Randale und Revolution

Randale und Revolution

Das “Konzept Stadtguerilla” und die Gewaltmythen der Antiimperialisten und Autonomen

Joachim Bruhn

Es geht voran. So schnell hat die “Neue Linke” des kategorischen Imperativs sich entledigt, weder von der herrschenden Macht noch von der eigenen Ohnmacht sich verblöden zu lassen, daß allein die Geschwindigkeit dieser Verdrängung den Verdacht nahelegt, es habe nie eine “Neue Linke” gegeben. Zu schnell war die kurze Atempause zwischen dem kritischen Abtun der öffentlich anbefohlenen und dem begeisterten Aufbau der eigenen Dummheit vorbei, als daß nicht vermutet werden müßte, “Aufklärung” habe der Protestbewegung wenig mehr bedeutet als die günstige Gelegenheit, die langweilig gewordene Sklerose der Adenauer, Lübke und Kiesinger gegen lustvollere Gebrechen einzutauschen.

Kaum waren Mahatma Gandhi und Albert Schweizer entthront, da besetzten schon die proletarischen Kaiser W.I. Lenin und Mao Tse Tung ihre Plätze. Kaum waren die Idole des demokratischen Humanismus verabschiedet, schon herrschte in den Gazetten der Aufbauorganisationen der so aseptische wie exotische Geist des Lazaretts von Lambarene. Gegen die These, anders habe es wohl nicht kommen können, spricht nur eine kurze Irritation beim Übergang vom radikaldemokratischen Protest zum kommunistischen Aufbaueifer. Dem Zwang, die parteikommunistischen Konsequenzen zu ziehen, hätte durch die Erkenntnis, daß die radikaldemokratischen Prämissen bereits falsch waren, entgangen werden können. Es schien, als sei die “Trauer über den Verlust des bürgerlichen Individuums”[ 1 ] nicht nur geheuchelt, als stünde der Bruch mit dem Narrenkappenspiel der politischen Identität bevor, noch ehe es außer diesem Spiel nichts mehr geben sollte. Die APO der Ostermärsche war die Mobilmachung und “Politisierung von Staatsbürgern, die sich ihrer selbst bewußt wurden” [ 2 ]. Der Kampf für das Nachholen der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland, für die “politische Kultur”, überbot und radikalisierte das staatsbürgerliche Selbstbewußtsein soweit, daß es begann, sich vom bürgerlichen Leben zu emanzipieren, eigene Gestalt anzunehmen und sich rabiat gegen seine soziale Naturgrundlage zu wenden. Aus der heillosen Entzweiung des Citoyen mit sich selber, aus seinem Versuch, seinen schizophrenen Doppelgänger, den Bourgeois, zu vernichten und doch Bürger zu bleiben, zogen die ML/AO-Gruppen den Schluß, den Idealen der Verfassung sei nur mit revolutionären Methoden auf die Sprünge und damit zur Wirklichkeit zu verhelfen. Um zu staatsbürgerlichen Resultaten zu kommen mußte zu bolschewistischen Methoden gegriffen werden. Die plötzliche Wiederauferstehung des bürgerlichen Individuums als staatskapitalistischer Reform- oder auch Revolutionsbeamter [3 ] bewies, daß sein Tod nur ein Scheintod war, der scheinbare Verlust aber wirklichen Gewinn einbrachte; Als maostalinistischer Kader reinkarniert, streifte es sich die “politische Löwenhaut” [4 ] des Jakobiners über und avancierte als selbstloser Liebhaber der Arbeiterklasse.

Die Studentenbewegung blieb so in proletarischer Gestalt das bürgerliche Selbstmißverständnis, das sie zuvor schon war. Ihre Organisationswut bezeugte den Schrecken der trostlosen Vereinzelung im Konsum, dem die Eltern, ihres rücksichtslosen Einsatzes in der Produktionsschlacht um den Wiederaufbau der Volksgemeinschaft zum Trotz, Ende der 50er Jahre erlegen waren, aber auch ihren Willen, es diesmal besser zu machen. Stachanov war die Antwort auf die Sinn- und Zwecklosigkeit des bürgerlichen Lebens [ 5 ]. Die heute unverständliche Leidenschaft der Organisationsdebatten verdankte sich diesem sublimierten Schrecken und der panischen Angst, die Revolution, die nicht mit der wissenschaftlichen Präzision disziplinierter Berufsrevolutionäre kalt geplant und durchgeführt würde, werde zu keinem anderen Ergebnis führen als zuvor der Wiederaufbau.

Eine Revolution, die ihrem Begriff entsprechen soll, läßt sich nicht organisieren. Daß die Organisation es sei, die die Vermittlung zwischen revolutionärer Notwendigkeit und sozialer Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis leisten müsse, ist eine Mystifikation, hinter der sich der überwertige Wunsch nach Gemeinschaft davor schützt, die eigene Blamage noch wahrzunehmen. Die Revolution ist ebensowenig eine Frage der Organisation wie der Bau einer Brücke Frage einer spontanen Eingebung in Sachen Statik.

Die Linke, bemüht, die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zu erfinden, zu sein und sich als diese Vermittlung zu betätigen (worin schon ihre gesamte Geschichte besteht), erlag darin der bürgerlichen Revolutionsideologie, die die Revolution unter den manipulierbaren Gegenständen des technisch Machbaren klassifiziert, um sich sodann in Gestalt der Polizei auf die Fahndung nach ihren Ingenieuren und Technikern zu begeben. (Hierin läge ein Grund mehr, Amnestie für die politischen Gefangenen des bewaffneten Widerstandes zu fordern: Wenn es möglich ist, den genialsten “Hackern” die Strafe zu erlassen, um sie in den Computerkonzernen zu beschäftigen, warum sollte es unmöglich sein, die staatlichen Gewalttechniker dazu zu bewegen, ihre rein professionelle Hochachtung für das Revolutionsingenieurwesen auch öffentlich, als Amnestie eben, auszudrücken?). Der in der “Neuen Linken” allseits geteilte Wahn, es ginge darum, zwischen “Sein” und “Bewußtsein” zu vermitteln, diese Vermittlung zum Programm zu erheben und als Organisation zu praktizieren, führte dazu, daß sie Revolutionstheorie betrieb, anstatt die Geschichte der Revolutionen zu studieren. Die Linke memorierte Lenins Staat und Revolution bis zur Bewußtlosigkeit, aber sie ignorierte die Geschichte der Oktoberrevolution. Sie paukte Parteigeschichte und beherrschte all die Programme, Kongresse und Fraktionen auswendig; die Geschichte der Räte war ihr gleichgültig oder bloße Illustration. Sie machte sich daran, ökonomisches Sein und ideologisches Bewußtsein zu vermitteln und konnte darüber nicht mehr wahrnehmen, daß sie längst praktisch zur deutschen Misere vermittelt waren, aneinanderhingen wie Pech und Schwefel. Statt die Notwendigkeit der Revolution auf den Begriff zu bringen, diesen Begriff in Kritik und Polemik zu entfalten und im übrigen kontrafaktisch auf bessere Zeiten zu hoffen, ließ sie es mit der wissenschaftlichen Behauptung dieser Notwendigkeit bewenden, erhob sie zum Glaubenssatz und stürzte sich in den Aufbau der zur Vermittlung des Glaubens nötigen Apparate. Das vorgebliche Mittel war der eigentlich gewollte Zweck.

Im Konzept Stadtguerilla legte die Rote Armee Fraktion 1971 den Finger auf diese Wunde, ohne jedoch eine andere Medizin zu empfehlen als eben jenes Spektakel von Theorie und Praxis, von Sein und Bewußtsein, an dem die achtbare Linke sich längst berauschte. So treffend die Kritik, die Neue Linke sei nur ein “Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich vor einer imaginären Jury … den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen”, und so gerecht der Vorwurf, “mit Lukács langfristig zu promovieren ist ihnen wichtig, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen suspekt” [ 6 ], auch sind – die Kritik ist nur Ausdruck eben jener Vermittlungsphobie, deren Resultate sie denunziert. Am Fundament des “wissenschaftlichen Sozialismus” selber wurde nicht gekratzt, vielmehr noch zementiert.

Revolutionstheorie, deren praktische Anwendung das Konzept Stadtguerilla einklagte und zu deren militärwissenschaftlicher Fundierung ihre Thesen beitragen sollten, ist ein logischer Widerspruch in sich. Abgesehen davon, daß keine historische Revolution jemals organisie rt worden ist, läßt sich nur jener Gegenstand theoretisieren, der den Geboten der Logik, der Widerspruchsfreiheit und des Verstandes an sich selbst schon folgt. Die bürgerliche Gesellschaft stellt aber nicht den seiner selbst noch unbewußten Sozialismus dar, sondern dessen gerades Gegenteil – postfaschistische Gesellschaft im genauen Gegensatz zu freier Assoziation. Da das Kapital als soziales Verhältnis nicht das entfremdete, aber theoretisch rekonstruierbare Verhältnis der Arbeit zu sich selber darstellt, “eigentlich” und “an sich” also keine Form des Selbstwiderspruchs der arbeitenden Gattung Mensch ist, kann es, im Gegensatz zur Notwendigkeit der Revolution, keine Theorie der Revolution geben. Gäbe es die Theorie trotzdem, so vermöchte sie nichts anderes zu beweisen als die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes. Wäre Revolution, was Theorie fordern muß, ein ableitbarer, bedingter Akt, “eine rationale, planbare Tat, dann wäre sie die Vernichtung ihrer selbst als eines Aktes der Freiheit, in dem sich, man weiß nicht wie, ein neuer Anfang setzt, ein gesellschaftlich-praktisches Aha-Erlebnis, das den Begriffshorizont revolutionärer Pädagogen und didaktisch geschulter Propagandisten notwendig überschreiten muß. Wäre schließlich Revolutionstheorie möglich, dann wäre die Revolution eine Probe aufs Exempel wie der Schokoladenpudding eine Probe auf Dr. Oetkers Rezept. Die Probe auf Dr. Oetker ist der Geschmack, die Probe auf jede Revolutionstheorie ihre praktische Widerlegung.

Die Kritik der RAF am neuen deutschen Kathedersozialismus der Marx-Engels-Exegeten – “Praxislos ist die Lektüre des Kapital nichts als bürgerliches Studium” [ 7 ] – zielte ebenso wie der Einwand gegen den diskreten Legalismus der Parteiaufbauer – “metaphysische Verlängerung der Legalität” [ 8 ] – ins Zentrum der neulinken Vorstellung gelingender Aufklärung. Indem die RAF auf die Verbindung von Aufklärung und Aktion beharrte, kritisierte sie bereits die pädagogische Idee vom “Lernprozeß”, mit der die akademischen Sozialisten die Verstaatlichung der Protestbewegung rechtfertigten. Vermittlung von Wissen als Aufklärung auszugeben hat seinen Frieden mit Herrschaft schon geschlossen, bevor noch eine Unterrichtseinheit erstellt und bevor noch der Staat das erste Mal aus dem Kapital “abgeleitet” wird: Ist doch als Voraussetzung immer schon unterstellt, Herrschaft beruhe auf nichts anderem als auf dem Nicht-Wissen der Beherrschten. Das Dogma der pädagogischen Linken: “Wissen ist Macht” signalisiert den Beherrschten im einfachen Umkehrschluß nur, daß die Macht alles weiß und jeder Widerstand zwecklos ist. Lernprozessse aber erfordern unbedingte Ruhe und Andacht – verständlich daher, daß die achtbare Linke den Theorien wie den Aktionen der RAF nicht mehr zu antworten wußte als: Nicht hier, nicht jetzt, nicht das. Die Kritik, die RAF verwechsle “in einem typisch bürgerlichen Mißverständnis die proletarische Klassengewalt mit dem privatisierten Faustrecht kleiner Gruppen”, führte nicht zur näheren Bestimmung dessen, was denn “proletarische Klassengewalt” sei, sondern allein zu der Aufforderung, “in den Gewerkschaften zu arbeiten, konkrete Interessenpolitik zu betreiben” und “dabei auch keine Angst vor einer Praxis zu haben, die im plakativen Revolutionsverständnis als reformistisch denunziert wird, so Elmar Altvater [ 9 ]. Die bewaffnete Kritik des Legalismus mündete in der Verhärtung des Kritisierten zum Syndrom. Der bewaffnete Aufstand würde zum Anathema der “Neuen Linken” – ein früher Grund dafür, daß sie nur Friedensforscher hervorgebracht hat. Die “Neue Linke” gelangte noch nicht einmal auf den Standpunkt offizieller Militärwissenschaft, leistete noch nicht einmal die nüchterne Kritik, die RAF berufe sich zu Unrecht auf Blanqui: der nämlich wußte, wann er aufzuhören hatte. Am 18. August 1870, wenige Wochen vor der Kommune, wagte er mit dreihundert Genösse” den Aufstand in Paris. Als sich seine Auffassung des Verhältnisses von organisierter Verschwörung und allgemeinem Volksaufstand nicht bestätigte, als die späteren Kommunarden nicht zu Hilfe kamen, schickte er seine Genossen wieder nach Hause – “angesichts der allgemeinen Gleichgültigkeit” [ 10 ].

Innerhalb der Zwangsvorstellung, Theorie und Praxis vermitteln zu müssen, ist die Idee des Lernprozesses allerdings ebenso rational wie die, Aufklärung des Bewußtseins durchs praktische Bombardement des herrschenden Seins und Bewußtseins treiben zu wollen. Banal wäre es, unter zwei fixen Ideen für die sich entscheiden zu wollen, die sich so ernst nimmt, daß, wer sie glaubt, sich zum Opfer bringt. Wer gratuliert schon einem Paranoiker dafür, daß er, im Wahn, hinter der Mauer lauere die verhaßte Schwiegermutter, mit dem Kopf durch die Wand will? Was wäre gewonnen, wenn er den blutigen Kopf sich ersparte, der Zwangsvorstellung aber weiter anhinge?

Der Wahn der Vermittlung wird praktisch in der Fahndung nach dem revolutionären Subjekt. Das Interesse, eine Revolutionstheorie auszuarbeiten, erfordert als die Bedingung seiner Möglichkeit die Existenz einer irgendwie gearteten Subjekt/Objekt-Einheit, das Sein eines Dinges also, das Handgreiflichkeit und Utopie vereint, eines Dinges, das zwar objektiv und “an sich” schon ist, subjektiv und “für sich” aber leider noch nicht   zu welchem Bewußtsein der Revolutionstheoretiker ihm verhilft. Wo der Kathedersozialist die gewerkschaftseigene Arbeiterbewegung als derart metaphysisch-praktisches Subjekt/Objekt setzt, da setzt der Stadtguerillero, mit gleichem Recht, als revolutionäres Subjekt sich selbst. Zwischen der seminarmarxistischen Vorstellung, im Klassenkampf, unter der Führung einer umsichtig Theorie und Praxis vermittelnden Instanz, kämen die Arbeiter langsam zu sich und erführen sich als das, was sie aber immer schon waren, und der terroristischen These, Stadtguerilla erweise kämpfend ihre eigene Möglichkeit und konstituiere gehend erst den Boden, auf dem sie geht, herrscht erkenntnistheoretische Waffengleichheit und keine kann der anderen ihr Recht bestreiten.

Wie aber kann ein Subjekt sich als revolutionäres erklären, wie an sich selbst die Identität von Vernunft und Interesse praktisch erweisen? Subjekt und Objekt der Revolution zugleich zusein, das notwendige Absolute im empirischen Sozialen darzustellen und so die These: “Die politischen Möglichkeiten werden solange nicht wirklich ausgenutzt werden können, solange das Ziel, der bewaffnete Kampf, nicht als Ziel der Politik zu erkennen ist” [ 11 ], zu bewahrheiten, das provoziert schon die Frage nach der persönlichen Identität des Kämpfers. Wie kann er seine Entscheidung zur Illegalität als eine rationale noch festhalten, wie die im Konzept Stadtguerilla schon vorausgesetzte “permanente Integration von individuellem Charakter und politischer Motivation, d.h. politische Identität” [ 12 ] fortsetzen, wie den Zusammenhang von freier individueller Entscheidung und politischer Notwendigkeit unter den Horizont der Freiheit überhaupt stellen? Die Antwort der RAF zeigt das Dilemma wie die falsche Lösung zugleich: “Ohne den Rückzug in bürgerliche Berufe offen zu halten, ohne die Revolution nochmals an den Nagel des Reihenhauses hängen zu können, also auch ohne das zu wollen, also mit dem Pathos, das Blanqui ausgedrückt hat: ‚Die Pflicht eines Revolutionärs ist, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen, bis zum Tod zu kämpfen‘”. [ 13 ]

Der freie Wille zur Revolution kann nur als Zwang festgehalten werden, die rationelle Entscheidung nur als die irrationale, zur persönlichen Identität, zur Zwangsmoral, verdichtete existentielle Dezision, die sich vor ihrer eigenen Haltlosigkeit schützen muß. Am eigene n Leibe demonstriert so die RAF das Dilemma der Revolutionstheorie, .zwischen Notwendigkeit und Wirklichkeit vermitteln zu wollen. Da die Vermittlung real, als negative, immer schon besteht, kann sie nur zur Moral verdoppelt werden. Das an Revolution interessierte Individuum, das sein Interesse als vernünftig allgemeines Interesse nicht erweisen kann, ist gezwungen, den fehlenden Zusammenhang gewaltsam herzustellen. Paradox erweist es damit, was gerade bestritten werden sollte: Die Revolution ist zu dem geworden, was sich die bürgerliche Gesellschaft immer schon unter ihr vorstellte – ein Moment sozialer Pathologie, eine Halluzination und ein Hobby, eine Leidenschaft, die für sich die gleiche Notwendigkeit in Anspruch nehmen kann wie irgendeine andere Begierde, wie Surfen oder Kriminalromane lesen. Daß der Sozialismus zur Privatsache wurde in einer Gesellschaft, in der jeder nach seiner Façon selig werden kann, beweisen gerade seine resolutesten Vorkämpfer. Als Gegenstand der Moral rangiert die Revolution unter den Geschmacksfragen, über die sich nicht streiten läßt. Am Ende der Suche nach Vermittlung – das in den Letzten Texten Ulrike Meinhofs meistgebrauchte, stets bittflehend hervorgehobene Wort [ 14 ] – steht die völlige Vermittlungslosigkeit und ihr kategorischer Imperativ: Zwang zur existentiellen Entscheidung. In den Worten von Holger Meins: “Entweder Schwein oder Mensch. Entweder Überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod. Entweder Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts” [ 15 ], reflektiert sich das objektive Dilemma, daß die revolutionäre Notwendigkeit nur in völliger Privatheit noch erkannt werden kann. Die bürgerliche Gesellschaft hat es soweit gebracht, daß vernünftig ihre revolutionäre Wahrheit nicht mehr behauptet werden kann, sondern zum Wahn wird. Das Interesse, sie zu revolutionieren, kann außer des trotzigen “Ich will” keine weiteren Gründe mehr beibringen.

Es liegt in der traurigen Dialektik des bewaffneten Kampfes, daß sein Existentialismus erst unter den Bedingungen der Isolationshaft praktisch wahr wird. Hier, im Gefängnis, holt er sich selber ein, reinigt sich von allen empirischen Resten und wird mit sich selbst identisch – in völliger Leere, als das Nichts, das sich bis zum Ende mit Nichts zu Nichts vermittelt hat und nun als reines Sein, als pures Leben erscheint. “Die absolute Einsamkeit, die gewaltsame Rückverweisung auf das eigene Selbst, dessen ganzes Sein in der Bewältigung von Material besteht, im monotonen Rhythmus der Arbeit, umreißt als Schreckgespenst die Existenz des Menschen in der modernen Welt. Radikale Isolierung und radikale Reduktion auf stets dasselbe hoffnungslose Nichts sind identisch. Der Mensch im Zuchthaus ist das wirkliche Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in der Wirklichkeit erst machen soll”, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. [ 16 ] Anders als im Ergebnis der Anwendung physischen Zwanges jedoch konnten sie sich die Reduktion des Menschen auf nichts als das nackte Leben nicht vorstellen. Die modernen Freunde des bewaffneten Kampfes beweisen das Gegenteil.

Zu Beginn war die Rote Armee Fraktion Terrorismus im eigentlichen Sinne: “Spontane Revolte des Gefühls gegen alle Vernunft – großherzig, aber vergeblich” [ 17 ]; der Versuch, praktisch zu beweisen, daß dem Revolutionär die Zeit der Revolution immer reif ist, daß ihre Notwendigkeit immer schon besteht. Darin war sie Fortsetzung der Revolutionstheorie mit praktischen Mitteln, der Protest gegen die kathedersozialistische Trennung von Notwendigkeit und Möglichkeit, das Wissen, das keine noch so vollendete, keine noch so authentische “Rekonstruktion des Marxismus” ein Beweis gegen die unbestrittene Geltung falscher Verhältnisse ist. Weil die Radikalisierung des Protests zum Widerstand außer dem Willen nichts hinter sich hatte, konnte der Widerstand, um seiner selbst willen fortgesetzt, keine andere Zukunft vor sich haben als die, in absoluter Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft, doch ihr innerstes Gesetz, ihren objektiven Nihilismus, zu reproduzieren. Wie Blanqui der erklärte Ahnherr ihres Aufbruchs war, so ist Netschajev der diskrete Notar ihres Endes: “Der Revolutionär … hat kein Interesse an sich selbst, keine Affairen, keine Gefühle, keinen Besitz, nicht einmal einen Namen. Alles ist in ihm von einem einzigen, alles einnehmenden Interesse … besessen: der Revolution. … Er sollte sie (seine Genossen) als Teil eines allgemeinen Fundus revolutionären Kapitals ansehen, das zu seiner Verfügung steht. Er sollte seinen Anteil an diesem Kapital ökonomisch einsetzen, um den größtmöglichen Profit daraus zu schlagen. Sich selbst soll er als Kapital ansehen…” [ 18 ]. Der existentialistische Protest gegen den Kapitalismus mündet in der konsequenten Selbstverwertung des widerständigen Subjekts; das gerechte Attentat verkommt zur perfekten Liquidation.

Schon in der Frühphase vermochten es die Vertreter des bewaffneten Kampfes kaum, das Rationelle ihrer These in anderer als mystifizierter Form festzuhalten. Wie die legale Linke in Programmparteien einerseits, in Spontis und Stadtindianer andererseits zerfiel, sich in “Aufklärung” oder “Betroffenheit” spaltete, so auch ihr illegaler Schatten. Den Jesuiten des militarisierten Klassenkampfes traten seine Hedonisten zur Seite. Der asketische Jakobinismus der RAF provozierte als seinen Widerpart die lebenslustige proletarische Bohème der Haschrebellen, des “Blues” und der “Bewegung 2. Juni”. Die Pflicht zum Widerstand wurde die Lust dazu entgegengesetzt; der Vorwurf der Spontis an die Marxisten-Leninisten, unfähig zur “Vermittlung” von großer Politik und gelebtem Alltag zu sein, wiederholte sich im Untergrund. “Ein Intellektueller zieht den Moment, wo er Gewalt anwendet, aus einer Abstraktion, weil er sagt, ich mache Revolution wegen des Imperialismus oder aus anderen theoretischen Beweggründen. Daraus leitet er den Anspruch ab, daß er Gewalt einsetzen kann, den anderen gegenüber”, schreibt Bommi Baumann und unterstellt schon, ein Intellektueller könne nicht auch vernünftigere Gründe haben als ausgerechnet theoretische. Aber die “Guerilla diffusa” ist nicht weniger abstrakt als der antiimperialistische Zentralstaatsterror: “Wir haben mit der Gewalt von Kindesbeinen an gelebt, das hat eine materielle Wurzel. Wenn Zahltag ist, der Alte kommt besoffen nach Hause und verprügelt erstmal seine Alte, das sind doch die ganzen Geschichten. … Für dich ist Gewalt eine ganz spontane Sache, die du ganz leicht abwickeln kannst”. [ 19 ] Die proletarischen Bohème verachtet gerade das Rationelle an der RAF, die Gewalt auch als moralisches Problem aufzufassen und daher legitimieren zu müssen; ein Lebensgefühl läßt sich nicht legitimieren, es muß sich ausdrücken. Der Bohème-Terrorist ist immer schon der lammfromme Müslifresser, der Gewalt sagt und Liebe meint: “Daß du dich für den Terrorismus entscheidest, ist schon psychisch vorprogrammiert. Ich kann es heute an mir selber sehen, das ist einfach Furcht vor der Liebe gewesen, … aus der du dich flüchtest in die absolute Gewalt”. [ 20 ]

Der aus dem Umkreis des späteren “2. Juni”, von der Gruppe “Tupamaros Westberlin”, vorbereitete Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin, pünktlich zum 31. Jahrestag der “Reichskristallnacht” 1969 inszeniert, macht deutlich, wohin das “spontane” Gefühl in Deutschland immer noch führt. Der frustrierte Wunsch, von allen gehätschelt und geliebt zu werden, schlägt abrupt und gnadenlos in die Lust am allgemeinen Massaker um, dessen erstes Opfer in Deutschland natürlich die Juden sein müssen. Bommi Baumann dokumentiert, Jahre später, aber i mmer noch stolz, ein Flugblatt zu dieser Aktion. Darin heißt es: “Am 31. Jahrestag der faschistischen Kristallnacht wurden in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit ‚Schalom Napalm‘ und ‚El Fatah‘ beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert. Beide Aktionen sind nicht mehr (!) als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren, sondern sie sind ein entscheidendes Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität. … Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden”. [ 21 ] Der Judenhaß, unter linken Deutschen zum “Antizionismus” veredelt, erscheint, durch keine Reflexion gebrochen, als “eine ganz spontane Sache”. Das einzige, was Baumann daran noch zu bemängeln weiß, fällt in die Sparte Kameraderie und Manöverkritik, “denn daß wieder Deutsche in der jüdischen Synagoge eine Bombe deponieren, das war nicht mehr zu vermitteln” [ 22 ]. Dem Lebensgefühl existiert keine Intention, die durchs Resultat zu blamieren wäre; es ist immer schon über jedes Resultat hinaus und feiert gedächtnislos die Vermittlung mit sich selber.

Gewalt, rationelles Mittel revolutionärer Politik, die es ernst meint und nicht zum kritischen Dialog mit Herrschaft sich verflüchtigen will, verkommt zum Dogma im Zustand der Unmöglichkeit dieser Politik. Ohne politische Strategie ist Gewalt noch nicht einmal Taktik – der Stadtguerillero wird vom Amokläufer ununterscheidbar. Wie dessen blinde Wut erst im unterschiedslosen Massaker ganz mit sich identisch wird und sich der Person restlos, noch ohne die Kontrolle der Selbsterhaltung, bemächtigt, so “materialisiert sich die Guerilla” für Holger Meins “im Kampf, in der revolutionären Aktion und zwar: ohne Ende – eben: Kampf bis zum Tod und natürlich kollektiv” [ 23 ], so ist die Guerilla nichts als praktizierter Existentialismus und “Sein zum Tode”. Wenn es stimmt, “daß Leben und Subjektivität nur im bewaffneten antiimperialistischen Kampf möglich sind” [ 24 ], dann sind Kampf und Leben ununterscheidbar. Diesem Existentialismus sind “Gewalt und Leben beinahe Synonyme. Die keimende Ähre, die den hartgefrorenen Boden sprengt, der Schnabel des Kükens, der die Eischale zerschlägt, die Befruchtung der Frau, die Geburt eines Kindes, sind nicht mit der Schuld der Gewalt beladen. Niemand klagt ein Kind, eine Frau, ein Küken, eine Knospe, ein Getreidekorn an”. [ 25 ] Wo es außer Fressen und Gefressenwerden nichts mehr gibt, ist jede Justiz nur die angemaßte Gewalt des zufällig Stärkeren. Die bürgerliche Gesellschaft, deren innerste Tendenz es ist, in ein naturwüchsiges Gehäuse der Hörigkeit sich zu verwandeln und deren praktische Fortschritte in der Mutation zum Ameisenstaat unübersehbar sind, hat kein Recht, die Gewalt des Guerillero als “unnatürlich”, als “unmenschlich” oder gar als “illegal” abzuurteilen.

In diesem Verhältnis sehen die modernen Freunde des bewaffneten Kampfes, die Antiimperialisten und große Teile der Autonomen, natürlich keinen Grund, sich für die Amnestie stark zu machen, sondern nur eine Ermächtigung mehr, den Heroismus des Opfers zu feiern. Ohne die Genossen im Gefängnis kein Genuß im Kampf. Als militarisierten Spontis gilt ihnen Revolution als die bloße Steigerungsform von Militanz. Daß sie die “Gewaltfrage” ebenso lustvoll, d.h. inquisitorisch, stellen wie ihre feindlichen pazifistischen Brüder, deutet schon an, daß der einstige Gegensatz der legalen zur illegalen Linken zum Schaukampf feindlicher Temperamente geworden ist. Zwischen der pazifistischen Vorstellung, die Gesellschaft sei letztlich ein menschliches Netzwerk und staatliche Gewalt daher auf Mißverständnisse der Kommunikation zurückzuführen, und der antiimperialistischen Vorstellung, die Staatsmacht “ist die Militärstrategie, Aufstandsbekämpfung, Maschine – aber hohl, nur Gewalt, sonst nichts” [ 26 ], ist der Unterschied nur der, daß die unentscheidbare Frage, ob die BRD eher einem Freizeitpark oder einem Knast gleicht, je nach Gusto doch entschieden werden muß. Zwischen den Satyagraha-Normen Mahatma Gandhis und den Hymnen auf den bewaffneten Kampf können nur noch Zufall des Charakters und Willkür der Wahl entscheiden. Horst-Eberhard Richter, der die latente Gewaltbereitschaft therapeutisch bis ins letzte Glied ausrotten möchte und dafür in der Friedensbewegung ein dankbares Publikum fand, und Petra Kelly, der, ganz in der Tradition des politisierenden Protestantismus, das Werk nichts gilt, wenn die Absicht nicht rein war, stellen nur die domestizierte Variante der anonymen Autoren dar, die im Januar 1986 nach Frankfurt zum “Kongreß antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa” einluden. “Der Staat, der sich in seinem totalen Machtanspruch über alles, was sich selbstbestimmt organisieren will, drüber stülpt, die Destruktivität, die alle Lebensäußerungen besetzt: Hier ist die Wurzel der Kämpfe nicht die materielle Bedürfnissicherung, sondern das Bedürfnis zu leben – die subjektiven Ziele nach selbstbestimmter Kollektivität. Das ist hier die Triebfeder zu kämpfen, und wo ‚Leben‘ erst da wieder anfängt, wo mans selber zum Bruch bringt mit der ganzen ‚Normalität‘ der Metropolenwirklichkeit – antagonistisch dazu ist, weil man kämpft, und von da aus die Rückeroberung von Identität und Klassenbewußtsein läuft”. [ 27 ]

Die Entscheidung für oder gegen die Gewalt ist, ebenso wie die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen oppositioneller Gewalt, Ausdruck einer existentiellen Dimension, an sich unbegründbar und ganz von den Ansprüchen abhängig, die einer an seine psychische Innenausstattung, seine Identität, stellt. Die Zeitschrift Radikal meint: “Es gibt keine Argumente für oder gegen den totalen Angriff auf den Imperialismus mit allen Mitteln, das ist eine persönliche Willensentscheidung und weniger ein Ergebnis theoretischer Diskussionen… Deine Motivation für den Kampf kannst nur Du selber sein”. [ 28 ] Während die antiimperialistische Fraktion ihre Identität vorzugsweise mit den reinen Negationen der bürgerlichen möbliert, d.h. mit nichts, und dafür auch die angemessene sprachliche Form, das seiner selbst kaum noch mächtige Gestammel, findet, da richten sich die Autonomen mit den Überbleibseln der früher unter Spontis und Stadtindianern beliebten “Politik in erster Person” ein. Die Lektüre der Radikal erhärtet den Verdacht, bei den Autonomen handle es sich um die nun schwarzledern drapierten lila Latzhosen von Vorgestern. Konsequent meint ihre Kritik am bewaffneten Kampf der RAF und den Antiimperialisten nur das eine: Wir sind eben anders! Alles weitere ist eine Frage der Vermittlung: “Kommunikation und Guerilla sind zwei Dinge, die sich nicht voneinander trennen lassen. Die Guerilla muß sich vermitteln können… (Guerilla) ist eine Perspektive, die für uns, die wir uns hier draußen mit dem Alltag auseinandersetzen, völlig fremd ist. Weil wir in erster Linie das Leben wollen, damit wir es in Kampf umwandeln, nicht den Kampf als unser Leben begreifen.” [ 29 ] Wo der Antiimperialismus eingesteht, daß es zwischen der revolutionären Notwendigkeit und den gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht die geringste Vermittlung gibt, da erblickt die Lebensfreude der Autonomen ein bruchloses Kontinuum zwischen Bedürfnis und Kommunismus. “Käseklau und Bombenbau” [ 30 ] sind nur verschiedene Formen ein und desselben Bruchs mit der Legalität. Die allgemein geübten Praktiken der Steuerhinterziehung oder die massenhafte Übung, bei Rot über die Straße zu gehen, beherrscht längst der Traum von der kommunistischen Sache, der nur das Bewußtsein dies er Sache fehlt, um sie wirklich zu haben. “Der Antiimperialismus”, wie die Radikal gegen den Antiimperialismus einzuwenden weiß, “beginnt im Klassenzimmer: Wenn Schüler lernen, auf Noten zu scheißen, wenn sie Klassenarbeiten verweigern, sich der Schulpflicht entziehen; im Elternhaus, wenn sich die Leute der elterlichen Autorität widersetzen, die erdrückende Sexualmoral durchbrechen; in der Fabrik: Absentismus und Sabotage; in jedem von der Tauschwertlogik befreiten Akt: Kaufhausdiebstahl ist Antiimperialismus!” [ 31 ] Der autonome Blick durchschaut den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang mühelos auf einen Kosmos widerständigen Lebens. Im feierabendlichen Gemecker über die Marotten und Schikanen der Vorgesetzten erblickt er die zarten Keime prinzipieller Autoritätsverachtung, an denen “anzuknüpfen” wäre – nicht, was doch näher läge, den Heinz-Rühmann-Charakter deutscher Kritik: Kritisieren um zu beweisen, daß man die Geschäfte der Obrigkeit besser besorgen kann. Die Unmöglichkeit, den vernünftigen Zusammenhang von Interesse und Revolution aus dem blanken Willen herzuleiten und so die autonome Selbstwertsetzung dauerhaft auf das “orgiastische Lebensgefühl” [ 32 ] der Straßenkämpfe zu stellen, bekennt sich im Rückgriff auf Althergebrachtes: “Für uns negative Bedeutung haben, weil wir nur ihren reaktionären Inhalt kennengelernt haben, Wörter wie: Geschichte, Moral, Volk, Leid, Hunger, Vorfahren, Eltern.” Ihr selbst seien, gesteht die Radikal-Autorin, “diese Begriffe auch ziemlich neu; ich habe in der letzten Zeit gemerkt, wie viel fortschrittliche Kraft in ihnen stecken kann.” Es scheint, als seien die Autonomen dabei, der Friedensbewegung mit einiger Zeitverzögerung in den inneren Kampf gegen die “Schmarotzerbedürfnisse” [ 33 ] zu folgen. Autonomie mündet in neue Volkstümelei – ein Ergebnis, das die achtbare Linke, bevor sie sich in grünes Wohlgefallen auflöste, mit einer veritablen Bloch-Debatte erst noch rechtfertigen mußte.

Hatte das Konzept Stadtguerilla noch versucht, den bewaffneten Kampf traditionalistisch, im Rahmen der klassisch marxistischen Identität von Kapital- und Revolutionstheorie, zu begründen, so gelangte die RAF im Resultat doch nur dazu, wie jede andere therapeutische Richtung auch, Beweggrund und Ziel ihres Handelns in der “Wiederherstellung der vollen Dimension des Menschen” [ 34 ] zu erblicken. Die Fahndung nach einem revolutionären Subjekt, das der theoretischen Forderung genügen konnte, völlige Immanenz wie revolutionäre Transzendenz des Kapitalverhältnisses zugleich zu sein, verendete im Existentialismus, der, als die Kapitalform des Subjekts, in der unendlichen Fülle seiner vollendeten Leere schwelgt. Waren die Theoretiker der Autonomie bemüht, ebenfalls auf dem Boden des klassischen Marxismus, das militante Subjekt ausfindig zu machen, das den bewaffneten Kampf, im Gegensatz zur RAF, vom Kopf auf die Beine stellen könnte, so genügte zwar das Produkt ihrer Subjekterschleichung, der “Massenarbeiter”, ebenfalls der theoretischen Prämisse und konnte sogar, mit Blick auf die französische “Gauche prolétarienne” und die italienischen “Brigate rosse”, gesellschaftliche Evidenz beanspruchen – so gelangten sie im Ergebnis doch nur zu der Forderung, das revolutionäre Subjekt existentiell zu erfühlen und moralisch aus eigener Machtvollkommenheit vorwegzunehmen. Die Hoffnung etwa Karl-Heinz Roths, “der Ausnahmezustand des Arbeiteralltags (werde) zur antagonistischen und nicht weniger alltäglichen Arbeiter-Guerilla führen”, einfach deshalb, weil die Negation der Arbeit durch das Kapital nur der anschließenden Negation des Kapitals durch die Arbeit wegen geschehe, führte nur dazu, noch jede Randale als revolutionär zu rechtfertigen und jeden Rocker zum Revoluzzer zu stilisieren. Nach wenigen Jahren schon hatte sich die These, “daß der barbarisierte und entzivilisierte Massenarbeiter, die bislang brutalste Negation der befreiten kommunistischen Gesellschaft durch das Kapital, in seinem Widerstand notwendig am konsequentesten zur Negation der Negation übergehen muß” [ 35 ], blamiert. Die Negation der Arbeit wollte und konnte nicht neue Position werden, zumindest nicht aus sich selbst heraus. Es lag in der Konsequenz der Subjektfahndung, die Weigerung des Massenarbeiters, die konkrete Utopie wie gefordert aus seiner völligen Leere zu gebären, dahingehend zu interpretieren, er mache sich in seiner Verachtung der Arbeit diese Mühe nur deshalb nicht, weil er seinen Inhalt in Gestalt der Alternativbewegung schon fertig vorfände: “Der Kampf gegen die Arbeit ist nichts anderes als der Kampf für die soziale, selbstbestimmte Tätigkeit der Massen in der Gemeinde. Indem das Subjekt sich der verkehrten Pseudo-Objektivität der zweiten Natur in Gestalt der kapitalistischen Fabrik entzieht, kehrt es umso entschlossener … zu seinem Alltagsleben zurück, und beginnt, indem es sich alternativ zum ‚wir‘ befreit, die zerstückelten sozialen Sphären … zugunsten der Kommune neu zusammenzusetzen”. [ 36 ] Kaum hatte der radikale Linkskommunismus begriffen, daß sein Inhalt aus “nichts anderem als” dem neuesten deutschen Mief der Wohngemeinschaften bestehen sollte, da brachen die Theoretiker der Autonomie bereits nicht nur mit der Einheit von Kapital- und Revolutionstheorie, sondern, um zumindest an der Revolutionstheorie festzuhalten, mit dem Marxismus überhaupt und erklärten sich zu Erben der Narodniki der Zarenzeit. Die Narodniki, die zu ihrer Zeit tatsächlich davon ausgehen konnten, was die RAF allein zu halluzinieren vermag, daß der “Riß zwischen Gesellschaft und Staat in den Metropolen” [ 37 ], wenn auch noch nicht vollzogen, so doch offenkundig sei, sollten zum .Vorbild der “existentiellen Entscheidung” herhalten, die “eigenen Erfahrungen und Lernprozesse so weiterzuentwickeln, daß analytische Einsicht und praktisches Handeln wieder miteinander übereinstimmen” [ 38 ]. Die Praxis, von der Theorie einstweilen getrennt, mußte weitergehen; auf ihre intellektuellen Unkosten wurde ein spekulativer Kredit aufs Existentielle aufgenommen. Auch dieser Versuch ist mittlerweile bankrott, und es macht die Ehrlichkeit der Zeitschrift Autonomie aus, die Pleite auch zuzugeben und sich, auf der Suche nach dem Subjekt, nicht mehr der Politik, sondern der Geschichtswissenschaft zu widmen. Die Autonomie hat erkannt, daß die revolutionäre Linke in Deutschland nur die traurige Wahl hat, zwischen “terroristischem Nihilismus” einerseits, “sozialarbeiterischer Befriedigung” [ 39 ] andererseits sich zu entscheiden. Und daß die autonome Theorie nicht die Argumente besitzt, die Prämissen dieser falschen Konsequenz zu bestreiten. Gegen die enervierende Kälte der Feststellung, “daß nach Auschwitz das Leben als ethischer Komplex zerfällt”, vermögen die schüchterne Hoffnung und die “ferne Ahnung” dessen, daß das “Leben etwas anderes ist als Arbeit und Konsum” [ 40 ], nur das Gegenteil von Politik zu begründen: Eingedenken als die Chance, den Wiederholungszwang zu brechen.

Der erklärte Bankrott ihrer Theorie wird die Autonomen nicht daran hindern, ihrem überwertigen Bedürfnis, Praxis um jeden Preis zu treiben, weiter zu frönen. Hauptsache, es geht voran. “Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Charakter der Bohème”, bemerkte Marx über die Pariser Geheimgesellschaften von 1850: “Sie sind die Alchimisten der Revolution und teilen ganz die Ideenzerrüttung und die Borniertheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchimisten”. [ 41 ] Die Autonomen werden noch eher die Alchimie der zur Revolution destillierten Randale beherrschen, als auf den psychischen Mehrwert und das Flair der Konspiration zu verzichten.

Aus: Wolfgang Pohrt u.a., Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der RAF, Berlin: edition tiamat 1986, S. 157 – 174

Anmerkungen

[ 1 ] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt 1971.

[ 2 ] Peter Brückner, Ulrike-Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin 1976, S. 86.

[ 3 ] Götz Eisenberg/Wolfgang Thiel, Fluchtversuche, Gießen 1975, S. 138 ff., Jürgen Jacobi, Der Marxismus-Leninismus als Ideologie des Zerfalls der Studentenbewegung, in: “Politikon”, Nr. 35, 1972; Wolfgang Zimmermann, Die proletarische Theorie der bürgerlichen Revolutionäre als revolutionär bürgerliche Theorie des Proletariats oder: Die neuen Ritter von der traurigen Gestalt, in: “Politikon”, Nr. 43, 1974.

[ 4 ] Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW Bd. 7, S. 355

[ 5 ] Siehe die exemplarische Autobiographie Jochen Schimmangs, Der schöne Vogel Phönix, Memoiren eines Dreißigjährigen, Frankfurt 1978.

[ 6 ] Rote Armee Fraktion, Das Konzept Stadtguerilla, in: Wolfgang Pohrt u.a., Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der RAF, Berlin: edition tiamat 1986, S. 33.

[ 7 ] Ebd., S. 35.

[ 8 ] Ebd., S. 43.

[ 9 ] Elmar Altvater, “Rede auf der Veranstaltung des Komitees zur Verteidigung der Grundrechte anläßlich des Todes von Ulrike Meinhof am 20.5.1976 im Audimax der FU Berlin”, in: “Radikal – Sozialistische Zeitschrift für Westberlin” Nr. 2 vom 1.7.1976, S. 10.

[ 10 ] Emilio Lussu, Theorie des Aufstands, S. 32.

[ 11 ] Das Konzept Stadtguerilla, S. 39.

[ 12 ] Ebd., S. 22.

[ 13 ] Ebd., S. 39 (meine Hervorhebung).

[ 14 ] Letzte Texte von Ulrike, herausgeben vom Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa, o. O. 1976, z.B. S. 27 – vgl. Christoph Türcke, Vermittlung als Gott, Lüneburg 1986.

[ 15 ] zitiert nach Brückner, S. 180.

[ 16 ] Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 202.

[ 17 ] Lussu, S. 103.

[ 18 ] Netchajev, Katechismus eines Revolutionärs (1869) in: Walter Laqueur (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 56 f.

[ 19 ] Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1986, S. 108

[ 20 ] Ebenda, S. 150

[ 21 ] Ebenda, S. 81

[ 22 ] Ebenda, S. 82

[ 23 ] Zitiert nach Brückner, S. 180.

[ 24 ] Letzte Texte von Ulrike, S. 24.

[ 25 ] Jean Genet, Staatsschuld. Die RAF hat recht, in: “Neues Forum”, (Wien), 24. Jg. 1977, Heft 286, Oktober, S. 45 f.

[ 26 ] Erklärungen der Gefangenen zum Hungerstreik, in: “Radikal”, Nr. 129, S. 4 f.

[ 27 ] Dokumentation zum Kongreß antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa, 1986, S. 163.

[ 28 ] “Radikal” Nr. 131, S. 11 und S. 16.

[ 29 ] Ebenda S. 13 und S. 16

[ 30 ] “Radikal” Nr. 104, Mai 1982, S. 11

[ 31 ] “Radikal” Nr. 106, Juli 1982, S. 9

[ 32 ] “Radikal” Nr. 104, S. 10

[ 33 ] “Radikal” Nr. 131, S. 22

[ 34 ] Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front (Mai 1982), in: Texte der RAF. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe, 1983, S. 599 ff.

[ 35 ] Karl Heinz Roth, Die andere Arbeiterbewegung, München 4. Auflage 1977, S. 267.

[ 36 ] Detlev Hartmann/Karl Heinz Roth, Dialektik der Arbeit. Zur Kritik der politischen Ökonomie der Arbeitskraft als Klasse, in: “Autonomie” Nr. 5, 1977 S. 38.

[ 37 ] Kommunique des Kommandos Mara Kagol zum Attentat auf Karl-Heinz Beckurts

[ 38 ] Redaktion Autonomie, Die neuen Sozialrevolutionären Inhalte und das Recht zum sozialrevolutionärem Handeln, in: “Radikal” Nr. 108, September 1982 S. 12.

[ 39 ] “Autonomie” – Neue Folge, Nr. 14, 1985, S. 11.

[ 40 ] ebenda, S. 212 und S. 209

[ 41 ] Karl Marx/Friedrich Engels, Rezensionen aus der Neuen Rheinischen Zeitung, April 1850, in: MEW Bd. 7, S. 272 ff.

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