Initiative Sozialistisches Forum
Ein Lichtlein für die Toten
Bemerkungen zur Pandemie
Keine Naturkatastrophe
Die weltweite, nach dem Corona-Virus SARS-CoV-2 benannte Pandemie ist keine unvermittelte Naturkatastrophe, sondern eine aus der permanenten Krise des Kapitalverhältnisses resultierende Kollateralkrise. Die Ausbreitung des Virus und seine zerstörerischen Wirkungen auf die Lungen, Gefäße und Nerven von Millionen Menschen hätten auf dem erreichten Stand der Technik und des medizinischen Repertoires vermieden, zumindest vorausgesehen und verhindert werden können. Mit Pandemien war spätestens seit der SARS-Pandemie 2002/2003, der ebenfalls pandemischen Schweinegrippe 2009/2010 und den Ebolafieber-Epidemien der Jahre 2014 bis 2020 in Westafrika, der Demokratischen Republik Kongo und Uganda ständig und überall zu rechnen. Aber so wenig, wie unter den Bedingungen des Kapitalverhältnisses Hunger ein Grund für Produktion ist, so wenig war die Gefahr durch Pandemien Anlass für die gesellschaftliche Produktion von Sicherheit, obwohl die entsprechenden Katastrophenschutz- und Pandemiepläne seit langem bereitliegen. Denn die Konkurrenz der einzelnen Kapitale und der Staaten lässt systematisch keinen Raum für den schonend ›nachhaltigen‹ Verbrauch kostenloser Natur und kostspielige globale Vorsorge. Dass der Einzelne irgendwann in die Natur, aus der er kommt, mit oder ohne Hoffnung auf Auferstehung zurücksterben muss, kann die Einsicht nicht relativieren: dass der Tod wegen oder auch mit Corona ebenso wie Hunger und Armut vermeidbar wäre. In vernünftigen Verhältnissen, von denen wir wenig aber genug wissen, müssten ›wir‹ also entgegen der Auffassung des Virusverstehers Hendrik Streeck (Hotspot. Leben mit dem neuen Corona-Virus. München 2021) mit dem Virus weder leben noch sterben.
Externalität und Konkurrenz der Staaten
Die Volkswirtschaftslehre beschreibt das Problem des unbezahlten Verbrauchs von Natur und anderer Ressourcen als ›Externalität‹ und meint damit die Selbstverständlichkeit, dass ökonomische Voraussetzungen und Folgen unternehmerischen Handelns nicht notwendig als Kosten des Unternehmens erscheinen. Als Beispiele für solche externen Effekte werden Verkehr, Energie und Emissionen genannt, auch Bildung, Gesundheit und seit einigen Jahren nervtötend: die Digitalisierung. Die Kostenkonkurrenz der Einzelkapitale zwingt diese dazu, den für die Infrastruktur unternehmerischer Aktivitäten notwendigen Herstellungs- und Erhaltungsaufwand so weit wie möglich zu externalisieren. Diese Verschiebung entweder auf den Staat oder in eine ungeplante Zukunft qualifiziert die Volkswirtschaftslehre mit bestechender Offenheit als systemisches ›Marktversagen‹. Staaten sind aufgrund der Standortkonkurrenz in ihren Möglichkeiten zur Investition in soziale, ökologische oder gesundheitliche Vorsorge systematisch eingeschränkt. Denn solche Investitionen können auf lange Sicht nur aus der Mehrwertmasse finanziert werden, die als Steuern in die öffentlichen Haushalte fließt. Der steuerrechtlichen Abschöpfung von Mehrwert zur Finanzierung von Infrastruktur- und Vorsorgemaßnahmen stehen aber die im antinomischen Gewirr der Argumente vollkommen berechtigt sich meldenden Bedenken der Einzelkapitale entgegen, Steuern seien auch nur Kosten und würden daher in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt empfindliche Nachteile bringen. Einen Weltsouverän, der als globaler Gesundheitsmanager und Weltengärtner eine die menschliche und äußere Natur schonende Weltinfrastruktur planen, schaffen und pflegen könnte, gibt es ersichtlich nicht. Ihn wie der »großtuerische Mystagoge« Ernst Jünger (Georges-Arthur Goldschmidt) unter Beibehaltung von Heroismus und Heimat als Weltstaat zu imaginieren oder als grün gestimmter Mensch ohne Grenzen völkerrechtlich montieren zu wollen – es läuft auf dasselbe hinaus: auf die zum Wahn gesteigerte Ideologie des guten Staates.
Zweierlei Natur
So wie die Arbeit nicht die Quelle allen Reichtums, sondern die Natur »ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte« ist, wie Karl Marx 1875 feststellte, so kommt auch das gesellschaftlich produzierte Unglück ohne Natur nicht aus. Es sind am Ende immer der körperliche Schmerz und die leibhaftige Angst, die Atemnot und der Tod, in denen Staat und Kapital, im Krieg und im Frieden, die Krise als ihr Unwesen am verletzlichen Leib der Einzelnen ausagieren. Dann schlägt die Stunde der Triage im Lazarett, aber auch vor den Intensivstationen ziviler Krankenhäuser: im März 2020 in Bergamo und New York, ein Jahr später in Prag, São Paulo und seit April 2021 in Mumbai und Delhi, wo für die Sterbenden nicht einmal genug medizinischer Sauerstoff und Morphium zur palliativen Endversorgung zur Verfügung stand. In der anthropomorphisierenden Erhebung des Virus zum Feind, dem der Krieg zu erklären sei, ratifiziert das Alltagsbewusstsein die Verkehrung von bedrohter Gesellschaft und einer vermeintlich feindlichen Natur. Dass das Kapital als permanente Krise im Wechsel von »schöpferischer Zerstörung« (Joseph Schumpeter) und unproduktiver Vernichtung so wenig beplanbar ist wie das Wetter, macht diese Verkehrung nicht wahr, aber plausibel. In ihrer Bewusstlosigkeit nähern sich Natur und Gesellschaft, erste und zweite Natur, bis zur Ununterscheidbarkeit an. Index dieser Annäherung ist die wachsende organische Zusammensetzung eines tendenziell äußerst resilienten Phänotyps, des narzisstisch routinierten und beruflich tüchtigen Menschen: »Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.« (Adorno) Im Maße, wie die Natur dem Kapital als bloßes Rohstofflager dient, werden sich Mensch und Maschine als Produktionsmittel zur Bearbeitung dieses Rohstoffs ähnlich. Dass sie den technischen Begriff und Zugriff erlauben, ist das tertium comparationis von Natur und Gesellschaft, die zu steuerungspflichtigen Systemen nach dem Modell der kybernetischen Maschine zugerichtet werden. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben in ihrer konformistischen Rebellion gegen die Väter der Psychoanalyse diese Tendenz affirmiert, indem sie mit dem Neologismus ›Wunschmaschine‹ den produktiven Zug eines als maschinell vorgestellten und als solches gefeierten Unbewussten hervorhoben. Die Postmoderne weitet den postpsychoanalytischen Blick vom Einzelnen auf das Ganze, das die Ingenieure des Geistes performativ als produktive Struktur, universales Netz und unendliche Lieferkette des Signifikanten besprechen. Aber die Maschinisierung des Selbst und die Digitalisierung der Gesellschaft zwecks Steigerung ihrer Objektivität als zweiter Natur machen niemanden unsterblich und der Breitbandanschluss des Subjekts an den falschen Betrieb schützt nicht vor COVID-19. Und so stößt die negative Gesellschaft in der Krise die Einzelnen als bloße Exemplare der erst noch zu verwirklichenden Gattung zurück in die erste Natur und lässt sie nicht nur in den Hungerregionen des globalen Südens, sondern auch auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser in ihre erste Natur verenden.
Staatsziel Volksgesundheit
Auch dann, wenn das Kapitalverhältnis Planung und systematisch rationales Handeln erlauben würde, wie Etatisten jeglicher Couleur behaupten, könnte ihr Zweck nur die Volksgesundheit als solche und nicht die Gesundheit des Einzelnen sein. Denn die negative Bestimmung von Kapital und Staat ist die Reproduktion von Wert und Souveränität als eines Selbstverhältnisses, für welches der Einzelne immer nur die stofflichen Voraussetzungen liefert, ohne selbst je Zweck werden zu können. Der Zweck der Pandemie-Politik kann also nur die Gesundhaltung des Volkskörpers sein, in welchem der Einzelne wie im Titelkupfer des Leviathan aufgeht und seine negative Bestimmung im Opfer findet: regelmäßig im täglichen Opfer der Arbeit und im Falle der Ausnahme, welche die traurige Regel bestätigt: im Tod des Soldaten an den inneren und äußeren Fronten des Staates. Dass die Gewalt als verdrängte und die unterschwellige Vorstellung vom Krieg als dem strengen »Vater aller Dinge« (Heraklit), einem »gewaltsamen Lehrer« und gar einer »Gestaltungskraft ersten Ranges« (so der Historiker und Zeitgenosse Dieter Langewiesche) stets alles Regierungshandeln begleitet, verriet der Jargon der Pandemie, der den Führungskräften der Politik im Frühjahr 2020 schneller zur Verfügung stand als Masken, Impfdosen und Schnelltests. Zwar entschloss man sich hierzulande nicht gleich zur Mobilmachung und Kriegserklärung, wie sie Emmanuel Macron in Frankreich schon im März 2020 aussprach. Aber auch deutsche Meinungsführer adressierten das Virus als den ›unsichtbaren Feind‹, der dann allerdings in jeder Fernsehsendung als Hintergrundmotiv in einer Weise elektronenmikroskopisch inszeniert und also doch sichtbar gemacht wurde, dass SARS-CoV-2 mit seinen inzwischen allen vertrauten Spike-Proteinen einer Seemine zum Verwechseln ähnlichsah. Der Jargon der Pandemie schloss eine falsche Vertraulichkeit zwischen Führung und Volk ein, die den Mangel an klaren Zweck-Mittel-Vorgaben ausgleichen und der Gefahr vorbeugen sollte, dass die stets zu Hass und notorisch zum Querdenken bereiten Massen offensichtliches Führungsversagen mit Illoyalität beantworten würden. Dass man »einander« nach der Pandemie »viel verzeihen müsse« und »wir« als Volksgenossen »aufeinander« nicht etwa Rücksicht nehmen, sondern gleich »achtgeben« sollen, das war der nur scheinbar freundliche Gemeinschaftssound, mit dem die Charaktermasken der Politik darüber hinwegtäuschten, dass der Tod von Zigtausenden längst billigend in Kauf genommen worden war. Die Antinomie, die in der öffentlichen Diskussion nachhaltig verdrängt wird, besteht in der doppelten Bestimmung des Staates, seine Bürger als Staatsbürger im Allgemeinen schützen zu können, sie als Ein zelne aber im Zweifelsfall jederzeit opfern zu müssen. Das Ziel aller staatlicher Bemühungen ist die Selbsterhaltung des Staates selbst, die als bloße Funktion der Selbsterhaltung des Einzelnen verkehrt erscheint: kein Staat ohne Staatsgebiet, Staatsmacht und eben – Staatsvolk, dessen Gesundheit die Volksgesundheit ist, die Bedingung für die landesweite Benutzung der Individuen als Arbeits- oder als Sicherheitskräfte, als Arbeiter oder Soldaten. Wenn diese in einer das Volksempfinden beunruhigend hohen Zahl sterben, tritt die oberste Charaktermaske der Souveränität ans Fenster, zündet ein Lichtlein an und eröffnet einen Feld gottesdienst sui generis mit den Worten: »Deutschland stellt ein Licht ins Fenster, weil jedes ›Lichtfenster‹ uns miteinander verbindet. Unser Licht spendet Wärme, unser Licht zeigt Mitgefühl in einer dunklen Zeit. Stellen wir also ein Licht ins Fenster – und geben wir acht aufeinander.« (Frank-Walter Steinmeier am 22. Januar 2021 zum Start der Aktion ›Lichtfenster‹).
Lust auf Verschwörung, Hass auf die Juden
Man darf die kuranten Verschwörungstheorien, die seit Ausbruch der Corona-Pandemie Konjunktur haben, nicht als eine Erscheinung neben dem Antisemitismus missverstehen, denn sie sind unmittelbar Teil des antisemitischen Projektionsaggregats. Man sollte sie auch weder leichtfertig als Wahn abtun, noch meinen, dass ihnen die Anerkennung als ›Theorie‹ zu viel Ehre erweise. Denn die Deutung von Verschwörungstheorien als Symptom und Wahn Einzelner verwischt die Spur jener Freiheit, die Jean-Paul Sartre eine ›totale freie Wahl‹ nannte. Um diese Spur freizulegen, fanden Adorno und Horkheimer für die Kritik des Antisemitismus den Begriff der pathischen Projektion. In ihm sind das passivisch gefasste Leiden (παθειν) und die projektive Abwehrleistung des Verbrechers (Sartre), der den Tod des Juden wünscht, im Sinne einer nur synkretistischen Totalität verbunden, die anders als der prozessierende Wert nur in der Vernichtung total werden kann. Und ›Theorien‹ sind auch außerhalb der antisemitischen Projektion keineswegs unschuldig, sondern jedenfalls in den Humanities die Form, in welcher sich der Wert als Geist gebärdet. Als Teil des antisemitischen Aggregats sind Verschwörungstheorien weder ›Elemente‹ noch gar ›Momente‹ des Antisemitismus, weil im ersten Fall die nominalistische Rubrizierung und im zweiten Fall die dialektische Nobilitierung die negative Einheit verfehlt, die das Aggregat erst in der Fluchtlinie zur Vernichtung erreicht. Das Sammelsurium der im Judenhass versammelten Vorstellungen, Fantasien und Theorien kommt erst in der Vernichtung um der Vernichtung willen zu seiner tödlichen Einheit. Auch die buchhalterische Aufzählung antisemitischer ›Stereotype‹ fällt in diese Art von botanisierender Antisemitismuskunde, welche Verschwörungstheorien als bloße Einstiegs droge zum Antisemitismus verkennt. Diese Theorien sind immer schon antisemitisch, weil sich die Verschwörungstheoretiker nicht damit bescheiden, subjektlose Herrschaft nicht denken zu können, sondern partout ›im Juden‹ den beneideten Übermenschen als den zu tötenden Feind bestimmen wollen, der die transnationale Synchronisationsleistung einer Weltwirtschaftskrise, eines Krieges oder einer Pandemie in persona als Zinsaristokrat erbringt. Dieser Feind verbirgt sich einstweilen noch hinter Bill Gates, George Soros oder auch Karl Lauterbach, nimmt dann die diffuse Gestalt der Bilderberger, Freimaurer oder Insidejobber an, um schließlich im Durchgang durch die Pharmaindustrie und andere Konzerne in den Finanzmanagern und Spekulanten sein wahres Gesicht zu zeigen: das entweder zur Fratze entstellte oder aber raffiniert getarnte Gesicht des ewigen Juden.
Dass es so weiter geht ...
Kaum ein Satz wird am Ende der Pandemie dümmer gewesen sein als der seit März 2020 tausendfach wiederholte, dass ›nach Corona‹ nichts mehr sein werde wie vorher. Denn wer so spricht, meint ja nicht die Millionen Toten und die an chronischem ›Long-Covid‹ oder ›Post-Covid‹ Erkrankten, die Hunderte Millio nen zusätzlich Verarmten, Insolventen, Obdachlosen, Arbeitslosen und Flüchtenden, welche die kapitalistische Krisenbewältigung global hinterlassen wird, sondern einen weltweiten Gesinnungswandel. Als kämen sie gerade aus der Schwitzhütte für verlassene Ehemänner, vom immunologisch versierten Geistheiler oder auch aus einem Seminar des Zukunftsforschers Matthias Horx, wiederholen hemmungslos gute Menschen im Geiste einer solchen neuen Gesinnung emsig das Mantra von der Krise, die zugleich eine Chance sei. Haben sie das Seminar bei Horx erfolgreich absolviert, dann üben sie sich, der täglichen epidemiologischen Prognosen überdrüssig, in der hohen Kunst der »Regnose«: »Bei der Regnose geht es um Wandel durch Bewusstsein. Regnose bedeutet, geistig ins Morgen zu springen und uns ›rückwärts‹ zu fragen, wie wir dort hingekommen sind – und was sich ändern musste und konnte auf dem Weg dorthin.« (Horx) Wer sich mit oder ohne solche Vorfreude aufs Futur II in den ersten Monaten der Pandemie von Balkon zu Balkon als Spender oder Adressat vorher nicht gekannter Nachbarschaftshilfe und voll des Dankes für Pflegekräfte und Kassiererinnen wie sonst nur angesichts der Klimakrise als Teil einer großen Gemeinschaft wohl- und geradezu identisch fühlen konnte, wird inzwischen aber etwas ernüchtert sein. Denn so, wie man Schwiegereltern am Sonntag, Arbeitskollegen nach Feierabend und geschwätzige Freunde bei Geburtstagsfeiern nur ab und zu erträgt, so bekommt man auch vom ausgangsbeschränkten Nachbarn schnell genug. Dennoch wird mancher nicht nur dem Virus mehr oder weniger knapp Entkommene, sondern auch der vom drohenden Klimawandel weltgemeinschaftlich Ergriffene bei den Bundestagswahlen im September 2021 vielleicht wieder neuen Mut zum Aufbruch schöpfen. Dann wird er die Partei der zum Innehalten konstitutiv unfähigen Trampolinspringerin Annalena Baerbock wählen, seine in der Pandemie erprobte Verzichtsbereitschaft auf den globalen Kampf gegen die Klimaerwärmung umwidmen und sich so – jeder an seinem Platz – mit seinem Engagement für mehr Völkerrecht und Volksgesundheit besten Gewissens um den Erhalt des Volkskörpers und seiner Zukunft verdient machen.