MH – Rezension zur Tjark Kunstreich, Ein deutscher Krieg

MH

Rezension zur Tjark Kunstreich, Ein deutscher Krieg

Den Deutschen war es egal, warum ausgerechnet dieser Krieg geführt werden mußte. Viel wichtiger war, daß es wieder einmal gegen die Serben ging, daß überhaupt Krieg geführt wurde, endlich ein deutscher Krieg. Darin unterschieden sich die Untertanen nicht von ihren gewählten Führern. Daß Deutschland, um Krieg führen zu können, mit seiner Vergangenheit abrechnen mußte und umgekehrt Krieg führen mußte, um mit der Vergangenheit abrechnen zu können, und daß diese Abrechnung nur von den Vertretern der 68er Generation hat vorgenommen werden können, gehört mittlerweile zum Standard linker Einsichten, die sich allerdings nur am Rande dafür interessieren, wie es dazu kam.

Der deutsche Krieg war nach 1945 nicht zu Ende. Doch um wieder militärisch eingreifen zu können, mußte er, vorläufig und gezwungenermaßen, als ideologischer fortgesetzt werden: Bitburg 1985, Historikerdebatte 1986, Wiedervereinigung 1989, Umgestaltung der KZ-Gedenkstätten 1991/92, Neue Wache 1993, Holocaust-Mahnmal 1989-1999, Wehrmachtsausstellung 1996-1999, Goldhagen 1996/97, Walser 1998 sind Stationen, die je für sich genommen bestimmte politische und psychische Funktionen für die deutsche Nachkriegsgesellschaft erfüllt haben. Die Richtung wechselte mehrmals, aber am Ende stand doch ein Resultat. Erst im Nachhinein vollendet sich das Geschehen zu einem Bild der Zwangsläufigkeit: Von Bitburg 1985 zum deutschen Krieg 1999 hat keine gerade Linie geführt; die Emanzipation der Deutschen von ihrer Vergangenheit verlief allerdings eben so zwanghaft, wie sie sich dem retrospektiven Blick als zwangsläufig darstellt.

Aus: LusT. Lesbische und schwule Themen N° 78 / Frühjahr 2004

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