Abstraktion und Gewalt
Einige Thesen über die Realität von Kapital und Staat [ 1 ]
Gerhard Scheit
“Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, (...) auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs.” [ 2 ] Mit diesem paradoxen Bild führt Marx den Begriff der realen Abstraktion ein, wie er der Wertformanalyse ebenso entspringt als beständig – durch den ganzen Prozeß des Kapitals hindurch – in Bestimmungen wie der “abstrakten Arbeit” und der “reellen Subsumtion unter das Kapital” wiederzukehren scheint. [ 3 ] Was aber kann real sein an einer Abstraktion, also am Absehen von etwas?
Es ist eine Irritation, die von der Sache herrührt, daß Marx daneben weiterhin den konventionell kritischen Begriff des nominal Abstrakten verwendet – das Abstrakte als Ergebnis einer Operation, die nur im Kopf des schlechten Ökonomen stattfindet und den wirklichen Vorgang verfehlt, soweit sie etwas isoliert und in der Reduktion darauf vom Gesamtprozeß bzw. dessen Mannigfaltigkeit der Bestimmungen absieht. Und im nächsten Moment erscheint die Wirklichkeit selbst als jener schlechte Ökonom, insofern in ihr eben das realiter stattfindet, was Marx eben noch methodisch den Wissenschaftlern vorgeworfen hat. So beschimpft er – man kann es ihm wirklich nicht recht machen – die geplagten realen Ökonomen plötzlich umgekehrt dafür, daß sie die Abstraktion als etwas Immaterielles hinstellen: “Soweit die bloß allgemeine Form des Kapitals als sich erhaltender und verwertender Wert betrachtet wird, wird das Kapital für etwas Immaterielles erklärt und daher vom Standpunkt des Ökonomen, der nur handgreifliche Dinge kennt oder Ideen – Verhältnisse existieren nicht für ihn –, für bloße Idee. Als Wert ist das Kapital gleichgültig gegen die bestimmten stofflichen Daseinsweise, Gebrauchswerte, worin es besteht. Diese stofflichen Elemente machen nicht das Kapital zu Kapital.” [ 4 ] Von Verhältnissen und Formen wäre demnach auszugehen und nicht von einer vorausgesetzten Trennung zwischen real und nominal, Materie und Geist – darin nun sah sich Marx ganz auf Hegel zurückverwiesen.
Nach Hegel ist das Geistige das vernünftige Allgemeine. Dessen Begriffe sind nicht nominal geschieden von einer ihrerseits isolierbaren Realität, quasi als ein nur gedachtes, abstrakt Allgemeines vom wirklich existierenden Einzelnen oder Mannigfaltigen, sondern “der Begriff als solcher” ist “selbst schon die Identität seiner und der Realität” – so ist etwa der Begriff des Staats “ein so mächtiger Trieb” in den Individuen, “daß sie ihn (...) in Realität zu versetzen oder ihn so sich gefallen zu lassen gedrungen sind, oder sie müßten zugrunde gehen.” [ 5 ] Die Formulierung aus der Wissenschaft der Logik läßt die Gewalt deutlich hervortreten, die jenem vernünftig Allgemeinen innewohnt und darin das Einzelne ans Abstrakte ausliefert.
Der Geist beruht auf Zwang, die Versöhnung ist erpreßt, die Vernunft dementiert sich selbst. Das ist die immanente Hegel-Kritik, die Marx formuliert, wenn er davon spricht, daß durch die Form der Ware und den Prozeß des Kapitals real abstrahiert werde – im Wert vom Gebrauchswert, in der abstrakten Arbeit von der konkreten. An der Hegelschen Einheit von Begriff und Realität wird also festgehalten, gerade darin aber das Unvernünftige, der “stumme Zwang” der Verhältnisse kenntlich gemacht: die Abstraktion, die sich verselbständigt hat und der das einzelne, aus dem sie doch hervorgeht, unterworfen ist. Den Begriff, der bei Hegel als “ein so mächtiger Trieb” in den Individuen erscheint, “daß sie ihn (...) in Realität zu versetzen oder ihn so sich gefallen zu lassen gedrungen sind, oder sie müßten zugrunde gehen”, diesen Begriff findet Marx in der Hosentasche wieder – soweit das Individuum darin seinen gesellschaftlichen Zusammenhang mit sich herumträgt: das Geld ist das “reale Gemeinwesen” – wobei das Gemeinwesen “bloße Abstraktion” ist. [ 6 ] (Und so etwas findet sich natürlich in keinem Känguruh-Beutel: das Allgemeine einer Tiergattung erscheint in jedem einzelnen Tier und sonst nirgends. Jenes von Marx gewählte, paradoxe Bild, das neben und außer Löwen, Tigern und Hasen auch noch das Tier auftreten läßt, ist ja gerade darum so frappant.)
Das Abstrakte selbst, z.B. die abstrakte Arbeit, die abstrakte Zeit ... wäre für sich betrachtet, gewissermaßen endgültig abstrahiert von allem Konkreten, das Nichts. Und wie ein Vakuum des Bewußtseins saugt es jede Ideologie an, verlangt förmlich danach, daß ihm jenseits des Abstraktionsvorgangs Substanz zugesprochen werde: Marx gab dem Verlangen nach, soweit er die Arbeit als das eigentlich vernünftige Allgemeine dem Wert gleichsam unterzog. In dieser Substantialisierung, die dem Begriff der Abstraktion die Spitze abgebrochen und den Hegelschen Weltgeist zum materialistischen Fortschrittsbegriff gewendet hat, ist schon die Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert vorgezeichnet.
Allen solchen, den Marxismus prägenden Versuchen der Rationalisierung zuwider: Das Abstrakte als bloßes Resultat betrachtet, ist nichts – auch wenn dieses Nichts in die Hand genommen werden kann. Als Resultat aber mit seinem Werden betrachtet, ist die Abstraktion immer nur in der Einheit mit dem, wovon abstrahiert wird – konkreter Arbeit, einzelner Gebrauchswert – zu begreifen. Nur so kann ein Zusammenhang zwischen Arbeit und Wert hergestellt werden, den der Wert selbst allerdings vernichtet und dem darüber hinaus also keinerlei Substanz zukommt.
Erst in dieser dialektischen Einheit, die Hegel hergestellt hat, läßt sich die Repression erkennen, die von ihm verherrlicht wurde: Real ist das Abstrakte darin, daß es den Menschen – obwohl es doch nichts ist – aufgezwungen wird: als die Form ihres Zusammenhangs, die Einheit ihres Lebens; darin, daß sie es als solches einander und sich selbst antun. Real ist immer nur der Zwang. Realität nur ein anderes Wort für ihn, so wie das Geistige nur ein idealistisches Synonym für Freiheit darstellt. [ 7 ] Eine Formulierung aus den Grundrissen ist in diesem Zusammenhang schlagend: die gespenstische Doppelexistenz des Kapitals sei “verdammt real” [ 8 ].
Freiheit des Individuums ist in der bürgerlichen Gesellschaft immer auf Zwang gegründet. [ 9 ] Diese Erkenntnis, die Marx in unzähligen Variationen formuliert, läßt sich nicht auf die simple Trennung von Überbau und Basis, Geistigem und Materiellem herunterbringen. Es gibt vielmehr keine andere Unterscheidung zwischen real und irreal, Materie und Geist, Körper und Bewußtsein als die durch die Unterscheidung von Zwang und Freiheit hindurch mögliche Bestimmung. [ 10 ]
Wenn Marx das Geld als “reales Gemeinwesen” bezeichnet, worin das Gemeinwesen eben “bloße Abstraktion” sei, ist das auch kein materialistisches Aperçu, sondern der Begriff eines vermittelten Zwangsverhältnisses. Darin unterscheidet sich das Längen- oder Gewichtsmaß, mit dem abstrahiert wird, von der im Geld handfest verselbständigten Wertform, mit der die Gesellschaft sich selbst auf den Nenner bringt. Der stumme Zwang, der im Geld beschlossene Sache ist (die Abstraktion sagt Marx, “muß” vergegenständlicht werden), setzt die offene Gewalt nicht nur historisch voraus (da doch die Arbeitenden einmal von den Grundlagen ihrer Subsistenz getrennt werden mußten). Sie bleibt in Gestalt des Staats als konstante Drohung bestehn, die stets neu zur Tat schreiten kann. Als Rechtsstaat und Demokratie wird sie rationalisiert. So bedingen Staat und Geld einander notwendig als ideelle Konkretheit und reale Abstraktion.
Damit ist die eigenartig zwieschlächtige Natur der modernen Gesellschaft gesetzt: einerseits wird darin von allen voraufgegangenen Herrschaftsformen abstrahiert, also etwa auch von Sklaverei, Patriarchat etc. – andererseits werden alle voraufgegangenen Herrschaftsformen, eben auch Sklaverei, Patriarchat etc. integriert. Das entspricht genau der Struktur der Ware. Wie der Wert den Gebrauchswert, braucht das Kapitalverhältnis die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse – um davon abstrahieren zu können. Absurd darum die Vorstellung, patriarchalisch geprägte, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse existierten nicht mehr, seien vom Kapitalverhältnis abgeschafft, Gleichberechtigung durch gleichen Tausch hergestellt. Ebenso absurd die Behauptung, das Patriarchat und personale Machtstrukturen existierten fort wie eh und je, in ihrem Wesen ungebrochen, alle Emanzipation sei nicht einmal der Möglichkeit nach vorhanden.
Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, Integration und Abstraktion als Einheit zu fassen. Wovon in der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses auf der einen Seite abstrahiert wird, das schlägt sich auf der anderen in den Gewaltverhältnissen nieder, die diese Durchsetzung ermöglichen und absichern. Wurde einmal die Ausbeutung selbst als personale Abhängigkeit eingeführt und als unmittelbare gewaltsame Tätigkeit ausgeübt, so erfolgt sie jetzt als stummer Zwang in vollkommen versachlichten Verhältnissen: umso mehr jedoch sind die Individuen durch personale Abhängigkeiten und direkte Gewaltausübung in diese Verhältnisse zu integrieren: das beginnt beim “Ministaat Familie” (Wilhelm Reich) und endet beim wirklichen Staat: dessen Demokratisierung und Überführung in einen Rechtsstaat ist zwar die der Ökonomie im Normalfall angemessene Staatsform, aber sowenig der Rechtsstaat das Gewaltmonopol abschafft, so wenig verschwindet im Zwangszusammenhang der Familie die unmittelbar persönliche Gewalt: sie ist darin aufgespeichert; wo sie nicht stattfindet, bloß aufgeschoben; sie ist der ewig drohende Ausnahmezustand, der die Beziehungen in einer Gesellschaft konsitutiert, die Krisen systematisch hervorbringt.
Die Gewalt wird zerkleinert, diversifiziert, ausgelagert, jedem einzelnen Individuum subtil zur Anwendung überantwortet – aber deren Ursprung bleibt unberührt. Und in dieser zerkleinerten, diversifizierten, ausgelagerten und subtil anwendbaren Form erfährt sie an bestimmten Punkten der Gesellschaft ungeahnte Steigerungen, die mit dem stummen Zwang der Warenproduktion und des Rechtsstaats wie selbstverständlich konform gehen.
Das physische Leid, den “quälbaren Leib” des einzelnen zum unabdingbaren Bezugspunkt des Denkens zu machen, ist die Voraussetzung dafür, diese Einheit überhaupt noch als einen Widerspruch wahrzunehmen, der sich nach keiner Seite hin auflösen läßt; die Bedingung der Möglichkeit, in der erzwungenen Einheit selbst, die als “Gleichheit” und “Gleichberechtigung” fetischisiert wird, den Gegenstand der Kritik zu erkennen. Der Bezugspunkt wird zum toten Punkt, sobald die besondere subjektive Realität und die allgemeine subjektlose Realität einfach nur “unmetaphysisch” aneinandergereiht werden, um – je nachdem – von einer in die andere wechseln zu können. Der Zwang zur Gewalt, der darin besteht, daß sie unversöhnt sind, beginnt bei diesem Changieren – Theorie und Praxis, Denken und Alltag feinsäuberlich getrennt – zu schillern: er scheint als ein Allgemein Menschliches zu existieren. Aber dieses ist eben nur die Einfühlung in die reale Abstraktion – oder um im Bild zu bleiben: in das Tier an sich, das unter den wirklichen Tieren sein Unwesen treibt.
Anmerkungen
[ 1 ] Anstoß zu diesem Versuch gab Ilse Bindseils Artikel: Reale Abstraktion und reelle Subsumtion. In: Ästhetik und Kommunikation 113/2001, S.77-80.
[ 2 ] Marx macht diesen Vergleich nur in der ersten Auflage des Kapitals von 1867: MEGA2 II.Abt. Bd. 5, S.37.
[ 3 ] “Auf dem Papier, im Kopf geht diese Metamorphose durch bloße Abstraktion vor sich; aber im wirklichen Umtausch ist eine wirkliche Vermittlung notwendig, ein Mittel, um diese Abstraktion zu bewerkstelligen (...) Indem ein Produkt Tauschwert wird, wird es nicht nur in ein bestimmtes quantitatives Verhältnis verwandelt, eine Verhältniszahl – nämlich eine Zahl, die ausdrückt, welche Quantität von andren Waren ihm gleich ist, sein Äquivalent, oder in welchem Verhältnis es das Äquivalent andrer Waren ist – , sondern muß zugleich qualitativ verwandelt werden, in ein andres Element umgesetzt werden, damit beide Waren benannte Größen werden, mit derselben Einheit, also kommensurabel werden. (...) beim wirklichen Austausch muß die Abstraktion wieder vergegenständlicht, symbolisiert, durch ein Zeichen realisiert werden.” (Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S.61f.) In der etwas späteren Kritik zur politischen Ökonomie heißt es dann, es werde sich “zeigen, daß diese Gleichgültigkeit gegen den besondren Inhalt der Arbeit nicht nur eine Abstraktion ist, die wir machen, sondern die das Kapital macht und wesentlich zur Charakteristik desselben gehört.” (Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW Bd. 43, S.51) So spricht Marx etwa auch im Falle der Enteignung, die der kapitalistischen Produktion historisch vorausging, von Abstraktion: aus ihre resultiert der “abstrakte Arbeiter” der Arbeiter “als Eigentumsloser” auf der einen Seite und der “abstrakte Reichtum” auf der anderen. “Dieser abstrakte Gegensatz findet sich z.B. [nicht] in der zünftigen Industrie, wo das Verhältnis von Meister und Gesell ganz andre Bestimmungen hat.” (Ebd. S.38) Die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital wird dann als notwendiges Teilmoment des realen Abstraktionsvorganges analysiert: “Erst im Lauf seiner Entwicklung subsumiert das Kapital den Arbeitsprozeß nicht nur formell unter sie, sondern wandelt ihn um, gestaltet die Produktionsweise selbst neu und schafft sich so erst die ihm eigentümliche Produktionsweise.” (Ebd. S.87) Das heißt, auch die konkreten Produktionsprozesse werden von Abstraktion erfaßt und durch sie umgestaltet: “Verwandlung der formellen Subsumtion unter das Kapital in reale Änderung der Produktionsweise selbst.” (Ebd. S.257) “Die gesteigerte Produktivität und Komplikation des gesamten Produktionsprozesses, seine Bereicherung, wird also erkauft durch die Reduktion des Arbeitsvermögens in jeder besondren Funktion zu einer bloßen dürren Abstraktion – einer einfachen Eigenschaft, die in ewigem Einerlei derselben Wirkung erscheint und für die das gesamte Produktionsvermögen des Arbeiters, die Mannigfaltigkeit seiner Anlagen, konfisziert ist.” (Ebd. S.272) Die Kooperation der Arbeitenden ist “nicht ihre gegenseitige Vereinigung, sondern eine sie beherrschende Einheit, deren Träger und Leiter eben das Kapital selbst ist.” (Ebd. S.253)
[ 4 ] Zur Kritik der poltischen Ökonomie, MEW Bd.43, S.142
[ 5 ] G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik II. Werke Bd.6. Frankfurt am Main 1969, S.464-466
[ 6 ] Marx, Grundrisse S.137
[ 7 ] Fast immer wenn Marx von real oder reell spricht, geht es immanent um einen Zwang: sei’s der Zwang des Kapitals den Wert zu “realisieren”, oder der Zwang, den es selbst ausübt, um sich die Arbeit “reell” zu subsumieren.
[ 8 ] Marx, Grundrisse, S.353
[ 9 ] Vgl. Marx, Grundrisse, S.153-159
[ 10 ] Ganz in diesem Sinn, den der vulgäre Materialismus gern als “anthropomorphisierend” abtut, bestimmt Marx auch den Begriff der Zeit: der Arbeiter heißt es in der Kritik der politischen Ökonomie “verliert den Raum für die geistige Entwicklung, denn das ist die Zeit.” (Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd.43, S.296) Hier setzt Adornos Materialismus an, der auf die “Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung” zielt: “Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedingungen verweigert.” (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Bd.6. Frankfurt am Main 1998, S.207)