Russell Jacoby

Der tendenzielle Fall der Vernunftrate

Über den Niedergang der Linken und das Ende der Utopie

Juni 2025, ca. 248 Seiten, ISBN: 978-3-86259-193-0
Aus dem Englischen von Marlene Gallner, Lisa Herbst und Martina Leutloff | Französische Broschur

23,00 

Nicht vorrätig

978-3-86259-193-0 Kategorie:

Beschreibung

»Das Gesetz des tendenziellen Falls der Vernunftrate ist noch schwerer zu fassen als das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate bei Marx. Denn anders als dieses macht es auch vor sich selbst nicht halt und untergräbt so noch die Möglichkeiten seiner eigenen Erkenntnis. Es handelt sich um eine Tendenz, die nur im Voraus erkannt werden kann – dann, wenn sie noch nicht vollständig Wirklichkeit geworden ist.«

Seit den 1970er Jahren polemisiert Russel Jacoby mit spitzer Feder gegen die ideologischen Identifikationsangebote der falschen Gesellschaft, die auch Linke in ihren Bann zu ziehen vermögen, sobald sie nur im Gewand von Kritik und Emanzipation oder individueller Selbstverwirklichung daherkommen. Bei seinen Essays und Polemiken handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit den Vorläufern der damals noch im Entstehen begriffenen »Identitätspolitik« und der sich abzeichnenden Assimilation der Gesellschaftskritiker an den akademischen Betrieb.

Schon früh bemerkt Jacoby, dass der um sich greifende Subjektivitätskult eine direkte Reaktion auf den gesellschaftlichen Niedergang der Subjektivität darstellt: die Linke kompensiert ihre Unfähigkeit zur Trauer über den Verlust des bürgerlichen Individuums und das Ausbleiben der Revolution ohne weiteres Federlesen durch die Adaption von Individualismus, Pluralismus, Multikulturalismus und »Diversity«. »Die Rede von der revolutionären ›Gegenkultur‹«, so Jacoby, »bleibt so lange das Geschwafel der Kulturindustrie selbst, wie die Linke nicht begreift, dass sie eins mit der vorherrschenden Kultur ist. Was immer der Linken als einzigartige und bahnbrechende rebellische Praxis erscheint, im Establishment ist diese schon gang und gäbe, zumindest in der Avantgarde.«

Am Ende des Projekts radikaler Kritik wartet darum eine Überraschung, die das Ende der Utopie besiegelt: Im selben Maß, in dem die Hoffnungen auf Sozialismus und Revolution verschwinden und das utopische Denken vergeht, definieren auch linke Intellektuelle ihre Rolle neu; sie begreifen sich selbst als das, was sie sind, nämlich als Hochschull­ehrer, Wissenschaftler und »Kulturschaffende«, die sich und ihre »Identität« im »Diskurs« zu vermarkten haben. Indem sie heute den akademischen Betrieb oder ihre (Gegen-) Kultur verteidigen und das eigene Mitmachen so mit höheren Weihen versehen, sind diese Intellektuellen keine Radikalen mehr, sondern Ideologen, Apologeten ihrer selbst, ihrer Institutionen und der falschen Gesellschaft.

Die hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Aufsätze präsentieren eine Auswahl von Jacobys wohl pointiertesten und provokantesten Thesen aus über fünf Jahrzehnten.

Vita

Russell Jacoby lehrt an der University of California, Los Angeles (UCLA), vermochte allerdings nie, zum ordentlichen Professor ernannt zu werden. Geboren 1945 in New York, studierte er an der University of Chicago und der University of Wisconsin-Madison, die 1968 eines der Zentren der amerikanischen Studentenbewegung und der Neuen Linken war. Seine ersten gesellschaftskritischen Texte erschienen Anfang der 1970er Jahre. Seitdem publizierte er eine Vielzahl von Artikeln, Essays und Büchern, zuletzt On Diversity. The Eclipse of the Individual in a Global Era (2020). Über die Einflüsse, die sein Denken geprägt haben, hielt er einmal fest: »Ich glaube, man könnte sagen, dass ich ein entfernter oder distanzierter Schüler der Frankfurter Schule bin. Ich wollte nie nur ein Gefolgsmann oder nur ein Historiker der Frankfurter Schule sein. Vielmehr wollte ich im Geiste der kritischen Theorie schreiben.«

Inhalt

  • Vorwort der Übersetzerinnen
  • Die Politik der Subjektivität. Anmerkungen über Marxismus, die Linke und die bürgerliche Gesellschaft (1971)
  • Der tendenzielle Fall der Vernunftrate (1976)
  • Was ist konformistischer Marxismus? (1980)
  • Journalisten, Zyniker und Cheerleader (1993)
  • Der Mythos des Multikulturalismus (1994)
  • Die Austreibung der Utopie (2005)
  • Nachwort des Autors zur deutschen Übersetzung
  • Nachweise

Leseprobe

Das Individuum als autonomes Wesen war schon Ideologie in dem Moment, da es von der bürgerlichen Gesellschaft verkündet wurde. Der Arbeitslose wie der Arbeitende sollten denken, dass Glück wie Unglück von privaten Fähigkeiten abhinge, statt vom gesellschaftlichen Ganzen bestimmt zu sein. Nicht weniger werden persönliche Hoffnungen, Wünsche und Albträume angeregt durch öffentliche und gesellschaftliche Kräfte. Das Gesellschaftliche ›beeinflusst‹ nicht das Private, es durchdringt es. »Es ist vor allem zu vermeiden, die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen« (Karl Marx).

Der Fetisch zwischenmenschlicher Beziehungen, Reaktionen, Emotionen nährt den Mythos. Abstrahiert vom gesellschaftlichen Ganzen erscheinen diese als individuelle Reaktionen freier Menschen auf bestimmte Situationen, und nicht als das, was sie wirklich sind: unmenschliche Reaktionen auf eine unmenschliche Welt. Eine Psychologie, die ihre Erkenntnisse aus Experimenten mit Ratten gewonnen hat, kann den Menschen nur dann angemessen sein, wenn eine erdrückende Welt sie tatsächlich zu Ratten gemacht hat. Die endlose Rede von zwischenmenschlichen Beziehungen und Reaktionen ist utopisch. Sie geht von etwas aus, das obsolet geworden oder erst noch zu verwirklichen ist: von menschlichen Beziehungen. Heutzutage sind diese unmenschlich; sie haben mehr von Ratten als von Menschen, von Dingen als von Personen. Nicht aufgrund eines bösen Willens, sondern aufgrund einer bösen Welt. Wer dies vergisst, taucht ein in die Ideologie der Sensitivitätstrainingsgruppen, die in ihrem Streben nach Sensibilisierung das Gegenteil bewirken, indem sie menschliche Beziehungen von den gesellschaftlichen Ursachen trennen, die sie so grausam gemacht haben. Mehr Sensibilität bedeutet heute: Revolution oder Wahnsinn. Alles andere ist Mumpitz.

Der Subjektivitätskult ist eine direkte Reaktion auf den Niedergang der Subjektivität. Je mehr wahrhaft menschliche Erfahrungen und Beziehungen verschwinden, desto mehr werden sie aus genau diesem Grund beschworen. Autobiographische Erzählungen ersetzen das Denken, weil die Autobiographie als Geschichte eines einzigartigen Individuums aufhört zu existieren. Einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden, wie etwa Teile der Frauenbewegung forderten, affirmiert eine individuelle Existenz, die zweifelhaft ist. Durch die eigene wie die gegenseitige Bestätigung und Bekräftigung wird versucht, eine individuelle Erfahrung zu vergegenwärtigen, die eine gesellschaftliche Erinnerung ist. Das atomisierte Teilchen, das man Individuum nennt, versucht sich so zu retten, wie die Werbung identische Waren anpreist: indem Unterschiede betont werden, die schon lange keine mehr sind.

Ausschließlich nach Subjektivität zu streben, garantiert deren Verfall. Nicht gegen die Bewegung bürgerlicher Gesellschaft gerichtet, sondern ganz mit ihr im Einklang, hält dieses Streben ein gesellschaftliches Produkt für persönlichen Kummer oder persönliche Utopie. Was vom bürgerlichen Individuum am Anfang seiner Geschichte gefordert wurde, dass seine Freiheit, Arbeit usw. rein subjektiv seien, wird auf der letzten Stufe als seine Erlösung kolportiert. Dass Teile der Frauenbewegung die Subjektivität zum Programm gemacht und jegliches objektive theoretische Denken verworfen haben, zeigt nur das Ausmaß, in dem die Revolte die Unterdrückung in sich aufgenommen hat: Dass Frauen nicht zu systematischem Denken fähig seien und ihre Stärke dafür bei Gefühlen und Empfindungen läge, haben sie in ihrer eigenen Rebellion wiederholt.

Allerdings geht es hier nicht darum, eine wissenschaftliche (marxistische) Orthodoxie wiederaufleben zu lassen, die jegliche Rolle des einzelnen Subjekts eliminiert hat.

Seit Lukács, Reich und anderen hat zukunftsfähiges marxistisches Denken einer solchen Orthodoxie genau entgegengewirkt. Dabei ging es nicht darum, reine Subjektivität voranzutreiben, sondern das Augenmerk auf die Subjekt-Objekt-Dialektik zu lenken. Das Entweder-oder von reiner Subjektivität auf der einen und reiner Objektivität auf der anderen Seite ist ein Entweder-oder des bürgerlichen Denkens selbst. Marxistisches und radikales Denken müssen einer anderen Logik folgen: der dialektischen Logik.

Auszug aus Die Politik der Subjektivität

Weitere Titel…

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