Programm Sommer 2021
Alle Vorträge finden als Zoom-Konferenzen statt.
Link: https://zoom.us/j/98711594284?pwd=Mk5jVFhKUXRwcHRyekxhdDlpVFNVUT09
Mai
Donnerstag, 27. Mai 2021
Buchvorstellung
Pangermanismus
Edvard Beneš und die Kritik des Nationalsozialismus
Für eine Diskussion des Verhältnisses von westlicher Staatsidee und völkischem Staat ist ein Blick auf die Gedankenwelt von Edvard Beneš, des Mitbegründers, langjährigen Außenministers und zweiten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik von Interesse, war er doch nicht nur als aktiver Politiker, sondern auch als die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektierender Denker mit völkischem Nationalismus konfrontiert. Auch wenn Beneš besonders in der heutigen deutschen Rezeption oft selbst als völkischer Politiker dargestellt wird, wurde er von seinen völkischen Zeitgenossen als Vertreter des westlichen, antisemitisch konnotierten Staates verdammt, da er einem westlichen, am Individuum orientierten Begriff des Staates folgte, den er allerdings ab Mitte der zwanziger Jahre im Rückzug und die Demokratie in einer Krise sah. Auf diese Bedrohung reagierend, entwickelte Beneš in seinen Schriften eine deutliche Unterscheidung der Rolle des Staates im faschistischen und im nationalsozialistischen System. Ist für ihn der Faschismus eine Reaktion auf den liberalen Staat, nähre sich der Nationalsozialismus auch aus anderen, eben völkischen Quellen, die ihn noch gefährlicher machten.
Es spricht Florian Ruttner, Autor des bei ça ira erschienen Buches. Momentan arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Außenstelle des Münchner Collegium Carolinum in Prag und beschäftigt sich mit tschech(oslowak)ischer Geschichte, der Kritik völkischer Bewegungen, der Kulturindustrie sowie deutscher und österreichischer Erinnerungspolitik.
Juni
Donnerstag, 10. Juni 2021
Buchvorstellung
Schriften zu Planwirtschaft und Krise
Friedrich Pollock, Gesammelte Schriften II
Die Russische Oktoberrevolution wirkte auf die Linke weltweit wie ein Fanal. Wie auch immer man zum jakobinischen Marxismus der Bolschewiki stehen mochte, so waren sie doch die ersten, die die gesamte Gesellschaft nach kommunistischen Ideen umzugestalten versuchten. Dazu gehörten allen voran die Verstaatlichung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Einführung der Planwirtschaft. Auch in Deutschland blickten Linke mit großem Interesse auf das sowjetische Experiment. Einer von ihnen, Friedrich Pollock (18941970), Mitbegründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, machte sich 1927 sogar auf eine Forschungsreise nach Moskau, um die Fortschritte der Planwirtschaft aus der Nähe zu begutachten. Er war überzeugt davon, dass der liberale Kapitalismus in einer tiefgreifenden Krise steckte, die er mit den ihm eigenen Funktionen nicht mehr lösen konnte. Sein Resümee fiel eher nüchtern aus – und doch glaubte er, aus dem russischen Beispiel lernen zu können, wie es in Zukunft besser gemacht werden könnte. Die Haltung Pollocks zur Sowjetunion wurde nach dem Tod Lenins immer kritischer und schließlich offen feindselig, aber an der Notwendigkeit der Planwirtschaft hielt er bis zuletzt fest.
Ein Gespräch mit Philipp Lenhard (München), Herausgeber der Gesammelten Schriften Pollocks, anlässlich des Erscheinens des zweiten Bandes im ça ira Verlag.
Donnerstag, 24. Juni 2021
Vom Neinsagen, Katastrophensehnsucht und Bündnissen
Einführung in das Werk Klaus Heinrichs
Klaus Heinrich, der 2020 verstorbene Religionswissenschaftler und Mitbegründer der Freien Universität Berlin, war nicht nur im wissenschaftlichen Betrieb des Nachkriegsdeutschland eine Ausnahmeerscheinung. Seine stets in Bewegung und frei vorgetragenen Vorlesungen, die nebst Vorträgen und kleineren Schriften zuerst bei Stroemfeld und seit 2019 im ça ira-Verlag erscheinen, bieten auch für die Konflikte der Gegenwart eine große Fülle an Anknüpfungspunkten. Seine Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage unternimmt den unermüdlichen Versuch, auf der Basis von Freuds Psychoanalyse und Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung und in der Auseinandersetzung mit den spannungsreichen Stoffen der Religionen und Mythen, der durch ihre Geschichte hindurch stets von Selbstzerstörung bedrohten menschlichen Gattung »ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben.« Klaus Heinrichs Arbeiten, die man auch als eine materialistische Kritik sowohl logischer wie theologischer und ästhetischer Denkformen begreifen kann, erlauben es, diese noch in ihrer abstraktesten Gestalt zugleich als sedimentierte geschichtliche Inhalte zu lesen, als prekäre Versuche, die Angst vor äußerer Bedrohung und innerer Zerrissenheit durch Verschiebung und Stillstellung zu bewältigen oder zu verdrängen. Der Vortrag gibt eine erste Einführung in Heinrichs Denken, das seinen zeitlosen und doch sehr genau an die Erfahrung des Nationalsozialismus gebundenen Ausgangspunkt in folgender Frage hat: »Ist die verdrängungsfreie Realität nur zu erkaufen durch Aufgabe der auf Verdrängungen aufgebauten Zivilisation, oder gibt es Formen der ebenfalls zivilisatorischen Sublimierung, die dennoch nicht verdrängend sind?«
Es spricht Rolf Bossart, Publizist und Lehrbeauftragter für Religionswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Er beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Werk von Klaus Heinrich.
Juli
Donnerstag, 8. Juli 2021
Speerspitze des postkolonialen Antisemitismus
Achille Mbembes ›Nekropolitik‹ als Handreichung für deutsche Erinnerungskultur
Die Frage, die Mbembe schon in seinem Essay Israel, die Juden und wir von 1992 stellte – wie aus den ›Opfern von gestern‹ die ›Verfolger von heute‹ geworden sein können, die den »krankhaften Willen zum Nichts« des Holocaust verinnerlicht und so den »Platz der Mörder« eingenommen hätten –, findet hier eine Antwort. Insofern das »Transzendente« der von Israel instituierten ›Opferreligion‹ – anders als im palästinensischen Märtyrertum – niemals im »eigenen Tode gegründet ist, muss es der Opfertod von jemand anderem sein, durch welches das Heilige sich etabliert.« In der Behauptung, die Israelis würden die Palästinenser ihrem vergöttlichten Allgemeinwesen zum Opfer bringen, unterstellt Mbembe dem jüdischen Staat nicht nur die Wiedereinführung des Menschenopfers, welches das Judentum historisch abgeschafft hatte, sondern liefert auch eine Neuauflage der klassischen Ritualmordlegenden. Wie schon in Necropolitics nimmt Mbembe auch hier wieder die Unterscheidung zwischen Südafrika und Israel vor: Während es ersterem mit der Einrichtung einer Versöhnungskommission nach der Überwindung der Apartheid gelungen sei, der Gefahr der Errichtung eines solchen Opferfetischs zu entgehen, habe letzteres – von der Erfahrung der Judenvernichtung getrieben, die es zu seinem nationalen und damit partikularen Narrativ gemacht habe – solch eine Opferreligion, die zugleich auch eine Opferökonomie darstelle, aufgerichtet: »Jene Staaten«, so beschließt Mbembe den Gedanken, »die sich hauptsächlich als Opfersubjekte definieren, erweisen sich allzu oft als von Hass erfüllte Subjekte, das heißt als Subjekte, die niemals aufhören können, den Tod zu mimen, indem sie andere opfern und ihnen all jene Grausamkeiten zufügen, welche sie einst selbst als Sühneopfer zu erleiden hatten.«
Es spricht Alex Gruber (Wien), der als freier Autor in Wien lebt und Redakteur der sans phrase – Zeitschrift für Ideologiekritik ist.
Donnerstag, 22. Juli 2021
Vom Elend der Flüchtlinge und derer, die ihnen helfen wollen
Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1956 verabschiedet, um Flüchtlinge mit einem starken Rechtstitel auszustatten und zu schützen. Davon ist heute in Europa wenig gebelieben: Menschen, die in Europa Asyl beantragen, erscheinen den einen als Bedrohung, die mit quasi militärischen Mittel von den Außengrenzen ferngehalten werden sollen, den anderen als beklagenswerte Hilfsempfänger. »MoriaWahnsinn« betitelt Thomas von der OstenSacken daher seine kurzen Kolumnen, mit denen er luzide und angemessen verzweifelt über die Lage der Flüchtlinge auf Lesbos und anderswo berichtet. Mit seinen Texten macht er nicht nur auf das nicht enden wollende Elend aufmerksam, sondern analysiert auch, warum dieses im Rahmen der Flüchtlingspolitik der europäischen Länder so geduldet und gewollt wird. Das betrifft auch diverse NGOs, denen es mit ihren aufwändigen und Barmherzigkeit erheischenden Kampagnen gelingt, Geld und Sachspenden einzufahren, die vor Ort weder gebraucht werden noch einen anderen Nutzen haben, als die Gutherzigkeit der Geber in den Mittelpunkt zu stellen.
Es spricht Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer der Hilfs organisation Wadi e.V. und als solcher seit über 20 Jahren regelmäßig im Nahen Osten unterwegs. Er ist freier Publizist und schreibt u.a. für die Jungle World und Die Welt. Seit drei Jahren unterstützt und berät er zudem Stand by me Lesvos, eine lokale Hilfsorganisation, die unterschiedliche Selbsthilfeprojekte von Flüchtlingen unterstützt.