Anton Wellm – Die wieder Deutschland! * Rezension zu: Jan Gerber, Nie wieder Deutschland?
Anton Wellm
Nie wieder Deutschland!
Es ist ein Allgemeinplatz, daß die radikale Linke mit »der Geschichte« ihre Schwierigkeiten hat. In der Theorie wabert die Diskussion um den »richtigen« Geschichtsbegriff irgendwo zwischen Marx, Adorno und der postmodernen Philosophie. In der Praxis scheint die Linke mitunter weitgehend geschichtslos zu agieren. Es ist daher eher die Ausnahme als die Regel, daß sich Linke systematisch mit der aktuelleren Geschichte der Linken befassen. Eine solche Ausnahme ist die Dissertation von Jan Gerber, die jetzt in Buchform unter dem Titel Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des »realen Sozialismus« vorliegt.
Das inhaltliche Gravitationsfeld der Studie liegt in der Zeit von 1989 bis 1992. In diesen Jahren, so Gerbers These, mußten sich die Strukturen und Binnenbeziehungen der deutschen radikalen Linken zwangsweise neu formieren. Es entstanden die Konflikte, die innerlinke Debatten und Auseinandersetzungen bis heute prägen. Auf den Punkt gebracht, besteht das Hauptanliegen der Studie darin, zu klären, warum die Linke in jener Zeit »so reagierte, wie sie reagierte«. Adressiert ist die Analyse an das wohlgesonnene Fachpublikum. Der Autor selbst sieht sie selbstbewußt als Beitrag zum tieferen Verständnis aktueller Konflikte, »mit denen sich konfrontiert sieht, wer […] gegen den allgemeinen, postmodernen, kommunitaristischen und kulturrelativistischen Trend auch und gerade innerhalb der Linken an den Prämissen der Aufklärung festhalten will«. Wem das zu viel des Guten ist, der sollte dennoch weiterlesen.
Über vier Hauptkapitel verteilt, schlägt Gerber einen weiten geschichtlichen Bogen von der Zeit um das Jahr 1968 bis in die Mitte der Neunziger und darüber hinaus. Die Darstellung stützt sich auf eine breite Quellenbasis und nimmt stets gleichermaßen auf Inhalte, Fragen der Organisierung und auf innerlinke Kräfteverhältnisse Rücksicht. Auf Zeitzeuginnen-Interviews wurde verzichtet, was die Qualität der Analyse aber nicht weiter beeinträchtigt. Gerbers Analyse setzt mit dem Moment der Auflösung der APO ein und verfolgt linksradikale Debatten um Antimilitarismus und neuen Internationalismus bis zur historischen Zäsur von 1989.
Nach Gerbers Interpretation verschärfte der Zusammenbruch der DDR die Krise bestehender linksradikaler Strukturen in doppelter Hinsicht: Während die Strukturen in finanzielle Bedrängnis gerieten, brach gleichzeitig das bisherige politische Koordinatensystem in sich zusammen. Die radikale Linke reagierte auf die »Deutschlandfrage« mit einer Spaltbewegung: »Während die Bevölkerung – insbesondere der DDR – der traditionalistischen Linken als Opfer des Wiedervereinigungsprozesses galt, begriffen ihre innerlinken Antipoden die Bevölkerung in Ost und West als Rassisten, Nationalisten und Antisemiten«. Während das traditionalistische Lager versuchte, die aktuellen Ereignisse mit den bewährten Kategorien zu interpretieren, rückten für die »antideutsche« Fraktion die NS-Vergangenheit und der Holocaust in den Mittelpunkt der Analyse. Damit, so die Deutung Gerbers, wurde an eine Debatte angeknüpft, die in den vierziger Jahren für kurze Zeit geführt und mit Beginn des Kalten Krieges abgebrochen worden war. Es ging nun erneut um die »Frage nach der Bedeutung des Holocaust für das linke Verständnis von Fortschritt und Geschichte«, die »Positionierung gegenüber Israel«, sowie die »Frage des Antisemitismus und des Verhältnisses zwischen Volk und Nation«.
Letztlich, so der Autor, ergab sich das tiefe Zerwürfnis der Linken aus all diesen Fragen, die jedoch stets in einer zusammenliefen: Der Frage nach dem Verhältnis zum Westen, und den damit metaphorisch in-eins-gesetzten bürgerlichen Gesellschafts-, Freiheits- und Individualrechten. In dieser Diskussion um die Austarierung des Freiheits- und Gleichheitsanspruchs wurde die Übereinstimmung zwischen der radikalen Linken und der »Partei der Gleichheit« teilweise aufgehoben. Der antideutschen Fraktion, so Gerbers Fazit, ging es dabei aber nicht um die Abkehr vom Ideal des Kommunismus oder der Revolution, sondern vielmehr »um eine Synthese von Freiheit und Gleichheit […] oder, weiter gefaßt: Materialismus und Idealismus auf kapitalismuskritischer Grundlage«.
Forschungsarbeit zu zeitgeschichtlichen Gegenständen ist geprägt vom Konflikt zwischen dem Rationalisierungsanspruch des Forschenden einerseits und dem Duktus der Zeitzeuginnen andererseits. Es gibt verschiedene Wege des Umgangs mit diesem Problem. Gerber hat einen vergleichsweise sympathischen gewählt: »Es wäre«, heißt es im Vorwort der Studie; »gelegentlich von Vorteil, wenn ein Buch den Gegenstand der Kritik in einen Gegenstand historischen Interesses verwandeln könnte«. Läßt sich das Bedürfnis, bestimmte politische Standpunkte (im Zweifelsfalle nebst deren Trägerinnen) in den Orkus der Geschichte zu werfen, freundlicher formulieren? Hier wird deutlich, in welcher Absicht Nie wieder Deutschland? geschrieben wurde und wie die Studie gelesen werden sollte: als eine politische Streitschritt. Das Fragezeichen im Titel erscheint vor dieser Einsicht als ein (vielleicht etwas zu kokettes) Zugeständnis an die wissenschaftliche Etikette.
Aus: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität Nr. 38 (Dezember 2010)