Die ehrenwerte Gesellschaft. ‘Illegal ist unsozial’

Die ehrenwerte Gesellschaft

»Illegal ist unsozial«

Joachim Bruhn

Lauschangriff, verdeckte Ermittler, härtere Strafen usw. – die systematisch geschürte Hysterie wg. »Organisierter Kriminalität« dient hierzulande dem Ausbau des starken Staates. Sie ignoriert dabei sowohl das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft als auch die Daten der Kriminalstatistik. Bereits Marx beschrieb den Nutzen des Verbrechens für die bürgerliche Gesellschaft – Joachim Bruhn stellt seine »Abschweifung (über produktive Arbeit)« vor.

Abschweifung (über produktive Arbeit)

Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als »Ware« auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Ganz abgesehn von dem Privatgenuß, den, wie uns ein kompetenter Zeuge, Prof. Roscher, ]sagt, das Manuskript des Kompendiums seinem Urheber selbst gewährt.

Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.

Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen »Dienst«. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners »Schuld« und Schillers »Räuber«, sondern selbst »Ödipus« und »Richard der Dritte« beweisen. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen »Ausgleichungen« ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive »nützlicher« Beschäftigungszweige auftun.

Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechens auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden (siehe Babbage) ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie strikes auf Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? Und ist der Baum der Sünde nicht zugleich der Baum der Erkenntnis seit Adams Zeiten her? Mandeville in seiner »Fable of the Bees« (1705) hatte schon die Produktivität aller möglichen Berufsweisen usw. bewiesen und überhaupt die Tendenz dieses ganzen Arguments: »Das, was wir in dieser Welt das Böse nennen, das moralische so gut wie das natürliche, ist das große Prinzip, das uns zu sozialen Geschöpfen macht, die feste Basis, das Leben und die Stütze aller Gewerbe und Beschäftigungen ohne Ausnahme; hier haben wir den wahren Ursprung aller Künste und Wissenschaften zu suchen; und in dem Moment, da das Böse aufhörte, müßte die Gesellschaft verderben, wenn nicht gar gänzlich untergehen.«

Nur war Mandeville natürlich unendlich kühner und ehrlicher als die philisterhaften Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft.

(Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Erster Teil (= MEW Bd. 26/1), S. 363 f.)

*

Selbsterkenntnis, heißt es gemeinhin, sei der erste Schritt zur Besserung: eine schöne Maxime, deren Pferdefuß allerdings in der stillschweigenden Unterstellung liegt, das »Selbst« berechtige eigentlich zu den schönsten Hoffnungen und werde sich letzten Endes nicht als geradezu unverbesserlich herausstellen. Was aber, wenn der Weg zur Wahrheit über die eigene Leiche führt? Auf die bürgerliche Gesellschaft trifft die Devise daher nicht zu. Denn ihr »Selbst«, das Kapital als Kern ihrer Identität, verweigert sich jedem Aufklärungsversuch, dessen therapeutische Konsequenz auf anderes hinausliefe als auf seine Abschaffung. Wie die marxistische Kritik der politischen Ökonomie zeigt, ist die Erkenntnis des kapitalen Wesens unmittelbar mit seiner Liquidation als eines Unwesens identisch; nichts anderes also hätte Selbsterkenntnis zu bedeuten als die Vorbereitung des Selbstmords.  

Kein Wunder daher, daß die Bürger sich genötigt fühlen, den fundamentalen Unterschied zwischen Erkenntnis und Selbsterhaltung zu lernen. Wo die Krisen noch nicht genügten, da half der Klassenkampf nach – und irgendwann zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt um 1848 fingen sie das Lügen an und erfanden sodann die sog. »subjektive Wertlehre«. Das ordinäre »notwendig falsche Bewußtsein« reichte nicht mehr aus, denn die Ideologie hatte doch – und zuletzt in den Arbeiten des englischen Nationalökonomen David Ricardo – in aller wissenschaftlicher Unschuld »die Arbeit« als zumindest eine Quelle des Reichtums identifiziert und somit allerhand Gelegenheit zur Verteidigung proletarischer Ansprüche geboten, und sei es auch in Form der Forderung nach einem »gerechten Lohn«. Die subjektive Wertlehre räumte nun mit jeder Fundierung des Wertes in der Verausgabung von Arbeitszeit auf und gründete ihn einzig auf die je individuelle »Wertschätzung« von »nützlichen Dienstleistungen«. Der Kardinalpunkt der klassischen Ökonomie, die Konstitution des Geldes als objektiver sozialer Form, war damit erledigt, und so gibt es heute kaum noch einen Ökonomen von Profession, der nicht noch stolz darauf wäre, nicht nur keinen blassen Dunst davon zu haben, was das Geld zum Geld macht und worin der Grund liegt, daß nicht jeder sein eigenes drucken darf, sondern der nicht eben diese intellektuelle Kapitulation zum Triumph der Forschung erklären würde. [ 1 ]

Als Marx 1862/63 an den »Theorien über den Mehrwert« arbeitete, wollte er der Ideologiekritik des »Kapitals« eine Geschichte der Ideologie illustrierend zur Seite stellen. Die »Theorien« geben den Forschungsprozeß wieder, der in die »Kritik durch Darstellung« mündete. Aber die Radikalisierung der Ideologie zur Lüge war schon fast vollzogen – und Lügen ließen sich nicht mehr mit dem Anspruch auf Erkenntnis des wirkliche n Tatbestandes analysieren. An die Stelle der Forschung trat daher die Denunziation des Interesses.  

In diesem Zusammenhang mag, in einem Augenblick des vollendeten Überdrusses, die Glosse über den Nutzen der Kriminalität für das bürgerliche Leben entstanden sein. Die »Abschweifung (über produktive Arbeit)« parodiert den traurigen Sachverhalt, daß die Bürger unter dem Niveau der Kritik liegen und daß es daher der Kritiker ist, dem die Drecksarbeit zufällt, das Bewußtsein der Totalität, das nach Hegel und Ricardo abhanden kam, selbst zu erzeugen. Denn was den Richtern, Staatsanwälten und Polizisten die Verfolgung des organisierten Verbrechens heute so sauer werden läßt – die omertà als höchster Ausdruck der Ganovenehre –, das ist nichts anderes als das erste Gebot der bürgerlichen Gesellschaft: eisernes Schweigen über die organisierte Ausbeutung des Unterschieds zwischen dem Preis der Ware Arbeitskraft und den wertschaffenden Potenzen des lebendigen Arbeitsvermögens. Wenn also, so Marx‘ Argument, diese kriminelle Verschwörung gegen die Wahrheit dazu führt, allem, was »nützlich« ist, auch »Wert« zuzusprechen und sich damit um die Anerkennung des Doppelcharakters der Arbeit herumzuschummeln – was eigentlich hindert diese ehrenwerte Gesellschaft daran, die Mörder und Betrüger zu bezahlen?  

In der Logik der Nationalökonomie, wenn sie wenigstens hier einmal konsequent wäre, läge es, den gerechten Preis von Mord und Totschlag zur Sache von Tarifverhandlungen zu erklären und die Gewerkschaft der Taschendiebe zur Aufnahme in den DGB vorzuschlagen. Dieser Gedanke erscheint kabarettistisch, und er ist doch die Form, in der der bürgerlichen Gesellschaft die unterschlagene Totalität unterkommt – als Zynismus, den sie zur Satire verharmlosen muß, um ihn auszuhalten. Ob Jonathan Swift oder Bernard de Mandeville – wer mehr als die erbauliche Sonntagsweisheit zu sagen wußte, wonach, wo viel Licht ist, auch viel Schatten sein muß, wurde der Schwarzmalerei bezichtigt und einer schlechten Meinung vom Menschen. Und obwohl Mandeville mitten im Aufbruch zur bürgerlichen Gesellschaft nur deren Gerede beim Wort nahm, die radikale Konkurrenz bis aufs Messer brächte wie von selbst das allgemeine Wohl hervor, wurde er als »schwarzer Denker« verschrien, denn er tat das Unverzeihliche: Er schloß von der Handlung auf die Motivation. Das verfehlte den kapitalen Zusammenhang ebenso wie es doch das Urteil sprach: »Private Laster, öffentliche Vorteile« (so der Untertitel der »Bienenfabel«) vermag nur der zum System gewordene Zynismus zusammenzudenken. Das ganze hört auf eine Melodie, und die Verhältnisse selbst sind es, die sich zum Tanzen bringen, indem sie sich ihre eigene Katzenmusik vorspielen: 

Der Allerschlechteste sogar
Fürs Allgemeinwohl tätig war.

So herrscht im ganzen Einigkeit,
wenn auch im Einzelnen oft Streit,

Wie der Musik harmon‘sche Schöne
Entsprießet aus dem Streit der Töne.

[ 2 ]

Da mag man sich vorstellen, was Mandeville davon gehalten hätte, daß der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit und dem Arbeits- und Sozialministerium als Motto ihrer neuesten Hatz auf Schwarzarbeiter und Steuerbetrüger kein besseres Motto einfällt als eben dieses: »Illegal und Unsozial«.

[ 3 ]

Anmerkungen:

[ 1 ] Diese Kapitulation bis ins einzelne nachzuzeichnen, hat sich als einer der wenigen linken Ökonomiekritiker, die keine Ökonomen sein wollen, Hans-Georg Backhaus gewidmet – siehe nur sein »Zur Marxschen Revolutionierung« und »Kritik« der Ökonomie: die Bestimmung ihres Gegenstandes als Ganzes »verrückter Formen«, in; Mehrwert. Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie Nr. 25, Berlin 1984, S. 7 ff.

[ 2 ] Bernard de Mandeville, Die Bienenfabel oder private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einleitung von Walter Euchner, Frankfurt 1980, S. 84f.  

[ 3 ] Siehe die Anzeige im »Spiegel« vom 5.4.93

Aus: Konkret 05/93, S. 20

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