Klaus Heinrich bei ça ira
Liebe Leserinnen und Leser,
wir hoffen, dass Sie einen guten Start ins neue Jahr hatten und wünschen Ihnen für dasselbe nochmals alles Gute. Wir sind zuversichtlich, dass wir ein klein wenig dazu beitragen können, dass dieses Jahr für unsere Leserinnen und Leser jedenfalls kein langweiliges werden wird.
Denn wir dürfen zusätzlich zu den neuen Titeln, die wir bereits angekündigt haben, mitteilen, dass wir im vergangenen Jahr nach kurzen, auch kurzweiligen Verhandlungen Klaus Heinrich für ça ira gewinnen konnten. Nach dem Aus von Stroemfeld im Herbst 2018 war es um Klaus Heinrich, der leider auch zuvor schon viel zu wenig rezipiert wurde, noch stiller geworden. Das bedauerten nicht nur seine Schülerinnen und Schüler, sondern auch wir und nicht wenige unserer Mitglieder des Instituts für Sozialkritik Freiburg (ISF) e.V. Das Ende von Stroemfeld betraf nicht nur die bereits veröffentlichten Schriften von Klaus Heinrich, sondern auch das zahlreiche noch unveröffentlichte, aber bereits für die Publikation vorgesehene und vorbereitete Material; darunter Zeichnungen, Notizen, Gedichte, Nach- und Zurufe, Vorlesungen, Hörspiele, Libretti, Festschriftenbeiträge und Tagebücher. Lange blieb es unklar, ob und in welcher Form die begonnene Reihe von Klaus Heinrichs Vorlesungen und kleinen Schriften fortgesetzt werden könne.
Wir von ça ira freuen uns daher sehr, auf diesem Wege mitteilen zu können, dass wir in Abstimmung mit Stroemfeld und Klaus Heinrich einen Weg gefunden haben, sowohl seine bereits erschienenen Schriften wieder zugänglich zu machen, als auch nach und nach das bisher unveröffentlichte Material herauszugeben. Es ist ein Glücksfall für uns, mit Klaus Heinrich einen ganz außerordentlichen Denker gewonnen zu haben, der wie kaum ein anderer zum mikrologischen, kritischen und materialistischen Aufschluss des reichen gattungsgeschichtlichen Stoffes, zur Balance zwischen kritischer Intention und freundlicher Aufmerksamkeit und zum „langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand“ (Adorno) fähig ist und dabei die Grenzen der Wissenschaften souverän missachtet. In der Tradition von Nietzsche wie Freud und als Zeitgenosse Adornos, Horkheimers, Szondis, Nonos und Heiner Müllers lädt Klaus Heinrich Leserinnen und Leser auf seine Grabungsfelder ein, auf denen der Streit der Fakultäten auf wunderbare Weise verstummt ist.
Wenn Klaus Heinrich – sich erinnernd – erzählt und rezitiert, assoziiert, entfaltet und verdichtet, dann werden einige der Stationen seines Lebens sichtbar, die in seinem Werk aktuell geblieben und im Sinne seines Leitmotivs (‚Nichts woran Sie sich erinnern können, ist vorbei‘) nicht vergessen sind. Geboren 1927 in Berlin wurde er im Alter von 15 Jahren als Luftwaffenhelfer eingezogen. 1943 überlebte er ein Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung und Defätismus. Ab dem Wintersemester 1945/46 studierte er an der unter sowjetischer Militäradministration stehenden Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden (ab 1948 Humboldt-Universität) Jura und Philosophie, Psychologie und Theologie, Kunst- und Literaturgeschichte. Dort wurde er nach einem improvisierten Vortrag zur Verteidigung Sartres gegen stalinistische Kritik denunziert, was ihn dazu veranlasste, 1948 im Westteil der Stadt als Student an der Gründung der Freien Universität mitzuwirken. Auf die Promotion in Philosophie 1952 folgte auf verschlungenen und hindernisreichen Wegen im Jahre 1964 die Habilitation mit dem Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. 1968 wurde Klaus Heinrich Direktor des Religionswissenschaftlichen Instituts, 1971 ordentlicher Professor für Religionswissenschaften auf religionsphilosophischer Grundlage. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1995 wurde er 1998 Ehrenmitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Im Jahre 2002 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Klaus Heinrich lebt in Berlin.
Unter dem Titel Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage entwickelt Klaus Heinrich eine materialistische Kritik der nicht zu ihrem Bewusstsein erwachten Gattung. Diese Kritik schließt Kunst und Architektur ebenso ein wie Mythologie, Philosophie, Religionen und vor allem die Psychoanalyse. In deren Stoffen, Figuren und Spuren versucht er sich durch Freilegung ihrer verdrängten Erfahrungsgehalte einer Totalität gewachsen zu zeigen, die er als Dialektik von dringender Selbstaufklärung und drohender Selbstzerstörung der Gattung begreift. Klaus Heinrichs Arbeiten, die man als eine materialistische Kritik sowohl logischer wie theologischer und ästhetischer Formen begreifen kann, erlauben es, diese Formen noch in ihrer abstraktesten Gestalt zugleich als sedimentierte geschichtliche Inhalte zu lesen, als prekäre Versuche, die Angst vor äußerer Bedrohung und innerer Zerrissenheit durch Verschiebung und Stillstellung abzuwehren und zu bewältigen.
Wir werden sowohl die bereits bei Stroemfeld erschienenen und teilweise vergriffenen Titel des Autors in unser Verlagsprogramm übernehmen, als auch die für die Zukunft vorgesehenen, neuen Veröffentlichungen vorantreiben, um das Werk von Klaus Heinrich einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Eine Liste der bereits erschienenen Titel findet sich auf unserer Webseite.
Im Herbst 2020 möchten wir die Ihnen vielleicht bereits bekannte Reihe Reden und kleine Schriften dann mit einer Neuen Folge fortsetzen. Der Band wird unter anderem den Essay Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt enthalten, in dem Klaus Heinrich die biblischen Ursprünge des christlich geprägten Judenhasses rekonstruiert. In der kommenden Ausgabe unserer Zeitschrift sans phrase (Heft 16) werden wir einen Nachruf auf Luigi Nono abdurcken, den er am 10. Mai 1990 während seiner Vorlesung zur Kritik an Heideggers Begriff des Ereignisses frei improvisierte. Für 2021 soll dann auch die Reihe der Dahlemer Vorlesungen in Neuer Folge fortgeführt werden. Beginnen werden wir mit der Erstveröffentlichung der Heidegger-Vorlesungen von Klaus Heinrich, die er im Sommersemester 1990 hielt: einer akribisch an Wort und Masche Heideggers orientierten Kritik des Erfinders jener Ereignisphilosophie, die damals wie heute als der philosophische Beitrag zur Einstimmung in die Katastrophe gelten kann und deren Methode Klaus Heinrich als fortgesetzte Täuschung und Verkehrung kenntlich macht: Entbergung der Verbergung, Ausbleiben der Epiphanie als Epiphanie, Unaufrichtigkeit des „Kultdieners“, der sich zum „Meditationsartisten“ emporarbeitet. Wir empfehlen die Vorlesungen schon heute auch zur Ergänzung von Winfried Meyers ‚was keineswegs einst war‘. Von der Leugnung der Realgeschichte in der deutschen Nachkriegsphilosophie – ein leider viel zu wenig beachtetes Buch, das 2006 bei uns erschien. Klaus Heinrichs Vorlesungen werden erfreulicherweise von Wolfgang Albrecht herausgegeben, der die Vorlesungen Heinrichs selbst jahrelang besuchte, Mitschnitte sammelte und aufbewahrte und schon früher neben Hans-Albrecht Kücken und anderen als Herausgeber der Schriften Klaus Heinrichs verantwortlich zeichnete. Till Gathmann übernimmt dankenswerterweise die gestalterische Leitung der Ausgabe.
Es ist uns unverständlich geblieben, warum das Werk Klaus Heinrichs bis heute nicht nur im – wie Klaus Heinrich sagen würde: enterotisierten – Wissenschaftsbetrieb der Universitäten, sondern auch von Ideologiekritikerinnen und Ideologiekritikern kaum rezipiert wurde. Namentlich seine berühmt gewordenen Dahlemer Vorlesungen zum transzendentalen und zum diesem widerstreitenden und widerstehenden ästhetischen Subjekt berühren unmittelbar wesentliche Fragen des Verhältnisses von Theorie und Kritik, von Ästhetik und Kritik und liefern einem an der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritischen Theorie orientierten Materialismus, der auf die Konstellation von Kritik und Krise hofft, wichtige und weiterführende Impulse. Wir sind entschlossen, dieser amnestischen Ignoranz innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs wie auch der Ideologiekritik mit unseren bescheidenen Mitteln als Verlag abzuhelfen.
In diesem Sinne: Ah! Ça ira!
ça ira-Verlag