Buchbesprechung: »Hineinspringen in die Welt der Maschinenwesen«
Tobias Gschwendtner über den Erzählband »Das Ideal des Kaputten« von Alfred Sohn-Rethel. Aus: Versorgerin #121.
»Technische Vorrichtungen sind in Neapel grundsätzlich kaputt: nur ausnahmsweise und dank einem befremdlichen Zufall kommt auch Intaktes vor.« Diese Beobachtung steht am Anfang von Alfred Sohn-Rethels Erzählung »Das Ideal des Kaputten«, erstmals veröffentlicht 1926 in der Frankfurter Zeitung. Mit der Zeit gewinne man den Eindruck, so Sohn-Rethel weiter, in Neapel werde alles bereits in kaputtem Zustand hergestellt. Letztlich fange bei den Neapolitanern das Funktionieren »gerade erst da an, wo etwas kaputt ist«.
Mit »unerschütterlicher Selbstverständlichkeit« bringen es die Bewohner Neapels beispielweise fertig, auf See und in gefährlicher Nähe zu den Klippen Reparaturen an ihren Booten auszuüben – und gleichzeitig noch Kaffee auf der macchina zu kochen. Das Intakte hingegen, das quasi von selbst funktioniert, sei dem Neapolitaner im Grunde unheimlich. Dem Neapolitaner gehe es letztlich darum, ein ehrfurchtsloses Veto einzulegen gegen den »feindlichen und verschlossenen Automatismus der Maschinenwesen« – um dann selbst in deren Welt hineinzuspringen. Mitunter nimmt das lustige Züge an: Radmotoren dienen in Sohn-Rethels Schilderungen dazu, in einem Topf die Sahne zu schlagen. Die »kleinen Leute« in der Erzählung verfügen über Mut und Witz.
»Das Ideal des Kaputten« ist Teil einer gleichnamigen vor kurzem bei ça ira erschienenen Textsammlung, die im Kontext der ebenfalls beim Freiburger Verlag herausgebrachten, vierbändigen Schriftenreihe sowie der für 2019 angekündigten Biographie Sohn-Rethels steht. In »Das Ideal des Kaputten« finden sich mit Fotos illustrierte Nachdrucke von Erzählungen, die Sohn-Rethel während seiner Zeit in Italien (1924-27) und im Londoner Exil verfasste. Die fünf kurzen Texte berichten von der Konfrontation des Menschen mit der Natur: in Gestalt nicht völlig domestizierter Tiere (wie einem eigensinnigen Elefanten und zwei smarten Ratten) und der Urgewalt des von Sohn-Rethel bestiegenen Vesuv. Daneben geht es um die eingangs beschriebene neapolitanische Kulturtechnik des eigenwilligen Hineinspringens in die Welt der Maschinenwesen.
Wie kam es dazu, dass der 1899 im französischen Neuilly-sur-Seine geborene Sohn-Rethel in Neapel diesen Beobachtungen nachgehen konnte? Nach dem Studium der Nationalökonomie in Heidelberg und der Philosophie in Berlin sowie seinen ersten Arbeiten zur materialistischen Erkenntnistheorie zeichnete sich für Sohn-Rethel keine gesicherte Zukunft ab. Ein Angebot eines Oldenburger Verlegers kam somit zur rechten Zeit: für eine kulturphilosophische Arbeit sollte Sohn-Rethel ein Monatsgehalt von 250 Mark erhalten – in Deutschland wenig Geld, vielleicht aber ausreichend in Italien: auf der Insel Capri im Golf von Neapel und im nahegelegenen Dorf Positano auf dem Festland. Beides waren Orte, die zu jener Zeit eine starke Anziehungskraft ausübten auf »Gespenster, Bohemiens und Zwischenexistenzen der verschiedensten Grade« (Siegfried Kracauer) oder, wie Walter Benjamin es formulierte, auf das »intellektuelle Wanderproletariat«.
1924 machte sich Sohn-Rethel zusammen mit seiner damaligen Frau Tilla und ihrer gemeinsamen Tochter auf nach Capri, wo sie bei einem Verwandten aus der weit verzweigten Familie Sohn-Rethels unterkommen konnten. Bald jedoch siedelten sie über nach Positano. Dort hatten italienische Auswanderer nicht nur günstig zu mietende, karg eingerichtete Häuser zurückgelassen, um zwei von Sohn-Rethels Onkel hatte sich in Positano auch ein interessanter Künstler- und Intellektuellenkreis gesammelt. In dieser Zeit traf Sohn-Rethel auch erstmals auf Adorno und Kracauer. Sie machten ihn bekannt mit dem gerade gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung, zu dem Sohn-Rethel trotz mehrfacher Versuche aber keinen Anschluss fand. Bloch und Benjamin, die Sohn-Rethel ebenfalls mehrfach in Italien traf, hatte er bereits in Heidelberg kennengelernt.
1926 versiegte Sohn-Rethels Geldquelle, so dass er sich gezwungen sah, nach Heidelberg zurückzukehren, wo er 1928 mit der Dissertation Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft promovierte. Ab 1931 arbeite Sohn-Rethel in Berlin als akademische Hilfskraft beim Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT), einer Lobbyorganisation der Rheinischen Schwerindustrie zum Ankurbeln eines Handelskreislaufes mit Südosteuropa. Für Sohn-Rethel bot sich dabei die Gelegenheit, aus dem Inneren heraus die Strategien und Machenschaften der Wirtschaftsführer zu studieren und sie weiterzugeben an sozialistische und kommunistische Untergrundgruppen, mit denen er in Verbindung stand. 1936 musste Sohn-Rethel emigrieren und gelang über die Schweiz und Frankreich 1938 nach England. Dort widmete er sich neben der Ausarbeitung seiner Analysen aus dem Umkreis der MWT wieder der materialistischen Erkenntnistheorie. In der Bundesrepublik bekannt wurde Sohn-Rethel in den 1970ern durch die Veröffentlichung von Geistige und körperliche Arbeit (1970), Warenform und Denkform oder Ökonomie (1971) und Klassenstruktur des deutschen Faschismus (1973).
In dieser Zeit wurde Sohn-Rethel auch als Professor an die damalige »Reformuniversität« in Bremen gerufen. Der Erzählung »Dudley Zoo« ist ein Photo von Sohn-Rethel beigefügt, auf dem er vertieft Zeitung lesend vor dem monumentalen Elefanten-Kolonialdenkmal in Bremen zu sehen ist. Die Platzierung dieses Photos überrascht. Denn in dem amüsanten Text geht es schlicht um einen Elefanten, der in einem am Zirkusausgang geparkten roten Mini, der einer befreundeten Familie Sohn-Rethels gehört, einen Zirkushocker sieht. Und sich deshalb wie selbstverständlich auf dessen Haube niederlässt. Einem Aufseher gelingt es schließlich, den Elefanten dazu zu animieren, von seinem Thron zu steigen, sodass die Familie – fast wie geplant – mit dem eigenen Auto von ihrem Sonntagsausflug nach Hause fahren kann. Ob sie einem »ldeal des Kaputten« folgte oder sich alsbald einen neuen Wagen zulegte, ist nicht überliefert. Der Elefant in Bremen zumindest ist kürzlich restauriert worden.
Abdruck der Fotos mit freundlicher Genehmigung des ça ira Verlags.