet er fort? Die Proletarier, Subjekte einer Gesellschaft, in der der »Eigennutz« (Marx: MEW 23, 190) herrscht, handeln zunächst nach ihrem »Privatinteresse«: sie wollen die »Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft« (Bloch: GA Bd. 3, 299). Sie können dem bestehenden »Herrschen«, der bestehenden »Macht« nur »machtgemäß entgegentreten« (ebd. 302). Aber damit ist der gesellschaftliche Kosmos des Privatinteresses, der Herrschaft und Macht nicht aufgehoben: nur die Subjekte wären vertauscht. Wie aber erlangen, unter diesen Umständen, die Proletarier ein wahrhaft revolutionäres, eben weltveränderndes Bewußtsein, wie gelangen sie zur revolutionären Praxis? Marx, kritisiert Bloch (ebd. 301f.), hat hier Hegels ›List der Vernunft‹ mythizistisch auf die Entfaltung der Produktivkräfte übertragen und sich so der Möglichkeit und Wirklichkeit der Revolution versichert. Wenn die Logik der Produktivkraft-Entfaltung, wie Blochs Geschichtsphilosophie lehrt, jedoch die instrumentelle« Logik des »Automatismus der Welt« ist (ebd. 22, 299), kann die instrumentelle Rationalität nicht als emanzipatorisch aufgefaßt werden.

So führt Bloch seine Marx-Kritik weiter: Marx habe nur die kommende, »notwendig ökonomisch-institutionelle Änderung . . . bestimmt«, die »Wirtschaftsweise des Sozialismus«, den »mühelos funktionierenden Mechanismus der Ökonomie und des Soziallebens« (ebd. 303f.). Aber der Kritiker, der »jede Idee« als Ideologie entzauberte, habe damit den »religiösen Urwunsch verabschiedet« und »fälschlich« den »Himmel« preisgegeben; statt »die alten Ketzerträume vom besseren Leben . . . zu sichten und zu erben«, habe Marx diese Träume verabschiedet (ebd. 304f.). So mangelt es diesem Sozialismus, der sich allein auf die »kommunistisch durchorganisierte Sozialwirtschaft« konzentriert, an einer Idee vom »Leben jenseits der Arbeit«: »einer notwendig und a priori nach dem Sozialismus gesetzten, neuem Offenbarungsgehalt zugewandten Kirche« (ebd. 306f.; vgl. ebd. 333). Die wirt­schafts­theoretische Ordn ung und Nüchternheit«, fordert Bloch (ebd. 306), hat sich mit der »politischen Mystik« zu verbinden. Um also den Kosmos von Eigeninteresse, Herrschaft und Macht zu revolutionieren, bedarf es, auch nach dem Marx der Kritik der Hegelschen Rechts­philosophie. Einleitung, der Philosophie: der »objektiven« »Idee des Guten«, der »echten Idee der Gesellschaft« (ebd. 300, 302).

Diese bestimmt sich nicht, nach Blochs eschatologischer Geschichtsphilosophie, durch den instrumentellen Rationalismus der Arbeits-Ökonomie; sie geht auch nicht aus der aufklärenden Erinnerung der Vergangenheit hervor, sondern apriorisch-utopisch aus der Offen­barung, der Apokalypse (vgl. ebd. 237–243). Freilich bringt der Philosoph »das Gute« nicht einfach mit und setzt es dem »Interesse« des Proletariats wie das wahre dem Falschen entgegen: das »gesellschaftliche Sein« bestimmt das »Bewußtsein«, nicht umgekehrt das Bewußtsein das Sein (ebd. 303; vgl. ebd. 302). So kritisiert Bloch den zeitgenössischen Marxismus, die Theorie von Marx selbst, als eine jener instrumentellen Rationalität verfallene Theorie, die bereits die zeitgenössische bürgerliche Welt prägt (vgl. ebd. 22, 306): darin besteht der Rechtsgrund der eschatologisch begründeten, musiktheoretisch ausgeführten »utopischen Philosophie« (ebd. 260).Es mangelt mithin der Theorie von Marx, der Marx folgenden Theorie: an der »Idee des Guten«, an der »Idee« überhaupt, ohne die der »neue Mensch« (ebd. 303; vgl. ebd. 342) nicht ist. Diese Idee entwickelt Bloch unter dem Titel: »Die echte Ideologie des Reichs« (ebd. 307–342). Die Idee kann nur eine sein, die die Logik der instrumentellen Rationalität transzendiert. Ist diese Rationalität auf die Selbsterhaltung durch Natur­beherrschung gerichtet, ist sie dem Zusammenhang von physischem Leben und physischem Tod einbeschrieben. Die fragliche Idee gilt mithin dem Vermögen, »den Tod zu bestehen, zu besiegen« – dem »ewigen Leben« in der Seele, sei es in der »unsterblichen«, sei es in der wandernden Seele: der »Auferstehung« von Mensch und unterjochter Natur (ebd. 307, 321–331; siehe: ebd. 307–318, 342). So zieht Bloch die sozialistische Konsequenz aus der Johannes-Offenbarung, aus der »Apokalypse als dem absoluten Werk des Menschensohns« (ebd. 318). Es gelte, formuliert er im Anschluß an Schelling, jenseits des »Räderwerks des Leibes«, jenseits dessen »empirisch faßbarem Mechanismus«, das »identisch Bleibende« der »unzerstörbaren« Seele als »Kern« »unserer Persönlichkeit« aufzufassen (ebd. 315). Wenn die herrschende instrumentelle Rationalität alles in einen mechanischen »Schematismus« auflöst, alles abtötet, so daß »die Toten das Tote begraben« (ebd. 240), dann manifestiert sich in der »Todessehnsucht«, der »Todesfreude«, die den Tod transzendiert, kein Lebensüberdruß, sondern ein »Lebensüberschwang« (ebd. 314): »das ganze Leben« (ebd. 319). Im Tod, der nicht gefürchtet wird, wird der Tod überwunden: denn die »Todesfurcht« ist nur der Spiegel eines abgestorbenen Lebens, dem die mißlungene, das Selbst auf ein Physisches reduzierende und insofern zerstörende Selbsterhaltung die absolute Katastrophe ist (vgl. ebd. 314). Wie Bloch (GA Bd. 3, 275) sich einmal ausdrücklich vor Lukács’ Metaphysik der Tragödie verneigt, so hat sich der Leser, durch kritische Würdigung des Werks, vor Blochs Geist der Utopie zu verneigen.

Geist der Utopie ist, in der Geschichte der an Marx anschließenden Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, von epochaler Bedeutung wie Lukács’ Geschichte und Klassen­bewußtsein und Korschs Marxismus und Philosophie, weil er die zeitgenössische Krisis von bürgerlicher Gesellschaft, kapitalistischer Politik-Ökonomie und Arbeiterbewegung als weltgeschichtliche Krisis aufgefaßt und das Problem theoretischer und praktischer Kritik jener Gesellschaft bewußt gemacht hat. Er hat damit nicht nur den Verfall der Vernunft in der bürgerlichen Gesellschaftstheorie und im Marxismus der Zweiten Internationale kritisiert, sondern – durch die Begründung der Kritik aus der jüdisch-christlichen Eschatologie und der Musik – auch zentrale Argumente der späteren Kritischen Theorie Horkheimers und vor allem Adornos angeregt. Herausragend ist Geist der Utopie als Vorarbeit zu Das Prinzip Hoffnung, das in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts singulär ist. Indes ist Geist der Utopie dem Kritisierten doch wesentlich verhaftet geblieben, weil die Kritik dem Bestehenden bloß entge­gen­gesetzt, also dogmatisch vorausgesetzt ist.

Vor allem hat Bloch den weltgeschichtlichen Prozeß der Entmythologisierung, des Fortschritts von der ursprünglichen Mythologie zu den utopie- und gottlosen rationalistisch-empiristischen Einzelwissenschaften und zum atheistischen Arbeits-Sozialismus (ebd. 297–307) nicht aufgeklärt, sondern die kritisch-utopischen Potentiale jenseits dieses Fortschritts in den Bereichen gesucht, die scheinbar von jenem Fortschritt nicht mitgerissen wurden. So rekurriert seine Kritik auf den Mythos: nicht den ursprünglichen, sondern den utopischen Mythos; nicht auf den Vergangenheitstraum, sondern auf den utopischen Wachtraum; nicht auf das Unbewußte, sondern auf das noch nicht Bewußte. Die Erinnerung des Fortschritts ist somit von der Utopie, die Aufklärung der vergangenen Gewaltgeschichte von der utopischen Hoffnung entkoppelt. Sodann hat Bloch nirgends dargelegt, warum die Musik, als Erbin der Offenbarung des Endes der Welt und des kommenden Reichs Gottes, vom Fortschritt der »Entzauberung der Welt« ausgenommen ist. Bei den Reflexionen zu Wagner etwa wird vermißt, was durchgängig ausgelassen bleibt: der Nachweis, warum die musikalischen Produktionen das apriorisch-utopische Ungleichzeitige sind. An keiner Stelle skizziert Bloch eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte, deren Logik sich die Musik – mit utopischem Gehalt –entzog. Allenfalls angedeutet ist die Rezeption der Weberschen Geschichtstheorie der »okzidentalen Rationalisierung«, zu der die Musik als das »begrifflich Unfixierbare« (ebd. 130) quer steht. Bloch hätte den Nachweis der Ungleichzeitigkeit der Musik indes nur erbringen können, wenn er eine Aufklärung der »Entzauberung der Welt« formuliert hätte – die ihm scheinbar, aus gesellschaftsgeschichtlichen Gründen, verwehrt ist. Dann aber hätten die Eschatologie und die Musik ihre einzigartige utopische Stellung verloren; dann wäre in der »Entzauberung« doch nicht alles verloren. So zeichnet sich wesentlich durch Erinnerung der einleitenden Bemerkungen ab, was Bloch als das »transzendentale Pathos«, als »mystischen Gewinn« bei Wagner erkennt: das musikalisch und poetisch ausgedrückte Überschreiten des »Sterbens« im Tristan kann, während des mit wissenschaftlich-technischen Mitteln geführten Ersten Weltkriegs, als »welterlösende« (ebd. 111) Utopie erscheinen. Die Auslassung ist nicht zufällig. Gilt der »Geist der Musik« als ein Apriorisch-Utopisches, eben als »Prinzip Hoffnung«, dann ist die Utopie nicht aus einem Prozeß der Aufklärung hervorgegangen, sondern dogmatisch gesetzt: mythologisch, anthropologisch, naturphilosophisch (vgl. ebd. 227, 256, 291f.). Die »Musik als Verkündigung«, formuliert Bloch (ebd. 117), ist die »beginnende Lösung unserer geheimen Natur«.

So steht Blochs Geist der Utopie neben dem technischen, hoffnungslosen und destruktiven Rationalismus von kapitalistischer Politik-Ökonomie und positiver Einzel­wissen­schaft: als Gegensatz zur Rationalität der Selbsterhaltung, zur Logik von physischem Leben und physischem Tod. So visiert Bloch eine kommende Gesellschaft an, die auch eine Arbeits­gesellschaft, ein »Mechanismus der Ökonomie« ist (ebd. 304), in der aber das Reich der Freiheit ein »Leben jenseits der Arbeit« ist, ein »Reich sittlicher Wesen« (ebd. 297). Der logos des technischen Rationalismus, der Arbeit und der Produktivkraftentfaltung, der die kapi­ta­listische Politik-Ökonomie bestimmt und – nach Blochs treffender Beobachtung – auch die sozialistische Kritik von Marx und nach Marx prägt, bleibt, als unaufgeklärter, in Kraft: auch die »kommunistisch durchorganisierte Sozialwirtschaft« bleibe ein »Mechanismus«, eine Arbeits- und Planwirtschaft (vgl. ebd. 292, 303). Die zentrale »Idee«, die diese instrumentelle Rationalität zu transzendieren scheint, ihr entgegengesetzt und damit doch verhaftet ist, ist: die apokalyptische Lehre des Sieges über den Tod, der Auferstehung, der Offenbarung des Gottesnamens (ebd. 339, 346). Auch diese Aporie wird in die Kritische Theorie der Gesell­schaft tradiert.

Trennmarker