Vom Mensch zum Ding
Eine Anmerkung zum Asylbewerberleistungsgesetz
Joachim Bruhn
Wem es noch irgendwie gelang, als Flüchtling, ob vor ökonomischem oder politischem Terror, die deutsche Grenze zu überschreiten, kann froh sein, vom Rechtsstaat wenigstens als Inhaber passiver Rechte anerkannt zu werden und, wie eingeschränkt auch immer, vor seiner Abschiebung das fundamentale aller passiven Rechte, das Recht auf Leben, zu genießen. Der Flüchtling ist der überflüssige, der überflüssig gemachte Mensch. Er ist die Arbeitskraft, die dem Recht auf Verwertung hinterherflieht, ist nichts als verwertbarer Körper auf der meist vergeblichen Suche nach seiner kapitalproduktiven Anwendung, reine Potenz ohne jedes Mittel ihrer Vergegenständlichung. Der deutsche Staat bringt ihn nicht um, zumindest nicht planmäßig; er nötigt nur hier ein bißchen, hilft da ein bißchen nach. Der Flüchtling ist kein Subjekt, sondern ein Gegenstand rechtsförmiger Verwaltung; er ist aber auch kein Ding, sondern ein Mensch, dessen Reduktion aufs Ding stetig vorangetrieben wird. Ausdruck dieser Degradation ist das Asylbewerberleistungsgesetz, das in § 3 regelt, daß “der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern durch Sachleistungen gedeckt wird”. Diese Garantie des “notwendigen Bedarfs” gilt dem Erhalt des Individuums als eines Körpers, den man nicht zur Liquidation oder zur Vernichtung durch Arbeit bestimmt hat, den man vielmehr zwischenlagert und in seinen Basisfunktionen erhält, dessen physische Reproduktion man im Auge hat, während man ihn darauf abtastet und scannt, ob sich nicht doch eine brauchbare Arbeitskraft in ihm verbirgt und ein in Deutschland lebenswertes Leben. Das Prinzip der Lieferung von Naturalien und Sachleistungen, die Internierung in Sammellagern, die Reduktion der Bargeldzahlung auf 80 Mark und derlei Schikanen und Restriktionen mehr sind Indizien dessen, wie viel Mühe die staatliche Verwaltung sich gibt, der Verwandlung des Menschen ins Ding immer näher zu kommen, ohne sie doch für den Augenblick schon restlos vollziehen zu dürfen. Was der Mensch braucht, um physisch existieren zu können, gehört den Wissenschaften des trial and error an. Einschlägige Erfahrungen aus den KZ liegen vor; und dieser Staat wäre kein deutscher Staat, hätte er irgendetwas davon vergessen. Der Kommentar zum Ausländerrecht jedenfalls merkt zum Begriff des “notwendigen Bedarfs” an, dazu gehöre “auch (!) die Berücksichtigung von ernährungsphysiologischen Erfordernissen”, und er spricht vom einem “Mindestunterhalt”. Solange soll der Körper intakt bleiben, bis über ihn befunden worden ist. Die 80 Mark, die dem Flüchtling noch als Bargeld zugeteilt werden, sollen ihm, wie es heißt, “eine gewisse Dispositionsfreiheit” gewährleisten. Hatte es bislang kein qualitatives Kriterium für die Unterscheidung von Mensch und Ding gegeben, so gibt es jetzt ein quantitatives dafür: monatlich 80 Deutsche Mark trennen den Menschen davon, nichts als Natur zu sein. Ist das Rassismus? Ist das Asylbewerberleistungsgesetz, wie die antirassistische Zeitschrift “Off Limits” schrieb, ein “rassistisches Sondergesetz”? Ja und nein. Nein: Denn die feine Unterscheidung zwischen den notwendigen und den weiteren Bedürfnissen, die das Gesetz vornimmt, verweist auf den repressiven Charakter der bürgerlichen Anthropologie schlechthin. Seit den Bill of Rights von 1776, seit der Erklärung der Menschenrechte von 1789 macht die fundamentale Unterscheidung zwischen dem phänomenalen Menschen, dem Individuum wie es geht und steht, und dem funktionalen Menschen, dem Subjekt, das Zentrum erst der bürgerlichen, dann der kapitalistischen Doktrin vom Menschen aus. Subjekt ist, wer das Recht hat, Rechte zu haben. Das erste, das konstitutive aller Rechte ist das Privateigentum an sich selbst. Es speist sich allerdings aus einem Tatbestand, für den das Individuum nichts kann, für den es gar nichts tun kann: aus seiner Arbeitskraft, d.h. seiner Identifizierung als verwertbares Arbeitsvermögen, die das Kapital an ihm vornimmt. Der Mensch ist Ding, stofflicher Träger einer gesellschaftlichen Funktion. Als Träger einer Funktion, d.h. als belebter Arbeitskraftcontainer, ist der Mensch eine zwar notwendige, aber nie und nimmer die hinreichende Bedingung des Rechtes, Rechte zu haben. Daher ist es nicht der empirische Mensch, der das Subjekt oder die Rechtsperson konstituiert, sondern es ist die kapitale Funktionalisierung der objektiven Natur des Menschen, mehr arbeiten zu können als er es für seine physische Reproduktion tun müßte, die es möglich macht, ihn unter der gesellschaftlichen Form des Subjekts zu verfassen. Die Funktionalisierung schägt sich in der Figur der doppelt freien Lohnarbeit nieder, d.h. in der gerechten Bezahlung des kapitalen Gebrauchs der Arbeitskraft mit Geld. Die Freiheit, soweit sie unter der souveränen Herrschaft des Kapitals überhaupt existiert, besteht darin, die freie Wahl zu haben, der Pflicht, sich als Arbeitskraft zu erhalten, durch den Konsum der Ware A oder durch den der Ware B erfüllt nachzukommen. Das Kapital ist hinsichtlich dieser Wahl- und also Willensfreiheit durchaus ambivalent gestimmt: es braucht die Arbeitskraft in der Form des Subjekts, aber es will sich zugleich das Arbeitsvermögen als bloß natürliche, bloß physische Potenz ohne weitere Umstände rein und direkt aneignen. Es tendiert danach, das Subjekt aufs Ding zu reduzieren: Indiz dessen ist – im Ausnahmezustand – der Faschismus, Indiz dessen ist – im ‘Normalzustand’ – die Lohndrückerei und die fortschreitende Reduktion der bürgerlichen Rechte bis hin zur Einbuße des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, bis hin zum Arbeitszwang, den das Sozialrecht administriert; Indiz dessen ist schließlich das Recht der Entmündigung oder, wie es seit 1992 firmiert, das Recht der Betreuung nach § 1896 ff BGB, das nicht von ungefähr um das Kriterium der “tatsächlichen Geschäftsfähigkeit”, den Basisbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuches, kreist. Subjekt heißt Spaltung, und so setzt die Freiheit des Subjekts als Wille aus sich selbst die Unfreiheit des Indiviuums als eines Dings heraus. Das Subjekt ist die Spitze einer gleitenden Skala, eines Kontinuums der differenzierten Transformation des Menschen in nichts als Natur. Eben dies, das Kontinuum zu verwalten, ist Wesen wie Mission des Rechtsstaates. Der Faschist Carl Schmitt wußte, was die demokratischen Humanisten im Elan ihres menschenrechtlichen Engagements vergessen machen: “Die Gleichheit all dessen, ‘was Menschenantlitz trägt’, vermag weder einen Staat, noch eine Staatsform, noch eine Regierungsform zu begründen.” Es ist gerade nicht die Physis, nicht die phänomenale Empirie, sondern die konstituierte Ungleicheit, d. h. die kapitale Funktionalisierung des Menschen als Arbeitskraft wie seine souveräne Formierung zum juristischen Zuordnungspunkt des Rechts auf Rechte, die seine Subjektivität begründet, die ihn zur Subjektivität verpflichtet. Die Menschenrechte sind ein Instrumentarium zur Spaltung der Gattung, einer Spaltung, deren prominente Form die Nation ist. Nation ist die Weise, in der der politische Souverän als Garant der Rechtsform auftritt. Er zieht eine Grenze, grenzt sich ab, gewinnt Identität, indem er glaubhaft ein natürliches Kriterium und eine objektive Schranke, d.h. eine allseits geteilte Lüge, für den Zutritt zur nationalen Arbeitskraft erfindet: die Deutschheit. Ist das Asylbewerberleistungsgesetz nun rassistisch oder nicht? Nein, denn die Flüchtlinge werden gar nicht als Arbeitskraft oder als Subjekte anerkannt, sondern als nur eventuelle Arbeitskraft zwischengelagert. Sie sind außerhalb des Rechts; es werden ihnen nur passive Schutzrechte zugebilligt. Das Schicksal, das sie von Staats wegen erleiden müssen, ist jenem am tiefsten Punkt des Sozialrechts verwandt, ge schieht in genau dem stetig verkleinerten Abstand, der das Subjekt von seiner Entmündigung und seiner Degradation in einen Gegenstand der Verwaltung trennt. Am Flüchtling wird vollzogen, was der Arbeitskraft, was ihrem Subjekt schlechthin droht. Und zugleich ja: ja, das Gesetz ist rassistisch, insofern die Gesetzesform an sich selbst rassistisch ist, d.h. indem es sich unter der Form des Rechtsstaates notwendig national ausspricht und also ein genaues Kriterium der Unterscheidung und Selektion kennt. Der “deutschstämmige” Russe, der deutsch fühlt, aber sowenig kann wie ein Leser der BILD-Zeitung, darf deutsche Arbeitskraft sein; der Deutschlehrer aus Sri Lanka, der Schillers “Glocke” auswendig kann und so “deutsch” fühlt wie kein Goethe, darf es nicht. Das freie und gleiche Subjekt, wie das Kapital es konstituiert, wie der politische Souverän es exekutiert und wie die Menschenrechte es reflektieren, ist ein notwendig nationales Subjekt. Es ist dem Kapital funktional, indem es dem Souverän loyal ist. Denn das Privateigentum an sich selbst – Ursprung aller Rechte –, stiftet in einem die Pflicht zur produktiven Hilfestellung bei der Verwertung des Kapitals wie die zur loyalen Unterordnung unter den gewaltmonopolistischen, rechtsförmig verfaßten Souverän, der die Akkumulation garantiert. Produktivität und Loyalität – das sind die Kautelen, nach denen ein Individuum zum Subjekt befördert wird, die Konditionen, die einen menschlichen Leib zur Rechtsperson erheben. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist rassistisch, weil der politische Ausschluß aus der nationalen Arbeitskraft sich anders als rassistisch gar nicht begründen könnte. Es ist rassistisch, weil es, wie der Kommentar sagt, “außerhalb des Bundessozialhilfegesetzes” steht und, im Gegensatz zur Sozialhilfe für Deutsche, “die vom Individualisierungsgrundsatz ausgeht und ein existentiell gesichertes und sozial integriertes Leben der Leistungsberechtigten ... zum Ziel hat”, die Flüchtlinge nur als rechtlose Masse Mensch verwaltet. Der Flüchtling hat, einstweilen, das Recht auf Leben, aber dies Leben ist keines, denn es wird nur so erhalten, wie man einem Nutztier das Futter gibt. Der Flüchtling ist Exemplar, gehört einer Gattung an, die zwar auch atmet und denkt und ißt, aber mit den Subjekten weiter nichts gemein hat. Dieser Verzicht auf die Individualisierung ist der Rassismus. Ja und nein also: In der haltlosen Ambivalenz dieses Befundes spiegelt sich, wie Ilse Bindseil gesagt hat, unsere Unfähigkeit wider, “Gleichheit mit den Asylanten statt Gleichheit für die Asylanten” zu praktizieren, reflektiert sich die stete Oszillation der politökonomischen Praxis zwischen Subjektivierung und Verdinglichung und drückt sich die konstitutionelle Unfähigkeit des Subjekts aus (d.h. die auch des Autors), sich selbst unter der Perspektive seiner Transformation ins Ding zu betrachten. Die Ambivalenz des Urteils trifft etwas an der Sache, aber es trifft zugleich uns selbst – unsere Unfähigkeit, uns vorzustellen, daß wir selbst es sind, die Subjekte, deren Vergesellschaftung mit penetranter Permanenz die Gattung spaltet und Menschen aufs Ding reduziert. Geld stiftet Subjektivität; die Akkumulation des Kapitals ist ihr funktionelles Substrat. Kein Geld zu haben, das ist zur Not vorstellbar; nicht das Recht zu haben, überhaupt Geld haben zu dürfen, ist unvorstellbar: Denn das Geld stellt, wie Hegel wußte, “die Abbreviatur aller äußerlichen Notwendigkeit” dar, ist aber zugleich das, wie Marx darüber hinaus wußte, was sich im “Naturinstinkt der Warenbesitzer” betätigt: Das Geld als das Recht auf absolute Disposition gibt ihnen den Inbegriff ihres Gefühls und ihres Bewußtseins der Freiheit, ist der Generalnenner ihrer Identität und Subjektivität, stellt sich ihnen dar als die Quintessenz ihres Anspruchs, sich selbst ein unverwechselbares und einzigartiges ‘Ich’ zu nennen. Nichts ist also an der bloßen Kreatur, diesem Naturgegenstand, das dies atmende, fühlende und denkende Ding, diesen Nichts-als-Körper, diesen Bloß-Leib, zur Rechtsperson machen könnte, nichts, was ihm von irgendwoher die Identität als Subjekt verschaffte, derer es bedarf, soll das Recht auf Willensfreiheit geltend gemacht werden. Wie der Hunger alles andere ist als ein Grund zur Produktion, so ist die nackte Existenz eines wie Mensch aussehenden Dings alles andere als ein Grund, sich die Sorgen zu machen, die ein Subjekt verdient hätte. Außerhalb des Rechts ist der Mensch bloß Natur und wird gejätet wie das Unkraut. Innerhalb des Rechts ist der Mensch bloß Subjekt und wird bewirtschaftet als der nützliche Rohstoff des Kapitals und seines politischen Souveräns.
Daraus folgt: das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein rassistischer Widerspruch zu den Menschenrechten – es ist eine rassistische Konsequenz der Menschenrechte. Die Behandlung von Menschen als Dinge zu kritisieren und zu bekämpfen verlangt nach der Kritik und Bekämpfung der kapitalen Konstitution der Menschen als Subjekte, d.h. fordert die Abschaffung der Form Recht und die gesellschaftliche Liquidation des Rechtsstaates. Wird es jemals Juristen geben, die nicht immer nur das Recht anders auslegen und handhaben wollen?
Literatur
Jan Allers, Sozialpolitik als Rassepolitik. Entwurf für ein Ausländergesetz vorgestellt, in: Off limits. Antirassistische Zeitschrift Nr. 9 (Mai/Juni 1995), S. 45 f.
Ilse Bindseil, Gleichheit mit den Asylanten statt Gleichheit für die Asylanten, in: Dies., Streitschriften, Freiburg 1993, S. 25 – 38
Joachim Bruhn, Das Menschenrecht des Bürgers, in: Ders., Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S. 121- 132
Gesetz zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber vom 30. Juni 1993 (BGBl. I, S. 1074), geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 21. 12. 1993 (BGBl. I, S. 2374), mit amtlicher Begründung, in: Kloesch, Deutsches Ausländerrecht, 3. Aufl., Bd. II, Stand März 1996
G. W. F. Hegel, Notizen und Aphorismen, 1818 – 1831, in: Ders., Berliner Schriften 1818 – 1831, Werke XI, Frankfurt 1970, S. 565
jal, Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylBlG): Ein rassistisches Sondergesetz, in: Off limits. Antirassistische Zeitschrift, Nr. 0 (Oktober 1993), S. 5 – 8
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd. 1 (Marx-Engels-Werke Bd. 23), Berlin 1973, S. 101
Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe (Berlin 1929), Reprint: Frankfurt 1966
Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 6., unveränderte Auflage, Berlin 1983, S. 226