Rezension: Das Ideal des Kaputten (Philosophie Magazin)
Alfred Sohn-Rethel
Das Ideal des Kaputten
»Technische Vorrichtungen sind in Neapel grundsätzlich kaputt: Nur ausnahmsweise und dank einem befremdlichen Zufall kommt auch Intaktes vor.« Mit dieser Beobachtung beginnt Alfred Sohn-Rethels Aufsatz »Das Ideal des Kaputten« von 1926. Der marxistische Nationalökonom hat darin eine frühe Philosophie des Hackens formuliert: »Beim Neapolitaner fängt das Funktionieren gerade erst da an, wo etwas kaputt ist.« Dann schreitet er zur Tat und bringt einen stotternden Motor mit einem aufgelesenen Holzstück wieder zum Laufen. Dem Neapolitaner sei der Erfindungsreichtum der Kinder und eine »bastelnde, geistesgegenwärtige Geschicklichkeit« eigen. Für ihn liege das Wesen der Technik im Funktionieren des Kaputten. Das habe einen guten, philosophischen Grund, behauptet Sohn-Rethel: Das Intakte kann nämlich als unheimlich erscheinen, »denn grade weil es von selber geht, kann man letztlich nie wissen, wie und wohin es gehen wird«.
Sohn-Rehtels Aufsatz ist jetzt in einer Sammlung von fünf essayistischen Erzählungen wieder veröffentlicht worden. Sie spielen zum Teil ebenfalls in Neapel oder auf dem Vesuv, andere berichten von außergewöhnlichen Begegnungen mit Tieren. Ein Esel versucht einen Stau. Ein Elefant nimmt auf einem Auto Platz. Zwei Ratten legen erstaunliche Intelligenz udn Kooperationsbereitschaft an den Tag. In einem Nachwort skizziert Herausgeber Carl Freytag den Austausch Sohn-Rethels mit Adorno, Benjamin, Bloch und Kracuauer, die er etwa in Positano traf.
Damals arbeitete er an einer »Grundlegung der theoretischen Ökonomie als strenger Wissenschaft durch die Beantwortung der Frage, wie überhaupt Gesellschaft möglich sei«. Ohne Technik ist Gesellschaft jedenfalls nicht möglich – es fragt sich nur welche Gesellschaft und welche Technik. »Eine Gesellschaft, deren Nexus der Warentausch ist, kann Ausbrüche und Exzesse ebenso wenig dulden wie Abweichungen«, schreibt Carl Freytag. Das galt früher. Im Silicon Valley herrscht dagegen ein Geist, der die neapolitanische Subversion des Intakten bastelnd und hackend schon längst gekapert hat.
Ulrich Gutmair
philosophie magazin, Nr. 2/2019