Jörg Später in der Badischen Zeitung über den ersten Band der Pollock-Gesamtausgabe
Heraus aus dem Schatten
Im Freiburger ça-ira-Verlag erscheinen die gesammelten Werke Friedrich Pollocks, Mitgründer des Instituts für Sozialforschung
Der Soziologe und Ökonom Friedrich Pollock galt vielen vor allem als graue Eminenz des Instituts für Sozialforschung, der wichtigsten Denkschule der Kritischen Theorie. Nun wird ein, wenn auch kleiner, Scheinwerfer auf ihn gerichtet, der Pollock als Autor zeigt, was erst verstehen lässt, warumer ein kongenialer Partner des Institutsdirektors Max Horkheimers werden konnte.
Philipp Lenhard, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München hat die Aufgabe übernommen, Pollocks Schriften zu bergen. Lenhard selbst wird 2019 im Jüdischen Verlag, der zu Suhrkamp gehört, eine Biographie des Schattendenkers der Kritischen Theorie veröffentlichen. Pollocks gesammelte Schriften, die im kleinen Freiburger ça-ira-Verlag erscheinen, sind auf sechs Bände angelegt, von denen der erste nun erschienen ist – die „Marxistischen Schriften“ aus den 1920er Jahren.
Horkheimer und Pollock verband eine enge Freundschaft. Um 1930 traten sie, so erinnerte sich der junge TheodorW. Adorno, als verschworenes „Freundespaar Lenin und Trotzkij“ auf, Unternehmersöhne um die 35, die gegen das Systemrebellierten, das ihre Familien wohlhabend gemacht und ihnen, als deutsche Juden, den sozialen Aufstieg ermöglicht hatte. Pollock stammte aus Freiburg, wo sein Großvater Salomon das „Damenkonfektionsgeschäft S. Pollock“ in der Eisenstraße 6 eröffnet hatte. Nach dessen Tod 1899 übernahm Friedrichs Vater Julius den Laden. Als die Familie 1914 nach Stuttgart zog, verkaufte er an seine Angestellte Adele Rüdenberg, die 1935 von den Nazis zum Verkauf gezwungen wurde und 1939 Suizid beging.
Pollock und Horkheimer lebten seit Beginn der 1920er Jahre in Kronberg im Taunus in einer Wohngemeinschaft, waren Teilnehmer an der legendären „Ersten Marxistischen Arbeitswoche“ am Pfingstwochenende 1923 in Jenamit Karl Korsch und Georg Lukács, zudem an der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beteiligt. Während die Weimarer Republik ihre Dämmerung erlebte, wurde Horkheimer Direktor des ersten marxistischen Forschungsinstituts in Deutschland, und zwar als Nachfolger des schwer erkrankten Carl Grünberg, den sein Assistent Pollock zuvor interimistisch vertreten hatte.
Nach der Flucht vor den Nazis wurde Pollock neben Horkheimer geschäftsführender Direktor des zuvor evakuierten Instituts und versuchte, „das Goldschiff behutsaman allen bedrohlichen Klippen“ vorbei zu lotsen, wie der argwöhnische Siegfried Kracauer kommentierte. Was nicht immer gelang. Pollock verspekulierte in New York einenGroßteil des gestifteten Institutsvermögens. Aber nicht nur viel Geld, sondern auch der kämpferische Marxismus blieb angesichts der Erfahrungen von Flucht, Krieg und nicht zuletzt des Judenmords auf der Stecke. Pollock kehrte mit Horkheimer 1950 nach Frankfurt zurück, wo sie das Institut in der Senckenberganlage wiedereröffneten, und zog sich 1957 mit dem Freund ins Tessin zurück, wo er 1970 starb.
Immer stand Pollock im Schatten Horkheimers, der ihm zusammen mit Adorno die Dialektik der Aufklärung gewidmet hatte – beteiligt war Pollock an dem Buch eben nicht, außer natürlich als betroffener Zeitzeuge in Sachen beschädigter Lebenserfahrung. Doch der Ökonom mit politischem Hintergrund war nicht nur Geschäftsführer, sondern selbst Wissenschaftler. 1923 reichte er seine Dissertation zum Marx’schen Geldbegriff an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main ein. Sie stand unter der Prämisse, dass die politische Ökonomie die einzige „universale Grundwissenschaft“ sei, weil die „Produktion und Reproduktion deswirklichen Lebens“ aller Kultur und allen Denkens vorausgehe. Die Differenz von Wesen und Erscheinung, verdinglicht im Phänomen des Geldes, das die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse verschleiere, war für Pollock der Ausgangspunkt kritischer Wissenschaft, zeitgleich und ähnlich wie bei anderen materialistischen Ideologiekritikern wie Korsch und Lukács. In dieser Zeit bildete sich im deutschen Sprachraum das heraus, was man später den „westlichen Marxismus“ (Maurice Merleau-Ponty) nennen sollte.
Zum ersten Band der gesammelten Werke gehört neben Pollocks Dissertation eine Streitschrift gegen Werner Sombart, der einem faschistischen Ständestaat das Wort redend nicht nur die Grundlagen desMarxismus attackiert, sondern auch die Juden zu Hauptakteuren des Kapitalismus stilisiert. Lenhard meint, die Sombart-Kritik von 1926 könne man als erste faschismustheoretische Studie des Instituts lesen.
Die bekannteren Texte Pollocks über die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, seine Habilitationsschrift von 1929, und seine Analyse des Nationalsozialismus als „Staatskapitalismus“ von 1941, die für einen fruchtbaren wie aufschlussreichen Streit vor allem mit Franz L. Neumann sorgte, werden in den Bänden zwei (Planwirtschaft und Krise) und drei (Nationalsozialismus und Antisemitismus) aufgenommen. Der vierte Band umfasst die Schriften nach 1945 des Frankfurter Professors für Volkswirtschaftslehre und Soziologie zur Automation, der fünfteVermischtes, der sechste – für Historiker der sicherlich spannendste – ausgewählte Korrespondenz. Noch gespannter aber darf man auf die Biographie dieses besonderen Zeitzeugen sein, der Auskunft über die Ursprünge des westlichen Marxismus, die Vertreibung der jüdischen Intelligenz aus Deutschland, ihr Wirken im Exilland Amerika und die Rückkehr ins Haus der Henker geben wird. Dann auch wird vielleicht das Rätsel gelöst werden, wer von den beiden Freunden einst Lenin war und wer Trotzkij.
Jörg Später, Badische Zeitung vom 29. November 2018