Luis Liendo Espinoza – Rezension zu Grigat, Postnazismus revisited
Luis Liendo Espinoza
Rezension zu Grigat, Postnazismus revisited
Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert ist die überarbeitete Auflage des 2003 von Stephan Grigat herausgegebenen Sammelbandes Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. Neben den Beiträgen der Erstauflage wurde diese Ausgabe um drei neue Beiträge erweitert, während ein Beitrag, der die die österreichische Protestbewegung gegen die ÖVP-FPÖ Koalition (2000-2005) behandelte, ausgelassen wurde.
Die Beiträge kreisen um die Kritik der “modifizierte[n] Fortsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie”.(132) Die Originalität des Buches besteht darin, die Kontinuität von Elementen nationalsozialistischer Ideologie bzw. ihrer praktischen Resultate in der Mitte der Gesellschaft aufzuzeigen. Grigats neuer Beitrag Postnazismus im Zeitalter des Djihad kritisiert anhand aktueller Ereignisse die Gleichzeitigkeit einer bekenntnishaften Verurteilung der Verbrechen des Nationalsozialismus mit einer mal offenen mal versteckten Delegitimierung des Staates Israel: “Noch deutlicher als vor zehn Jahren zeigt sich heute, daß sich in Deutschland das Nachleben des Nationalsozialismus nicht in der Gefahr faschistischer Massenaufmärsche und auch nicht in einem klassischen Geschichtsrevisionismus artikuliert, sondern beispielsweise im Appeasement gegenüber den islamischen Djihadisten und in der Delegitimierung des Zionismus.”(19)
Eine “autoritär-völkische Mobilisierung im klassischen Sinne”(21) sei in Ländern wie Ungarn auszumachen. Doch das “Zentrum der offenen antisemitischen Agitation” hätte sich “von Europa in den arabisch-islamischen Raum verschoben”.(27) Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf dem Fortleben zentraler Elemente des Nationalsozialismus in Institutionen und Ideen im Zentrum der deutschen und österreichischen Gesellschaft. Clemens Nachtmanns ebenfalls neu in das Buch aufgenommener Aufsatz Die demokratisierte Volksgemeinschaft als Karneval der Kulturen geht an das Eingemachte. Nicht an den offensichtlichen Erscheinungen und Resultaten eines linken Antizionismus oder Antiimperialismus, sondern in deren basalen Kategorien und ideologischen Konstellationen zeichnet Nachtmann ein “konformistisches Rebellentum”(54) nach, das zentrale Elemente des Nationalsozialismus selbst unter dem Vorzeichen des Antifaschismus konserviert. Im spektakulären Widerspruch der Linken erkennt Nachtmann die Konturen einer “antagonistischen Kooperation zwischen Mehrheit und Minderheit”. Die “Spiegelfechterei”(53) der Linken, deren rhetorische “Beschwörung drohender Gefahren” bei gleichzeitiger “Selbststilisierung der Protagonisten als prospektive Opfer”(60) reproduziert nach Nachtmann “das Grundmuster des deutschen Sozialcharakters, zumal in seiner nazifizierten Form: die verfolgte und deswegen zur Verfolgung ermächtigte Unschuld”.(54) Das “falsche und verlogene Kitschbild vom verklemmten, ungehobelten, autoritätshörigen Deutschen”(53) verdeckt den moralistischen, rebellischen “antibürgerlichen Bürger”, der viel typischer für die Nazis war. Im Postnazismus wird das Unwesen des NS-Regimes weit wirkungsvoller dadurch beerbt, dass sich dessen Nachleben “als dessen Gegenteil darstellt und mit den allerunverdächtigsten Absichten legitimiert”.(84) Diese linken Ideale haben sich durch diesen Scheinwiderspruch hindurch in die Gesellschaft verallgemeinert. Einer aberwitzigen “gesellschaftliche[n] Moralisierung” entsprechen die “zum Selbstopfer entschlossenen”(87) Kollektive, deren “enorm gutes Gewissen”(90) sie zur Aktion treibt. Der “neue und zugleich sehr alte Sozialcharakter” sei derjenige, “der nach dem Motto »Ich leide, also bin ich« sich einerseits unter Berufung auch die höchst unverwechselbare Diskriminierung, die ihm angeblich widerfährt, zur kleinsten existierenden Minderheit erklärt, sich nach dem Muster verfolgter und ihrer Kultur bedrohter Völker begreift – und andererseits als Gegensouverän en miniature seine private, wahnhafte Feinderklärung allen anderen oktroyieren möchte”.(71)
Die Kritik des Antisemitismus hebt sich im verallgemeinerten und beliebigen “»Respekt« und »Toleranz«”(65) für fremde Kulturen auf. Der Karneval der Kulturen “ist diese Gemeinschaft in einer flexibilisierten, zugleich pluralisierten und kollektivierten Gestalt.”(72) Eine nur “andere Darstellung des Immergleichen”(65) sieht Nachtmann auch in der Kulturindustrie: Der harte Kern des postnazistischen Staates ist die “freiwillige Entindividuierung”. Diese erfüllt sich in der Kulturindustrie, in der eine “jegliche mit Regelmäßigkeit stattfindende Lebensäußerung unmittelbar zur Kultur erklärt wird und daher ein jedes Individuum in seiner alltäglichen und zufälligen Existenz als Exemplar eines Allgemeinen sich begreift”.(79) Dem entspricht “eine zunehmende Entprivatisierung des Kulturkonsums, die längst wieder die Form einer allgemeinen Mobilmachung angenommen hat […]. Organisiert wird so die Regression der Kunst auf den Kult, die der Transformation der Bevölkerung in den Stamm ihren adäquaten Ausdruck verleiht.”(84f.)
Gerhard Scheit untersucht in Gemeinschaftsneid des Einzeltäters, Bußfertigkeit im Kollektiv das Verhältnis zwischen Djihad und dem Ressentiment gegen den Islam der radikalen Rechten. Dies Verhältnis sei vom Neid auf die “Macht einer Religion” geprägt, “die als Gemeinschaft gleichermaßen beargwöhnt wie beneidet wird, weil sie ganz ohne eigenes »schaffendes Kapital« weltweit triumphieren kann”(103) und den gemeinsamen Weltfeind herausfordert. Gegen den relativierenden Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie hält Scheit fest, dass “die beneidete politische Einheit in keinem Fall mit der Macht des international agierenden Kapitals, des Weltmarkts” identifiziert wird. “Noch in den schlimmsten Wahnphantasien verkörpern die Muslime nicht die abstrakte Seite des Kapitals, sondern werden als Feinde der Juden durchaus wahrgenommen.”(109)
Scheit hinterfragt auch die mediale Stilisierung Breiviks zum antiislamischen Terroristen. Dabei werden sowohl sein verdeckter Antisemitismus wie seine Isolation selbst innerhalb der antiislamischen Rechten unterschlagen. “Die Berichterstattung, die daraufhin einsetzte, scheint von der Intention beherrscht, alle Proportionen zwischen diesem vereinzelten Anschlag und der Kette djihadistischer Attentate der letzten Jahrzehnte zu beseitigen.”(113)
Die Beiträge des zweiten Teils waren bereits in der ersten Auflage enthalten. Erwähnt seien hier Nachtmanns Beitrag Krisenbewältigung ohne Ende und Uli Krugs Mobilisierte Gesellschaft und autoritärer Staat. Nachtmann versucht den Zusammenhang zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und Vernichtung darzulegen. Nach Nachtmann war die “Zusammenbruchskrise des Kapitals und die durch sie bewirkte Verüberflüssigung des gesellschaftlichen Humankapitals” im Verbund mit einem “gesellschaftlichen Krisenbewußtsein”, das sich mit dem “Staat als dem souveränen Nothelfer […] identifizieren gelernt hat”, eine unerläßliche Bedingung für die Eskalation der Vernichtung unter dem NS-Regime, die Nachtmann auch als “negative Aufhebung des Kapitals”(159) bezeichnet. Das regressive Krisenbewußtsein geht der Krise voraus. Das Subjekt träumt “seinen Untergang in der Endkrise” und “seine Wiederauferstehung im heroischen Kollektiv” voraus. “Krisenbewältigung wird als Selbstreinigung gedacht, die Selbstreinigung aber als eine fortwährende, permanente Aufgabe”. Das “Kollektivsubjekt” gewinnt “seine Identität nur als Wehrgemeinschaft” im Zustand “dauerhafter Exorzierung der Krise”(161). Dabei erscheint das “Verhältnis von Akkumulation und Krise verkehrt, die Krise nicht als notwendige Konsequenz und unhintergehbare Daseinsform negativer Vergesellschaftung, sondern als unmotivierte Stockung des »natürlichen Produktionsflusses« und tendenziell als äußerliche, durch subjektive Verschwörung hervorgerufene Sabotage des Kapitals”(169).
Dieses Krisenbewußtsein sieht Nachtmann sowohl in der bürgerlichen Lebensphilosophie als auch in der staatssozialistischen Arbeiterbewegung reproduziert. Beide Ansätze enden in verschiedenen Konzeptionen, eine unmögliche “krisenfreie und gemeinnützige Kapitalakkumulation zu schaffen”(173). Dies sind jedoch allein allgemeine Bedingungen der Möglichkeit einer barbarischen Krisenbewältigung. “Ob die nachbürgerliche Gesellschaft ihre mörderische Potenzen voll entfalten kann; ob der regressiv-infantile Sozialcharakter sich entweder in Sekten organisiert und austobt oder die Gelegenheit erhält, die Gesellschaft nach seinem Bilde zu formen – das macht den […] Unterschied zwischen der deutschen […] Form kapitaler Vergesellschaftung und deren anderen Konstellationen aus”(174).
In Deutschland institutionalisierte sich eine “unheilige Allianz zwischen Staat und Arbeiterbewegung”. Der Staat fungiert hier einerseits als “Garant der kapitalen Akkumulation” und zugleich als “Anwalt des »kleinen Mannes«, seiner Substistenz- und Sicherheitsbedürfnisse”. Der gemeinnützige Volksstaat ist darauf verwiesen “die antibürgerlichen und antikapitalistischen Ressentiments zu bedienen, in denen die notwendig krisenhaften Konsequenzen der kapitalistischen Verwertung von Kapital abgespalten und auf empirische Personen – die Juden – projiziert werden.”(175)f.
Im I. Weltkrieg dynamisierte und reproduzierte sich diese regressive, deutsche Krisenbewältigung auf neuer Stufe weiter. Der Zusammenbruch der wahnhaften Erwartungen hatte jedoch nicht “Enttäuschung zur Folge, sondern den eisernen Willen, es noch ein zweites Mal zu versuchen”(180). Die Nazis traten das Erbe der völkisch-bürgerlichen und national-sozialdemokratischen Ideen an. Was sie von ihren Wegbereitern grundlegend unterscheidet, ist ihre Bereitschaft, “die im Konzept des Volksstaates notwendig implizierte Feinderklärung” explizit auszusprechen und sie “bis zur bittersten Konsequenz praktisch umzusetzen.”(181)
Ohne die definitive und negative Qualität von Shoa und Vernichtung zu relativieren, versucht Nachtmann dennoch, diese pathologische Krisenbewältigung als ein allgemeines in der kapitalistischen Vergesellschaftung angelegtes “aktualisierbares Potential” zu beschreiben, dass “erstmals in einem hochindustrialisierten Land Mitteleuropas unter den Bedingungen des Weltmarktzusammenbruchs in Gang gesetzt wurde”, sich jedoch auch “unter den Bedingungen einer an sich selbst gescheiterten nachholenden Entwicklung an der Peripherie des Weltmarkts wiederholen”(157f.) könnte.
Nachtmanns Aufsatz ist einer der wenigen ernstzunehmenden Versuche, den Zusammenhang zwischen Kapital und Vernichtung auszuarbeiten, ohne in eine Apologetik des Klassenkampfes zu verfallen, d.h. die Vernichtung im Sinne einer linken Weltanschauung zu rationalisieren. Dennoch haftet manchen Aussagen der Charakter einer abstrakten Ableitung an. So wenn bspw. der unbestrittene “gemeinsame Wille zum Untergang” von Staat und Staatsvolk im NS-Regime als “bewußt angeeignete[r] Ausdruck der Bewegung des Kapitals”(185) beschrieben wird. Krug setzt sich in seinem Beitrag mit den Zusammenhang von Staat und Masse auseinander. “Nicht nur manipuliert der Staat die Gesellschaft, […] sondern die Gesellschaft manipuliert viceversa auch den Staat. [Die] Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft” bedeutet auch die “Rücknahme des zuvor mehr oder minder autonomen Staatszieles in unmittelbar gesellschaftliche Regie.”(213) Dadurch sei die “Konkurrenz der Marktsubjekte in den Staat selber” hineingetragen worden. Diese Konkurrenz der verschiedenen Institutionen und Formationen des NS-Regimes war nach Krug eine der “wichtigsten Treibsätze der alptraumhaften, ständigen und maßlosen Radikalisierung des Regimes”(214). Eine ähnliche These wurde ohne Bezug auf eine Kritik der politischen Ökonomie auch von Martin Broszat vorgetragen. Sie läßt sich auf bestimmte Phasen bzw. Ausschnitte der Eskalation der Vernichtung auch relativ schlüssig übertragen. Das makabre Engagement der Masse der Täter und unzähligen Initiativen, das in dieser “gesellschaftliche[n] Totalmobilmachung”(214) zum Tragen kam, läßt sich jedoch kaum unter dem Begriff einer wie immer definierten Konkurrenz subsumieren. Zu Recht kritisiert Krug den Versuch vieler Historiker, die Vernichtung auf eine “Zweck-Mittel-Gelegenheits-Logik” zurückzuführen. Seine Behauptung, diese entspringe “jener logisch unbegreifbaren Einheit von Selbsterhaltung und Selbstzerstörung, die der selbstreferentielle Wert setzt”,(208) bleibt dagegen ebenso abstrakt und willkürlich. Hier ist kritisch zu hinterfragen, ob der Begriff der Aufhebung im Sinne einer dialektischen Bewegung nicht überstrapaziert wird. Eine pathologische Krisenbewältigung ist nicht mit der Massenvernichtung von Individuen gleichzusetzen. Eine Bedingung der Möglichkeit ist keine Ursprungsort. Nach Nachtmann besteht die negative Aufhebung des Kapitals darin, dass die “totale Verwertung” vom Kollektiv “bewußt exekutiert wird und damit ihren Begriff erfüllt”.(186) Soll der Nationalsozialismus nicht im Sinne des bornierten Basis-Überbaus Schemas abgeleitet werden, sondern die Reinform der obskuren Bewegung negativer Vergesellschaftung darstellen, welche in der Krise zu sich kommt, dann erscheint die Vernichtung tatsächlich dem Kapital immanent. Der Unterschied zwischen einer kapitalistischen Gesellschaft und der NS-Vernichtungsmaschinerie wäre demnach allein formell. Eine Vorstellung, die sich selbst mit einer kritischen Perspektive auf die Gesellschaft kaum in Einklang bringen läßt.
Dennoch: Wer die Erstauflage von Postnazismus nicht gelesen hat, dem sei die Lektüre der Neuauflage wärmstens empfohlen.
Aus: SPME (Scholars for Peace in the Middle East) – German Edition N° 8796 vom 29. 7. 2012