Die Gemeinschaft der Nichtssager
Die Gemeinschaft der Nichtssager
Manfred Dahlmann
Bis vor nicht allzu langer Zeit lebte medienwirksame Kritik davon, den Politikern, die man zuvor gewählt hatte, vorzuwerfen, sie würden unendlich viel reden, aber nichts sagen. Diese Politiker sind nun überrascht: Die Protestbewegungen der vergangenen Jahre einigen sich immer öfter darauf, auf derartige Vorhaltungen zu verzichten und, im Gegenteil, es selbst in den Rang der höchsten Tugend zu erheben, sich nicht darauf festlegen zu lassen, mit welchen Mitteln und Verfahren ein allgemeines Ziel konkret erreicht werden soll. Keiner kann somit sagen, die gegen das global agierende Kapital Protestierenden, die Multitude, wie man sie vor einigen Jahren auch zu nennen beliebte, seien nicht lernfähig.
Denn eines haben sie ganz und gar durchschaut: Bei allen Debatten, ob im Parlament oder auf der Straße, ob in Parteien oder in Streikkomitees, ob in den Medien oder an Universitäten, kann es nie um etwas anderes gehen als darum, zu einem Ergebnis zu kommen, das von vornherein von den Organisatoren dieser Veranstaltungen festgelegt worden ist. Diskutiert werden kann nur über die Mittel, gegebene Ziele zu erreichen, nicht über das Ziel selbst – denn ohne dieses gemeinsame Ziel wäre man ja gar nicht erst in diese Partei eingetreten, hätte man den Streik nicht begonnen, wäre nicht auf die Straße gegangen.
Hat es das Internet ermöglicht, daß nun ein bestimmtes Ziel von allen Einzelnen unmittelbar angestrebt werden kann, ohne den Umweg über lästige und fruchtlose Vereinheitlichungsdebatten zu nehmen? Der Blogger jedenfalls, der einfach in die Tasten tippt, was ihm in den Sinn kommt – Hauptsache der Satzbau ist schief, die Orthographie eine ganz eigene und die Empörung groß – ist der Prototyp der Leute, die im Frankfurter Bankenviertel campieren, die die Stuttgarter Bahnhofsumgebung mit Schmierzetteln jeder Größe verschönern und die jeden einigermaßen nachvollziehbaren politischen Satz der Sprecher der Piratenpartei als Verstoß gegen das Parteiprogramm ahnden. Aber warum bleiben die dann nicht im Internet, sondern gehen »auf die Straße«, starten »symbolische Aktionen«, gründen Parteien, halten sich für eine militante Fraktion (den »kommenden Aufstand«), machen also das, was jede Protestbewegung, die etwas werden wollte und sich dazu auf Protestformen verständigte, schon immer tat?
Wenn man nicht mehr weiter weiß, fragt man am besten den Slavoj Žižek, der erklärt einem das, denn er ist in allem mittendrin. In der Süddeutschen Zeitung charakterisiert er diese »neue« Bewegung als »bedeutungsschwangeres Vakuum« und schließt mit dem flammenden Appell: »Alles, was wir jetzt sagen, kann uns weggenommen werden – alles, nur nicht unser Schweigen.« Was bleibt einem da noch übrig, als festzustellen: Recht hat der Mann. Auf diese so einfache wie geniale Idee muß man erst einmal kommen: Wer nichts sagt, der kann auch in nichts integriert werden und mehr noch, er kann für nichts verantwortlich gemacht werden und kritisiert werden erst recht nicht. Dabei, und das ist der Clou der Sache, ist das allgemeine Ziel dieser »Bewegung« eindeutig, für jeden unmittelbar ersichtlich und verständlich: Es geht darum, die Macht des weltweiten Finanzkapitals zu brechen, um ein Ziel also, von dem getrost angenommen werden kann, daß 99 Prozent der Bevölkerung es teilen.
Die Frage, womit das Vakuum schwanger geht, beantwortet sich somit schweigend selbst. Halten wir uns nicht kleinkariert bei solch logischem Schnickschnack auf, wie ein mit Inhalt gefülltes Vakuum denkbar sein soll; derartige Kritteleien bringen nur die Schönheit der Metapher in Misskredit. Es geht schließlich um so Weltbewegendes wie die Geburt einer Gesellschaft, die ohne von Spekulanten geschmierte Politiker auskommt und ohne von Bankern ausgehaltene politische Institutionen. Doch nun droht das Bild von der Schwangerschaft sozusagen immanent schief zu werden: Die Geburt eines Kindes findet, denkt man intuitiv, immer in einem vorhandenen System – etwa der Familie – statt, soll dieses stärken und vor allem reproduzieren. Drückt die Metapher also genau das Gegenteil des in ihr Gemeinten aus? Ermöglicht ihr gemäß die »Occupy«-Bewegung somit die Rettung des Systems? Aber die Metaphorik ist zu schön, um sie einfach nörgelnd beiseite zu schieben. Schließen wir uns Žižek an, der ja auch den Mund nicht wirklich hält, und verlieren wir, wie er ja auch, doch ein paar Worte über das Ziel, um das es geht.
Eines ist ja in diesem vom Finanzkapital durchherrschten Weltwirtschaftssystem mit Sicherheit der Fall: Politiker, Banker und Spekulanten haben den ganzen Tag nichts anderes im Sinn, als dem rechtschaffenen Bürger (ob Eigenheimbesitzer, Rentenanwärter, Hartz-IV-Empfänger, Arbeitnehmer oder Millionär) sein Geld mit dem Versprechen aus der Tasche zu ziehen, ohne Risiko eine phantastische Rendite zu erhalten. Doch was machen jene Betrüger mit dem ihnen vertrauensvoll zur bloßen Verwaltung überlassenen Geld? Sie verzocken es in irgendwelchen Börsen-Casinos, streichen die dort gemachten Gewinne ein und speisen die wahren Eigentümer mit lächerlichen Zinsen nur knapp über der Inflationsrate ab. Wäre man nur richtig »aufgeklärt« worden, dann hätte man sein Geld nicht diesen geldgierigen Zockern anvertraut, sondern in seinem Sparstrumpf unter der Bettdecke gelassen.
Natürlich weiß ich tief in meinem Inneren, daß die Billionen Euro, die da unter irgendwelchen Großkopfeten die Runde machen, nicht wirklich mein Geld sind, selbstverständlich habe ich als Erbe der 10.000 Euro von meiner Oma, und als Millionär erst recht, schon einmal etwas von der Regel gehört, daß, je höher die Rendite, das Risiko, mein Geld zu verlieren, umso größer wird, aber das ist ja das Schlimme an diesem System: daß mich dessen »Verwalter«, egal was sie sagen und tun, immer aufs Kreuz legen.
Klar, die Politiker, die Banker und vor allem die »Währungshüter« verstehen die Welt nicht mehr. Da haben sie es mit vereinten Kräften in den vergangenen drei Jahrzehnten geschafft, die Inflationsrate und jede andere Form der Geldentwertung auf einem so niedrigen Niveau zu halten, wie es geschichtlich ohne Beispiel ist, und alle damit verbundenen Widrigkeiten (Arbeitslosigkeit, Lohndumping) ausgestanden, aber was veranstalten die »Eigentümer« dieses Geldes, also die Profiteure dieser Mühen, jetzt auf einmal? Zugegeben, da wird irgendwo ganz viel Geld verbrannt, aber: Das ist doch nichts als Buchgeld, mit ihm lassen sich keinerlei Waren, weder Lebensmittel noch Maschinen noch sonst etwas (außer wiederum nur Buchgeld) kaufen. Alle Welt behauptet dennoch steif und fest, es handele sich um reales, um ihr Geld, das dort in Buchungslöchern verschwindet, gerät in Panik, kündigt jedes Vertrauen – und nun bekommt diese Gesellschaft als Ganze ein tatsächliches Problem.
Ahnen die wütenden Protestler – und nicht nur die, vor allem die wirklichen 99 Prozent –, was es für sie bedeutet, was sie also anrichten, sollten sie Erfolg haben? Kinder mögen auch dann noch geboren werden, aber sie zu ernä hren, wird wohl sehr viel schwieriger werden als heute schon. Selbstverständlich wollen sie nur ihr »gutes Geld« zurückbekommen, das sie mühsam »erwirtschaftet« haben. Und die meisten sehen ja auch ein, daß man es ihnen nicht direkt auf ihr Konto rücküberweisen kann, aber zumindest eines wollen sie unbedingt, und was das ist, das weiß die Piratenpartei ganz genau – aber mittlerweile nicht nur die, sondern fast alle anderen wissen es auch: Sie wollen zumindest »Transparenz«. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß jeder mit seinem Geld so umgehen können soll wie der Blogger mit den Eingaben an seinem PC. Jeder soll mit seinem Geld machen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Jede Agglomeration des individuell sich zugeschriebenen Geldvermögens zu größeren, unüberschaubaren, vom Einzelnen nicht mehr zu kontrollierende Einheiten ist zu vermeiden, ist ebenso von Übel wie in der Politik die Festlegung auf bestimmte Verfahren, vermittels welcher das allgemeine Ziel – die möglichst krisenlose Vermehrung des eigenen Einkommens – überhaupt verwirklicht werden kann.
Wenn aber nun der Erfolg zu keinem anderen Resultat führt, als daß man das Geld nicht mehr hat, um sich die Pizza an den PC kommen zu lassen, wenn also, politökonomisch gesprochen, die Verwandlung von Geld in Kapital nicht mehr gelingt – und eine »Alternative« dazu wird selbst in Ansätzen nirgendwo auch nur erwogen –, dann wird man sich selbst dafür ebenso wenig verantwortlich fühlen wie vordem dafür, das ganze Finanz- und Kapitalsystem erst auf die Beine gestellt, erst zum Funktionieren gebracht zu haben. Das Schweigen erweist sich spätestens dann als das, was es heute im Grunde schon ist: Man sagt nichts, aus Angst davor, dann nachgewiesen zu bekommen, zwischen raffenden Geldvermittlern und »wahres« Volksvermögen schaffenden Geldverwaltern zu unterscheiden. Man wartet im Schweigen somit nur auf die Gelegenheit, seinen Hass auf die – selbst jederzeit so gewollte – abstrakte Vermittlung seiner Beziehungen durch das Kapital hindurch, seinen Antisemitismus, praktisch werden lassen zu dürfen.
Jungle World Nr. 45 vom 10. November 2011