Alessandro Volcich – Keine Stunde Null * Rezension zu: Stephan Grigat, Postnazismus revisited

Alessandro Volcich

Keine Stunde Null

Der historische Faschismus gedieh in einer von permanenter Krise und Sinnlosigkeit gezeichneten Epoche des nachbürgerlichen Kapitalismus. In dieser Situation versprach er nicht die Abschaffung des Elends, sondern Elend plus psychischem Mehrwert. Dieserart Krisenlösungsmodell gelang am konsequentesten in der verwirklichten Überwindung der Klassenspaltung im Mordkollektiv, auch Volksgemeinschaft genannt. Weil die Gesellschaft immer noch auf Opfer und Versagung beruht, ist die selbstbewußte Vernichtung von Menschen nach wie vor globales Modell antisemitischer Krisenpolitik.

In den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs scheint dies aber anders. Staatsraison ist hier nicht mehr ein sich Drücken vor der Verantwortung, sondern die selbstbewußte Vergangenheitsbewältigung und damit ihre Historisierung. Denn Hitlers Helfer und Frauen sind ja nun wirklich vergangen. Hierzu trägt eine empiristische Sozialwissenschaft einen maßgeblichen Teil bei, indem sie das Nachleben nazistischer Elemente nach 1945 nur in der gleichbleibenden personellen, institutionellen und ideologischen Kontinuität wahrnimmt, die aber großteils verschwunden ist. Der durch allen Wandel hindurch wesentliche Kern des postnazistischen Gemeinwesens ist immer noch die Bejahung des Selbstopfers fürs Gemeinwohl, die ohne Verschwörungsglauben nicht auskommt. Postnazismus ist also keine Chronologie im Sinne eines Epochenetiketts, sondern der Versuch, eine bestimmte politökonomische Konstellation und ihr adäquate Bewußtseinsformen zu begreifen. So wird verständlich, weshalb die demokratischen FaschistInnen von der FPÖ bis zu Anders Breivik Israel als ihren Bündnispartner imaginieren, gleichzeitig aber die geschichtlichen Bedingungen dieses Staats verschweigen müssen.

Aus: Unique Juli 2012

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