Johannes Knauss – “Der Staat ist Gott!” * Rezension zu: Willy Huhn, Der Etatismus der deutschen Sozialdemokratie
Johannes Knauss
“Der Staat ist Gott!”
Rezension zur Willy Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie
“Der Staat ist Gott” [ 1 ] : Das meinte zumindest der deutsche Sozialistenführer Ferdinand Lassalle und brachte damit das Verhältnis vieler Linker zum Staat auf den Punkt. In diesem Text soll mit Willy Huhn ein Denker vorgestellt werden, der diese linke Position zeitlebens aufs Schärfste kritisiert hat, heute aber relativ vergessen ist. Daher aus Anlass seines 100. Geburtstages am 11. Januar 2009 eine Buchrezension und (An-)Diskussion einiger seiner Thesen.
“Wir brauchen einen starken Staat”
Jürgen Peters, IG Metall
“Wir fordern, daß unsere Regierung sich nicht
länger dem Druck der Kapitalanleger und Finanzkonzerne unterwirft,
sondern nach Wegen sucht, um den Kasinokapitalismus zu stoppen”
attac
“Weniger Markt, mehr Staat”
“junge welt”
“Wir brauchen einen starken Staat”
Gerhard Schröder, SPD
I. Die Linke und der Staat
Diese Zitate stammen allesamt aus der politischen Linken. Bekanntlich sind die hier exemplarisch zitierten Positionen in ebendieser Linken keine Ausnahmen. Im Gegenteil: sie sind Legion. Ein positiver Bezug auf den Staat gehört und gehörte quer durch beinahe alle linken und linsradikalen Strömungen zum guten Ton. Mitunter mag es sogar so scheinen, als sei der positive Bezug auf den Staat geradezu die differentia specifica des Sammelbegriffs “politisch links” [ 2 ] Sozialdemokraten fordern den Staat auf, endlich gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, Globalisierungsgegner wünschen sich einen gerechten Staat, der dem sinistren Treiben der internationalen Finanzmärkte Einhalt gebietet und Steueroasen trockenlegt. [ 3 ] Für Trotzkisten, Maoisten und Stalinisten darf‘s ruhig (noch) ein bisschen mehr sein. Sie wollen mit revolutionären Mitteln die Staatsgewalt an sich reißen, um nach einem ordentlichen Großreinemachen im konterrevolutionären Lager mit staatlichen Mitteln tüchtig planzuwirtschaften. Die linke Stadtguerilla der Jahre 1970ff. versuchte ebenfalls in ihrem merkwürdigen Voluntarismus die Staatsmacht durch Militanz und Terror zu erschüttern. Allerdings nicht, um dem Staat als einer gegenüber den vergesellschafteten Individuen verselbständigten Zwangsgewalt ein für alle Mal den Garaus zu machen. Das Ziel war vielmehr auch hier die Errichtung eines Volksstaates (maoistisch-antiimperialistischer Façon). Das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden wie ein echter Souverän, nahm man sich aber bereits als Zentralkomitee im Wartestand. Trotz aller subkulturellen Inszenierungen und des antiautoritären Gehabes etwa bei Gerichtsverhandlungen handelte es sich also auch bei der RAF um “Leninisten mit Knarre”, wie zeitgenössische Kritiker schon in den 70ern bemerkten.
All diesen linken, sich im weitesten Sinne antikapitalistisch dünkenden Positionen ist gemein, daß sie das Verhältnis von Markt [ 4 ] und Staat im Kapitalismus nicht als ein sich wechselseitig bedingendes begreifen, sondern diese beiden Momente der kapitalistischen Totalität “zu gegensätzlichen, sich nahezu ausschließenden Ordnungsprinzipien” [ 5 ] stilisieren, wobei “suggeriert [wird], der Markt sei das Kapitalistische im Kapitalismus, der Staat hingegen das tendenziell Antikapitalistische.” (ebd.). Man ist sich also darin einig, daß der Staat ein Mittel zur menschlichen Emanzipation sei, ein Mittel, daß man, sei‘s auf parlamentarischem, außerparlamentarischem oder revolutionärem Wege, dazu verwenden könne der Anarchie des Marktes Einhalt zu gebieten und so ein Mehr an Freiheit zu verwirklichen.
Die Linke, idealtypisch verstanden, denkt sich also den Staat “als das neutrale Instrument krisenfreier Planung und Verwaltung der Produktion.” [ 6 ] , dessen man sich zu bemächtigen habe. Die Form des Staates wird bedenkenlos affirmiert und, insofern sie als ewig und natürlich hypostasiert wird, fetischisiert. [ 7 ] Natürlich hat man trotzdem auch in der Linken am Staat viel zu kritisieren. [ 8 ] Die Kritik, wahlweise vorgebracht als Verbesserungsvorschlag, flehentliche Bitte, wütende Drohung etc. richtet sich jedoch nur gegen den jeweiligen historisch-konkreten Inhalt des Staates, das heißt bestimmte Gesetze, Maßnahmen, Regierungsparteien, Klasseninteressen, Lobbys usw. Kritisiert wird also eine bestimmte historisch einmalige Ausprägung und Erscheinungsweise des Staates, was sich durchaus bis zur Ablehnung eines bestimmten, einzelnen Staates in toto steigern kann. Der Staat selbst bleibt eine neutrale, ahistorische Form. Wird der existierende, bloß unwesentliche Inhalt des Staates dereinst durch einen neuen Inhalt ersetzt worden sein, der je nach Vorliebe unter Labels wie “sozial gerecht”, “proletarisch”, “kommunistisch” usw. firmiert, dann wird der Staat zu seiner Bestimmung gekommen sein. Er wird dann endlich ein wahrhaft “kommunistischer”, “sozial gerechter” usw. Staat sein.
II. Biographisches
Willy Huhn war einer der wenigen Marxisten, die den sozialdemokratischen wie bolschewistischen Etatismus als das kritisierten, was er ist: eine autoritäre, antiliberale und vor allem antikommunistische Herrschaftsideologie. Die persönliche und gedankliche Entwicklung Huhns möchte ich zunächst kurz skizzieren.
Huhn, geboren am 11. Januar 1909 als Sohn eines deutschnationalen Kriminalbeamten, engagiert sich ab dem Jahre 1929 in der Arbeiterbewegung, zunächst in der freien Gewerkschaft der Angestellten (ZdA) dann auch in der SPD, die er später zugunsten einer Mitgliedschaft in der Links-Abspaltung SAP verlässt. Schon vor seiner Mitwirkung in der Arbeiterbewegung hatte Huhn für sozialistische Kritik ein gewisses Interesse entwickelt, wenn auch bis zu diesem Zeitpunkt nur im Sinne einer anti-patriarchalischen und religionskritischen Haltung. Diese veranlasste ihn schon früh dazu in seinem Tagebuch zu schwören, “lsquo;daß ich den drei Vätern den Kampf bis aufs Messer liefern werde, so lange ich lebe!’”. Gemeint waren: “Gottvater, der Landesvater und der pater familias.” (Huhn, 87) Erst der Tod seines autoritären Vaters ermöglichte seine Betätigung in der Arbeiterbewegung und eine zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit verschiedenen Problemen marxistischer Theorie, sowie den dringlichen politischen Fragen seiner Zeit. Schnell jedoch geriet er aufgrund seines selbständigen, kritischen Geistes und seiner orthodoxen Lektüre [ 9 ] der Marxschen Schriften mit den offiziellen Stellen der verschiedenen Arbeiterorganisationen in Konflikte. Sein Bestreben “/den Marxismus an seinen Quellen [zu] studieren und nicht aus seinem durch Parteiunrat getrübten und vergifteten späteren Lauf” (94) führte dazu, daß er regelmäßig “zwar mit Marx und Engels einig war, aber nicht mit der Bewegung. Von da an stand ich stets mit diesen beiden Denkern allein, später unterstützt von einigen Gesinnungsfreunden, gegen die gesamte marxistische Bewegung.”(93)
Nachdem er sich in theoretischer Hinsicht bereits vor 1933 in der Arbeiterbewegung weitgehend isoliert fand, bedeutete die Machtübernahme der Nationalsozialisten eine Zerschlagung und Auflösung aller verbliebener politischer Wirkungszusammenhänge Huhns. Der Versuch konspirativer Arbeit im NS endete schon nach kurzer Zeit mit Inhaftierungen: aus Willy Huhn war endgültig ein Einzelgänger geworden, der sich in den folgenden Jahren ohne Zirkel, Parteien und Gruppen alleine der the oretischen Selbstverständigung widmete. An seiner Stellung als Einzelgänger sollte sich auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wenig ändern. Nach einem kurzen Intermezzo in der SBZ arbeitete Huhn an diversen Volkshochschulen in der BRD. Aus der SPD, in die er zwischenzeitlich wieder eingetreten war, wurde er bereits 1953 aufgrund seiner Artikelserie “Der Sieg der Konterrevolution im Januar 1919” wieder ausgeschlossen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1970 veröffentlichte er regelmäßig in diversen linkssozialistischen Zeitschriften mit geringer Verbreitung, deren Namen heute längst vergessen sind. Beachtung und Bewunderung fanden seine umseitige theoretische Bildung und seine unbestechliche Kritik der Arbeiterbewegung für kurze Zeit in einigen Kreisen der Berliner Studentenbewegung der 1960er Jahre. Huhn verwahrte sich jedoch gegen eine Vereinnahmung als massentaugliche Galionsfigur der Bewegung, so daß die Begeisterung nicht von langer Dauer war: “er zerpflückt zu unbarmherzig die Mythengeschichten (…) der alten Arbeiterbewegung” (195) berichtet Christian Riechers, einer seiner damaligen Adepten in einer im Buch angehängten biographischen Notiz.
III. Marx vs. Lassalle oder: Die Bismarxisten an der Arbeit.*
Einige Resultate der langjährigen theoretischen Beschäftigung Huhns sind heute teilweise wieder, teilweise erstmals erhältlich. Der Freiburger Verlag ça ira, der schon des öfteren vergriffene Texte der links- und rätekommunistischen Tradition durch Neuauflagen vor dem Vergessen bewahrt hat, veröffentlichte 2003 den Band “Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus.” In diesem Band wurden drei Texte Huhns versammelt. Zwei von ihnen waren bereits Anfang der 50er Jahre in Zeitschriften erschienen, bei dem dritten und längsten Text handelt es sich um ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Huhns aus seinem Nachlass, der vom Institut für Internationale Sozialgeschichte (Amsterdam) verwaltet wird. Ihren inneren Zusammenhang findet die Veröffentlichung durch die thematische Verwandtschaft der Aufsätze. Aus dem recht umfangreichen Werk Huhns, das eine breite Palette von Gegenständen unterschiedlichster Art behandelt [ 10 ] , wurden nur solche Texte ausgewählt, die sich einer ideologiekritischen Beschäftigung mit der deutschen Sozialdemokratie widmen. Insbesondere wird eines ihrer ideologischen Fundamente – der Etatismus – und seiner historischen Bedeutung für die Politik der sozialdemokratischen Partei von den 1860er Jahren bis zum NS untersucht.
Huhn zeichnet die historische Herausbildung der etatistischen Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie anhand zahlreicher Quellen aus den verschiedenen Entwicklungsstadien der Bewegung nach. Als Hauptwiderspruch in den Kämpfen und Debatten um die Ausrichtung der Partei- und Gewerkschaftspolitik macht er den theoretischen Gegensatz von Marxismus und Lassalleanismus aus. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von den 1860er Jahren bis in den ersten Weltkrieg wird als wechselhaftes Ringen dieser beiden konkurrierenden Sozialismusverständnisse um die weltanschauliche Deutungshoheit dargestellt. Als Lassalleanismus kann dabei eine “staatsbejahende und staatserhaltende Gesinnung” (31) verstanden werden, die davon ausgeht, daß die soziale Frage “/nur durch den Staat gelöst werden kann”(Lassalle nach Huhn, 35) und daher eine Staatskritik, wie sie etwa von Marx und Engels formuliert wurde [ 11 ] als “Theorie der Zerstörung und Barbarei” (Lassalle nach Huhn, 31) zutiefst verabscheuen musste. Lassalle, der in der entsprechenden hagiographischen Literatur immer wieder als heldenhafter Begründer der deutschen Arbeiterbewegung gefeiert wurde, verhandelte konsequenterweise über den Aufbau des deutschen Sozialismus mit keinem geringeren als Bismarck, der ihm sogar “eine sehr ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung” (34) attestierte! Lassalles Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft waren dann auch einigermaßen weit entfernt von der im kommunistischen Manifest als Ziel propagierten “Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist” [ 12 ] : O-Ton Lassalle: Es gilt “in der Krone den natürlichen Träger der sozialen Diktatur, im Gegensatz zu dem Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft, zu sehen, wenn die Krone ihrerseits sich jemals zu dem (…) Schritt entschließen könnte, eine wahrhaft revolutionäre und nationale Richtung einzuschlagen und sich aus einem Königtum der bevorrechteten Stände in ein soziales und revolutionäres Volkskönigtum umzuwandeln.”(35)
Derlei antiindividualistische, staatshörige und traditionalistische Ideologie weste auch nach dem Ableben Lassalles im Jahre 1870 in der Bewegung und in ungezählten Köpfen ihrer Mitglieder fort. Besonders “an der Basis” genoß Lassalle eine quasi-monarchische Verehrung. Zwar sah es für kurze Zeit (~1880 – ~1892) so aus, als sei der Einfluß der Lassalleanischen Ideologie in der Arbeiterbewegung zugunsten stärkerer marxistischer Tendenzen in Theorie und Praxis überwunden worden. Die repressive Verfolgung von Sozialdemokraten qua Sozialistengesetz (1878), hatte den Linken nämlich vorerst “den Etatismus mit Kolbenstößen und Zuchthausurteilen”(42) ausgetrieben. Wenig Zeit später jedoch traten die Lassalleschen Wurzeln der Sozialdemokratie wieder offen zutage. Zunächst noch zaghaft in theoretischen Debatten um einen “Staatssozialismus” und einen sozialistischen “Zukunftsstaat”, dann aber auch zusehends im politischen Alltag Preußens. Diesen bereicherten die Sozialdemokraten von nun an durch allerlei konstruktives Mitmachen und stellten sich damit auf den Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.
Das interessierte Mißverständnis, daß den Debatten um einen “Zukunftsstaat” laut Huhn zugrunde lag, war stets “die Begriffsverwirrung um Staat und Gesellschaft, d.h. die Vermengung und Identifizierung beider Begriffe in der sozialdemokratischen Theorie”(107). Daraus folgte, daß der Sozialismus nicht als eine Vergesellschaftung, sondern als eine Verstaatlichung der Produktionsmittel proklamiert wurde. Während die Marxisten eine Vernichtung des “ideellen Gesamtkapitalisten” (Engels) [ 13 ] Staat als notwendige Voraussetzung für eine unmittelbar gesellschaftliche/ Aneignung der Produktionsmittel jenseits der kapitalistischen Klassenspaltung begriffen, hatten die Staatssozialisten gegen eine Verselbständigung der Staatsgewalt gegenüber der Gesellschaft nichts einzuwenden. Gleiches gilt auch für die Aufrechterhaltung des Klassenantagonismus, allerdings bei gleichzeitig geforderter Hintanstellung des Klasseninteresses (und damit des über die Klasse vermittelten Privatinteresses) zugunsten eines staatlich vermittelten “Gemeinwohls”. [ 14 ] Nicht nur marxistische, sondern auch liberale Kritiker brachten bereits 1893 “prophetische Vorwürfe” (44) gegen die Vorstellung eines “Staatssozialismus” hervor und befürchteten, daß ein solcher, auf Ordnung, Disziplin und Kommando gründender “Zukunftsstaat” “noch weit schlimmer als der Militärstaat”(ebd.) sein werde. Doch es half nichts. Die sozialdemokratische Bewegung, vor allem die “Praktiker” in ihr, ließ sich weder durch die marxistische, noch durch die bürgerliche Kritik von ihrem “Juristen-Sozialismus” (Engels) [ 15 ] abbringen und forderte ab ca. 1895 immer vehementer die Verstaatlichung von Industrie, Bankwesen, Verkehrswesen, Grund und Boden, wobei man sich den preußischen Staat als “Repräsentanz der Gemeinschaft” im sozialistischen Sinne vorstellte.
IV. Die Verwirklichung der sozial-demokratischen Utopie im WK I – “Kriegssozialismus”
Seit den Jahren um 1900 übte die Sozialdemokratie endgültig und überaus erfolgreich ihre staatstragende Rolle ein, die für sie bis heute so charakteristisch ist. Diese “Mauserung” bedeutete natürlich nicht, daß man fortan auf die “sozialistischen Sonntagspredigten” verzichten mußte. Wenn man schon selbst nichts für die Einrichtung einer befreiten Gesellschaft tat, so konnte man doch immerhin “eine sozialistische Richtung” in der Entwicklung des deutschen Kaiserreichs halluzinieren. Anlaß dazu gaben u.a. die Arbeitergesetzgebung sowie – Verstaatlichungen. Nun konnte aber die von der Sozialdemokratie forcierte “Ver- und Durchstaatlichung der Gesellschaft” (108) nicht ohne Folgen für eine Einschätzung der deutschen Politik während des ersten Weltkriegs bleiben, wie Huhn klar herausstellt: “Konnten schon bis dahin (…) Sozialdemokraten (…) im Hinblick auf die etatistische und sozialpolitische Entwicklung im deutschen Kaiserreich ausrufen: lsquo;Sozialismus, wohin wir blicken!‘ – so gab ihnen dazu der Ausbruch des I. Weltkrieges mit seiner lsquo;Kriegswirtschaft‘, die durch einen bis dahin unbekannten Umfang staatlicher Eingriffe in die verschiedensten Gebiete der Volkswirtschaft gekennzeichnet war, erst recht Anlaß zu einem solchen Glauben. Mehr als in den anderen kriegführenden Staaten wurde in Deutschland fast die gesamte Wirtschaft von staatlicher Leitung getragen und beherrscht, um sie dem modernen Materialkrieg dienstbar zu machen.” (54f.) Als Grundzüge dieser Kriegswirtschaft nennt Huhn: “Die meisten Industrieprodukte werden für den Staat hergestellt (…) Der Staat ist es, der im Interesse der Kriegsführung die Ausfuhr der verschiedenartigsten Produkte untersagt. Das ganze Transportwesen wird vom Staate unter Hintansetzung volkswirtschaftlicher Interessen in den Dienst des Krieges gestellt. Der Staat bestimmt Verbrauch und Verzehr des einzelnen Staatsbürgers. Er greift in die Lohnverhältnisse ein (…) der Staat bestimmt weitgehend die Geldverhältnisse(…)usw.” (55f.)
Die beinahe vollständige Durchstaatlichung der Ökonomie hat aber auch gravierende Folgen für die Gesellschaft und die Autonomie der einzelnen Individuen, denn der Staat veranlaßt “die restlose militärische Organisation der Nation. Auf diese Weise entsteht tatsächlich eine lsquo;Volksgemeinschaft‘, wie die Sozialdemokratie im Kriege die Absicht des lsquo;Burgfriedens‘ bezeichnete, wenn eben auch zunächst nur als nationale Wehrgemeinschaft.” (116) Der Staat muß “jedem Einzelnen Volks- bzw. Wehrgenossen seinen Platz im totalen System der Landesverteidigung anweisen” (ebd.).
Für die sozialdemokratische Rechtfertigung, mehr noch, Glorifizierung dieses mörderischen Kollektivismus, dem Millionen zum Opfer fielen, liefert Huhn zahlreiche, mitunter grauenvolle Textbelege. Sie alle zu zitieren wäre müßig, hier nur eine kleine Zusammenschau der Gräßlichkeiten aus zeitgenössischen sozialdemokratischen Publikationen [ 16 ] : “Wir sind durch den Krieg mehr wie bisher eine sozialistische Gemeinschaft geworden (…) Sozialismus ist (…) die Befreiung des Einzelnen zur bewußten Einordnung in das (…) Lebensganze von Staat und Gesellschaft” ; “Im weiteren Verlaufe wird das Nationale (…) sozialistisch sein” ; “Um in der Zeit der schwersten Prüfung der Nation bestehen zu können, mußte der /Sozialismus national, die Regierung der Nation aber auch sozialistisch empfinden und handeln lernen…Eine der großen Schlagadern des neuen Volksorganismus(sic!) aber wird der Sozialismus sein”. [ 17 ]
Dieser Zitatreigen dürfte zur Genüge verdeutlicht haben, wie wenig haltbar das enttäuschte Gejammer der Linken über den vermeintlichen lsquo;Verrat‘ [ 18 ] der deutschen Sozialdemokratie in WK I war und ist, wie wenig das Geschrei von Korruption und Ausverkauf um die immanenten, historischen wie ideologischen Gründe einer Bewilligung der Kriegskredite im Jahre 1914 weiß. Nach der Lektüre von Huhns Buch fällt es schwer, die bereitwillige Eingliederung der Sozialdemokraten in die imperialistische Kriegsmaschinerie und den deutschen lsquo;Volksorganismus‘ nicht/ als “notwendige Folge” (111) einer staatsozialistischen, nationalistischen Gesinnung zu bewerten, die in der von einem “totalen Staat” (115) durchdrungenen deutschen Gesellschaft der Kriegsjahre, wenn nicht bereits den Sozialismus selbst, so doch zumindest einen verheißungsvollen Vorschein auf ihn zu erkennen meinte.
V. Sozialdemokratie und Nationalsozialismus*
Die oben angeführten Textstellen zeigen, daß es Huhn in seinen Aufsätzen mühelos gelingt, die Rolle des Etatismus für das Selbstverständnis weiter Teile der deutschen Sozialdemokratie zu belegen. Seine Texte sind in dieser Hinsicht auch heute noch eine wertvolle Quelle, da sie die verhängnisvolle Kontinuität linksdeutscher Staatsaffirmation aufzeigt und dem im ersten Abschnitt skizzierten Elend der Linken somit haushoch überlegen ist. Vor dem Hintergrund der Lektüre werden die Beschwörungen internationalistischer, liberaldemokratischer und pazifistischer Traditionen der Sozialdemokratie fragwürdig, das andere Gesicht der Sozialdemokratie, das militaristische, autoritäre, nationalistische und antiindividualistische Züge aufweist, tritt deutlich hervor. Es geht Huhn aber um mehr als eine bloße Denunziation des reaktionären Charakters der deutschen Sozialdemokratie. Die angeführten Zitate, in denen die deutsche Schützengraben-Volksgemeinschaft zum Sozialismus hochgejubelt werden, lassen es bereits erahnen: Huhn versucht die Politik und Ideologie der Sozialdemokratie der Jahre 1914ff. als Vorform des Nazifaschismus zu enttarnen!
Und in der Tat: wer wollte bestreiten, daß wir bei der Betrachtung “des modernen Etatismus und Kriegssozialismus schon vor recht entwickelten Keimformen des späteren lsquo;Nationalsozialismus‘” (62) stehen? Lassen sich doch hier bereits einige wichtige Ideologeme des späteren NS vorfinden: der Sozial-Organizismus; die Konstruktion einer deutschen Wehr- und Produktionsgemeinschaft, die den Klassenantagonismus für obsolet erklärt und damit eine “Antizipation der späteren lsquo;Arbeitsfront‘ im lsquo;Dritten Reiche‘” (65) darstellt; die Beschwörung eines “neuen Deutschtums” (65); ein lsquo;antikapitalistischer‘ Ultrakollektivismus, der es auf die “Profitwut der Kapitalisten” (56) wie überhaupt auf jede Form des Eigennutzes abgesehen hat, was sich u.a. in der Streikbekämpfung während des Krieges niederschlug usw.
Die wichtigste Gemeinsamkeit besteht für Huhn jedoch in der besonderen politökonomischen Formation der Kriegswirtschaft, die oben schon kurz skizziert wurde, verstanden als Mittel der Krisenbewältigung auf der Höhe der (monopolkapitalistischen) Zeit. Wie andere zeitgenössische marxistische Theoretiker auch konstatierte Huhn einen grundsätzlichen Wandel in Ökonomie und Gesellschaft, den Übergang vom kapitalistischen Akkumulationsmodell des Liberalismus, dem System der freien Konkurrenz, hin zum Akkumulationsmodell des Imperialismus/Monopolkapitalismus, dem System der gebundenen Konkurrenz. In Folge von Konzentrationsprozessen kommt es immer mehr zu einem “Prozeß der Verschmelzung von Staat und Wirtschaft” (126), die Bildung von Trusts, Kartellen etc. spielte hierbei eine wichtige Rolle. Die ökonomischen Entwicklungen erzwingen eine bestimmte Form des Staates, der nun nicht mehr der “Nachtwächterstaat” konkurrenzkapitalistischer Zeiten sein kann. Ebenfalls zur Disposition steht damit aber auch das Verhältnis von Staat & Kapital, Ökonomie und Politik. Für dieses neue Verhältnis von Staat und Kapital hat Heinz Langerhans bereits in seinen 1934 entstandenen Gefängnisthesen den Begriff des /“Staatssubjekt Kapital”/ geprägt. [ 19 ]
In diesem Staatssubjekt Kapital wird das antagonistische Klassenverhältnis “zu einem einzigen Schutzpanzer eingeschmolzen (…) aus dem automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als beso nderem Organ Staat ist das einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden (…) [es] erzwingt sich das Monopol auf Klassenkampf” [ 20 ] und legt somit die auf den Privat- und Klasseninteressen beruhenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf Eis. Die unabhängig voneinander entstandenen Analysen Huhns und Langerhans‘ gleichen sich teilweise bis in die Wortwahl, besonders aber in ihrer Fokussierung auf die politökonomische Form der monopolistischen Staatswirtschaft als einer “Krisenüberwindungskampagne” [ 21 ] . Diese Fokussierung ermöglicht Huhn den unmittelbaren Brückenschlag vom “Kriegssozialismus” des Ersten Weltkrieges zum NS: “was lsquo;friedlich‘ um 1900 einsetzte und lsquo;militärisch‘ 1914 explodierte, das setzte sich dann lsquo;übergangswirtschaftlich‘ unter der Parole lsquo;Der Sozialismus marschiert!‘ 1919 fort, um dann 1927/28 lsquo;wirtschaftsdemokratisch‘ von neuem versucht und noch 1932 lsquo;planwirtschaftlich‘ aufgegriffen zu werden, um schließlich 1934-1939 nationalsozialistisch‘ zu enden”. [ 22 ]
Huhn betrachtet die Kriegswirtschaft in Deutschland 1914-1918 als historisch erste Form des Gesellschaftsparadigmas “totaler Staat”, das die dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte im lsquo;Hochkapitalismus‘ adäquate Form der Wirtschaft, wie der politischen Herrschaft darstellt. Unter dieser Perspektive erscheint der NS nur als Aufguß und konsequente Zuspitzung der von der Sozialdemokratie mitgetragenen und propagierten Kriegswirtschaft aus dem Ersten Weltkrieg! Indem Huhn eine bestimmte Form der staatlichen Organisation der Wirtschaft, sowie eine Militarisierung der Gesellschaft als Wesen des NS wie des sozialdemokratisch gestützten Kriegssozialismus bestimmt, ist es ihm möglich, diese beiden Formen der Vergesellschaftung auf einen – monopolkapitalistisch-kriegswirtschaflichen – Nenner zu bringen. [ 23 ] Der einzige wesentliche Unterschied von NS und Sozialdemokratie bestehe in der inneren Widersprüchlichkeit der Sozialdemokratie, sowohl liberaldemokratische, als auch staatssozialistische Traditionen in sich vereinen zu wollen. Diese Widersprüchlichkeit ist es, die die Sozialdemokratie daran hindert, “die konsequente Form zu ihrem staatssozialistischen Wesen [anzunehmen]: die militärische Organisation der NSDAP und die bolschewistische Konsequenz der Diktatur.” (120f.)
Unter dem Verweis auf die genannten politökonomischen Strukturanalogien, sowie die Inkonsistenz der Sozialdemokratie resümiert Huhn polemisch: “Darum bezeichne ich den Nationalsozialismus historisch als die konsequentere Sozialdemokratie!” (118)
VI. Nachts sind alle Katzen grau – die Begrenztheit marxistischer Faschismustheorie
Wie wir gesehen haben, sind die verschiedenen Gesellschaftssysteme für Huhn ihrem Wesen nach identisch. Daraus folgt aber, daß auch der Antisemitismus für Huhn nur eine äußerliche, austauschbare Zutat bedeutet. Das gleiche scheint für die Shoah zu gelten, die Huhn auch in seiner im Buch abgedruckten Schrift von 1952 nicht einmal erwähnt! In der Tat geht Huhn von einem nur instrumentellen Verhältnis des Nationalsozialismus zur antisemitischen Ideologie aus. Seiner Meinung nach “bediente sich” (129) der NS nur des Antisemitismus, der in der Tradition der Sozialdemokratie als lsquo;Sozialismus der dummen Kerls‘ (Bebel) verharmlost wird.
Dankenswerterweise haben Clemens Nachtmann und Joachim Bruhn in einem Vorwort sowie einer angehängten Nachbemerkung auf die Unzulänglichkeit der Huhnschen Faschismusanalysen hingewiesen, die trotz bzw. gerade wegen ihrer stringenten Argumentation den Blick für die Besonderheit des NS nicht in den Blick bekommen und ihn darum in der begrifflichen Abstraktion einer lsquo;monopolkapitalistisch-imperialistischen Kriegswirtschaft‘ auflösen. Damit sind Huhns Analysen an diesem Punkt jedoch bereits ihrerseits in Ideologie umgeschlagen. Anders als Huhn glauben machen will, handelt es sich beim deutschen Nationalsozialismus keineswegs einfach um eine autoritäre Diktatur zum Zwecke der ungestörten Kapitalakkumulation. Der NS widerspricht der kapitalistischen Logik gerade durch seine ideologisch motivierte Vernichtung von Juden, Sinti und Roma und anderen “Volksschädlingen”, /obwohl/ diese potentiell ausbeutbare Arbeitskraft verkörpern. Die massenhafte Menschenvernichtung war aber – allen vulgärmaterialistischen Rationalisierungen zum trotz – der Hauptzweck der nationalsozialistischen Politik, die daher mit der ökonomischen Zweckrationalität des Kapitalismus brach. Mit der nationalsozialistischen Bewegung, so führt Clemens Nachtmann mit Bezug auf Huhn treffend aus, “gewinnt die Exterritorialisierung des kapitalistischen Krisencharakters als internationale jüdische Weltverschwörung Kontur, konkretisiert sich der Wille, die definitive Heilung des Kapitalismus von seinen Gebrechen durch die restlose Vernichtung der Anti-Rasse vorzunehmen.” [ 24 ]
Das im WK I bereits erprobte Modell Volksstaat, in dem aus der bürgerlichen Gesellschaft egoistischer Marktsubjekte (bourgeois) eine durchstaatlichte Wehrgemeinschaft wird, wurde im NS dergestalt radikalisiert, daß eine bestimmte Gruppe empirischer Individuen als Personifizierung des Abstrakten und als Drahtzieher der kapitalistischen Krise ausgemacht wurde. Die projektierte Vernichtung der Juden stellt dann nichts weniger als den kapitalistisch-antikapitalistischen Traum dar, “eine von ihrem unheilbaren ökonomischen wie gesellschaftlichen Krisencharakter befreite, gewissermaßen gemeinnützige Kapitalakkumulation zu organisieren (…) ein logisch unmögliches, im Wortsinne wahnsinniges Unterfangen.” [ 25 ] Jeder Versuch, den Nationalsozialismus rein anhand politökonomischer Begrifflichkeiten zu fassen, ohne in der auf Vernichtung drängenden Ideologie des Antisemitismus [ 26 ] den Kern des NS zu erblicken, muß daher fehlgehen. Zusätzlich zur Verkennung der Bedeutung des Antisemitismus muß aber auch ein anderer Mißtand von Huhns Analyse erwähnt werden. Gerade seine scharfe Kritik des Staates, die ihn auf so erfrischende Weise von den linken Apologeten desselben abhebt, versperrt ihm den Blick auf die Rolle des Staates im Nationalsozialismus. Denn die radikale Durchstaatlichung der Gesellschaft ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Indem Huhn den NS genau wie den italienischen Faschismus im Wesentlichen vom Staat her denkt, übersieht er, daß es sich beim NS eben weder um eine normale (Militär-)Diktatur [ 27 ] , noch um einen Staat im herkömmlichen Sinne gehandelt hat. Anders als im faschistischen Italien verabschiedete man sich im NS recht schnell von der Ideologie des totalen Staates, diese stand nur in den Jahren 1933/34 im Mittelpunkt der Propaganda. Diese Lehre von der Totalität des Staates wurzelte in der konservativen Tradition des 19. Jahrhunderts und vermochte daher auch nicht-nationalsozialistische, traditionalistische Reaktionäre, etwa aus der Armee und der Beamtenschaft, für den Nationalsozialismus zu gewinnen. [ 28 ] Nach der Gleichschaltung des politischen Lebens und der Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft mußte die konservative Auffassung der Totalität des Staates immer mehr der genuin nationalsozialistischen Auffassung von der “Totalität der nationalsozialistischen Bewegung”(Alfred Rosenberg) weichen. [ 29 ] Der NS wird völlig mißverstanden, wenn er einfach als eine Zuspitzung und Radikalisierung des innerhalb westlicher Traditionen verankerten Konservativismus begriffen wird. Tatsächlich hat der NS mit den zentralen Kategorien dieser Tradition gebrochen. Die Souveränität des Staates, die nach der europäischen Tradition dem Bedürfnis nach “ Sicherheit, Ordnung, Gesetz und Rechtsgleichheit” [ 30 ] Rechnung tragen sollte, wurde ebenso überwunden, wie der dem modernen Staat des 19. Jahrhunderts korrespondierende politische Begriff der Nation, der durch biologische Rasse und Volkstum ersetzt wurde. [ 31 ] In weltanschaulichen Fragen brach man mit der christlich-humanistischen Tradition und hielt es mit allerhand esoterischem Obskurantismus.
Der NS war nicht einfach eine Art Mega-Staat, wie man nach Huhns Ausführungen vermuten könnte. Es stellt sich vielmehr, mit Autoren wie Franz Neumann und Gerhard Scheit die Frage, ob wir beim Nationalsozialismus überhaupt noch von einem Staat im engeren Sinne eines “Leviathans” sprechen können, der durch Gesetzlichkeit, Gewaltmonopol, Einheitlichkeit, systematische, rationale Herrschaft, stabile Verwaltungsstrukturen und Institutionen, klare, eindeutige Kompetenzen und Hierarchien gekennzeichnet wäre. Neumann konstatiert in seiner Analyse der Struktur des NS gerade eine zunehmende Zersetzung dieser politischen Form des Leviathans und seine Transformation in “eine mehr oder minder organisierte Anarchie” [ 32 ] . Dieses neue politische Gebilde ist im Gegensatz zum Leviathan durch eine “äußerste Formlosigkeit gekennzeichnet” [ 33 ] . Dieses System kassiert noch das “Minimum an Freiheit und Sicherheit”, das “jedes rationale Gesetz, gleich welchen Inhalts” [ 34 ] allein kraft seiner Form gewährt. Diese neue politische Form nennt Neumann in Anlehnung an das biblische Ungeheuer des Chaos: Behemoth.
VII. Was bleibt?
Will man den NS in seiner historischen Genese verstehen, muß man eine ganze Reihe unterschiedlichster wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen aber auch die Entwicklungen in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Weltanschauung berücksichtigen. Diese Analyse darf sich nicht auf “die Rechte” beschränken. Huhn hat gezeigt, daß auch die Rolle der Sozialdemokratie für die Herausbildung und ideologische Rechtfertigung eines autoritären Staatssubjekts Kapital im Dienste der Krisenlösung ein Puzzleteil ist, mithilfe dessen die Entstehung des NS begriffen werden muß. Rassismus, eliminatorischer Antisemitismus, koloniale Aufstandsbekämpfung, Arbeitsfetisch, Antimodernismus und Irrationalismus sind nur einige weitere Momente, die in einer adäquaten Analyse der NS-Barbarei mitgedacht werden müssen. Indem Huhn seinen politökonomischen Erklärungsansatz maßlos überstrapaziert, geraten alle anderen wichtigen Entstehungsgründe aus dem Blick, was notwendig auch zu einer Fehlanalyse des Wesens des NS führen muß..
Heute kann man meines Erachtens nur noch an den Etatismus- und Staatskritiker Huhn anknüpfen, der die illusorischen Vorstellungen der Linken, die den Staat als Mittel menschlicher Emanzipation verklären, zerstört. Gleichzeitig und aus demselben Grund, muß aber der Leviathan gegen die noch größere Unfreiheit der Individuen unter dem Behemoth verteidigt werden. [ 35 ] Hier liegt aber der große Mangel der oben skizzierten NS-Analyse Huhn als Theoretiker des Nationalsozialismus, weshalb seine Schrift in dieser Hinsicht auch völlig überkommen ist. Lesenswert bleibt das vorgestellte Buch trotzdem in allen Teilen, wenn auch in manchen nur als Dokument des Scheiterns und der Verblendung.
Anmerkungen
[ 1 ] Ferdinand Lassalle, nach Huhn S. 31. Alle Zitate, die nicht anders ausgewiesen werden, stammen aus dem Buch “Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus.”, das 2003 im Freiburger Verlag “ça ira” erschienen ist.
[ 2 ] Eine Betrachtung des Anarchismus bleibt hier außen vor, da er sich nicht der Affirmation des Staates schuldig macht. Daß eine Kritik des Staates für eine adäquate Gesellschaftskritik erst die Halbe Miete ist und anarchistische Positionen daher ebenfalls kritikabel sind, zeigt z.B. Arthur in seiner dreiteiligen “Einführung in den Anarchismus” in CEE IEH #123.
[ 3 ] Daß in Zeiten der aktuellen Finanzkrise fast alle zu “Globalisierungskritikern” und Staatsfans werden und man insbesondere in Deutschland eigentlich schon immer wußte, daß das mit dem ShareHolder-Kapitalismus nicht gut gehen kann, war in den letzten Monaten überall nachzulesen. Aussagekräftige Zitate aus der bürgerlichen Presse trägt z.B. die ISF in dem Text “Kalkül und Wahn, Vertrauen und Gewalt” (CEE IEH #160) zusammen.
[ 4 ] Von der Sphäre der Produktion soll hier nicht die Rede sein. In den manichäischen Kapitalismusanalysen der genannten linken Strömungen ist die Fabrik als Ort kapitalistischer Ausbeutung in der Regel jedoch weit weniger problematisch als etwa die Börse oder allgemeiner: “der Markt”, die Sphäre der Zirkulation.
[ 5 ] Vgl. in Stephan Grigats Buch “Fetisch und Freiheit ” (2007), S. 260.
[ 6 ] Siehe in Joachim Bruhns Buch “Was deutsch ist”(1994), S. 157f. Online unter: www.isf-freiburg.org”/isf/beitraege/bruhn-abschaffung.staat.html
[ 7 ] Vgl. zum Begriff des Staatsfetischismus Grigat (2007), S. 239ff.
[ 8 ] So gehört es etwa unter zeitgenössischen linken Etatisten zum guten Ton “gegen Überwachung” zu sein. Das schizophrene Dogma “Guter Sozialstaat – Böser Überwachungsstaat”, in dem “gute” und “schlechte” Momente des Staates als einander völlig äußerliche fixiert werden, findet sich in den meisten linken Weltbildern.
[ 9 ] Daß man der (stalinistischen) Arbeiterbewegung zwar so manches vorwerfen kann, eine orthodoxe Marxlektüre jedoch gerade nicht, macht z.B. Sören Pünjer in seinem Text “Dogmatisch und unorthodox. Was ist Stalinismus? – Ein kurzer Lehrgang” in BAHAMAS #54 deutlich.
[ 10 ] Unter anderem auch schwer Ideologisches zum Thema Zionismus. Dazu mehr in einem angehängten Text von Joachim Bruhn zum Rätekommunismus.
[ 11 ] Eine ausführliche Darstellung und Diskussion des Marx-Engelsschen Staatsverständnisses kann hier nicht geleistet werden. Man müßte zeigen, daß die Positionen von Marx und Engels nicht immer identisch sind und zudem jeweils in sich nicht so eindeutig sind, wie Huhn dies darstellt. Zweifellos sind auch die Anknüpfungspunkte für eine Staatskritik im Marxschen Werk und die Argumentation Huhns nicht die in heutigen antideutschen Debatten üblichen. So wird die Rolle des Staates bspw. nicht anhand von Kapitel 2 “Der Austauschprozeß” im ersten Band des Kapitals geführt.
[ 12 ] MEW 4, S. 482.
[ 13 ] Z.B. in MEW 20, S. 260.
[ 14 ] Es soll hier kein Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet werden, daß den damaligen “Marxismus” als unproblematischen Gegenentwurf zum lassalleschen Volkskönigtum entwirft. Vgl. als Überblick zum Verhältnis von Marx, dem in den damaligen Debatten vertretenen “Marxismus” (den manche auch abwertend als “Engelsismus” bezeichnen) und der weiteren Rezeptionsgeschichte des Marxschen Werkes, den Text “Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen – Lesarten der Marxschen Theorie” von Ingo Elbe. Online unter: www. rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Lesarten_erweitert.pdf
[ 15 ] MEW 21, S. 491.
[ 16 ] Es muß angemerkt werden, daß mein Text nicht beansprucht den herkömmlichen wissenschaftlichen Standards zu genügen. Deshalb mußte eine wissenschaftliche Quellenkritik ausbleiben, was es mir unmöglich macht, diese Zitate etwa hinsichtlich ihrer Repräsentanz adäquat einzuschätzen. Es geht also im Wesentlichen darum, Wahlverwandtschaften und Tendenzen in ideologiekritischer Absicht aufzuzeigen. Daß diese Tendenzen auf die historische Mehrheitssozialdemokratie einen gehörigen Einfluß hatten, läßt sich jedoch an der politischen Praxis derselben von WK I bis heute ablesen.
[ 17 ] Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus war übrigens nicht so innovativ, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Zeev Sternhell hat in seinem Buch “Faschistische Ideologie – Eine Einführung” herausgearbeitet, daß besonders in Frankreich und Italien seit der Jahrhundertwende zusehends “die Möglichkeiten einer Synthese aus bestimmten Formen des Sozialismus und aus dem politischen Autoritätsdenken der Nationalisten.”(S. 36) eruiert wurde. Dies war die Geburtsstunde des europäischen Faschismus (aber nicht des deutschen Nationalsozialismus!). Auf die Spezifik des Faschismus, (Gewalt- und Jugendkult, Vitalismus, Irrationalismus, Elitedenken, Antiintellektualismus usw. )werde ich hier nicht eingehen. Diese Ideologeme wären aber für einen ernsthaften Vergleich von etatistisch-autoritärer Sozialdemokratie und irrationalistisch-antimodernistischem Faschismus zu berücksichtigen).
[ 18 ] Zum Beispiel in der beliebten kommunistischen Parole “Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!”
[ 19 ] S. 19 in der Broschüre “Staatsubjekt Kapital”(2004). Das Vorwort der Broschüre gibt einen guten Einblick in die Langerhanssche Faschismustheorie. Es stammt von Jan Gerber und wurde dokumentiert in CEE IEH #117.
[ 20 ] Ebd.
[ 21 ] Ebd.
[ 22 ] Das Zitat stammt aus dem Jahre 1939. Daß Huhn seine Einschätzung des NS auch später – nach dem Zivilisationsbruch der Shoah! – nicht geändert hat zeigt aber auch der Text von 1952.
[ 23 ] Auch andere politischen Systeme erfüllen die angeführten allgemeinen Kriterien: “So enthüllen sich die vier großen lsquo;Ismen/‘: Sozialismus, Nationalismus, Bolschewismus /und/ Faschismus /als nationalhistorisch und geopolitisch unterschiedene, im soziologischen und dialektisch-historischen Aspekt aber als im Wesen ähnliche Formen der im Imperialismus notwendigen lsquo;militarisierten Gesellschaft ‘(…). Darum können sie sich eigentlich nur außenpolitisch entzweien, nie aus inneren, lsquo;ideologischen Gründen‘, denn die Ideologien sind ihnen im Grunde nur Mittel, nicht Ziele.” (128) Fast wortgleich im Übrigen die Langerhanssche Formulierung. Für ihn liegen die – ebenfalls als unwesentlich bestimmten – Differenzen zwischen NS, Bolschewismus etc. in “Unterschieden der nationalen Geschichte begründet”(2004, S. 19). Die Betrachtung des italienischen Faschismus wie des Bolschewismus muß hier außen vor bleiben.
[ 24 ] Clemens Nachtmann: Krisenbewältigung ohne Ende, in: Stephan Grigat (Hrsg.): Transformation des Postnazismus (2003), dort S. 61.
[ 25 ] Ebd., S. 62.
[ 26 ] Viel zu wenig wird in diesem Zusammenhang leider auch in antideutschen Analysen über den eliminatorischen Antiziganismus und seine Rolle für die Konstitution der Deutschen zu einer massenmörderischen Volksgemeinschaft nachgedacht. Hierzu einleitend sehr gut: Roswitha Scholz: Homo Sacer und “die Zigeuner”. Online unter: http://interventionen.conne-island.de/03.html
[ 27 ] Die Einsicht, daß der NS eine Massenbasis hatte, bleibt bei Huhn unausgeführt, randständig und ohne prinzipielle theoretische Folgen, was wieder auf das krasse Unverständnis in Sachen Ideologiekritik verweist.
[ 28 ] Franz Neumann: Behemoth (1984), dort S. 75-79.
[ 29 ] Für den ideologischen Protest gegen den “totalen Staat” und die verfassungstheoretischen Diskussionen um das Verhältnis von Staat und Partei/Bewegung vgl. Neumann S. 90-104, sowie für die Revision des traditionellen Völkerrechts durch den NS S. 198-216.
[ 30 ] Ebd., S. 78.
[ 31 ] Ebd., S. 131-136.
[ 32 ] Ebd., S. 21 (Vorwort zur zweiten, erweiterten Auflage von 1944).
[ 33 ] Ebd., S. 554.
[ 34 ] Ebd., S. 110.
[ 35 ] Gerhard Scheit nennt diese Position auch “Mit den Augen des Westens sehen”. Aktuell bedeutet das, daß “der Westen” gegen politische Gebilde, die Strukturmerkmale des Behemoths aufweisen, wie z.B. Iran oder die diversen Banden palästinensischen Bewegungen verteidigt werden müssen. Siehe z.B. den Text “Der neue Vernichtungswahn und seine internationalen Voraussetzungen.” von G. Scheit in CEE IEH #160 sowie “Dialektik der Feindaufklärung”. Online unter: https://www.cafecritique.priv.at/dialektikDerFeindaufklaerung.html