Rezension zu Binjamin Segel im Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte
Im Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte erschien eine Rezension zu Binjamin Segels »Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet« von Simon Sax:
»Die in einem geheimen Keller zu Basel versammelten Zionisten aus Litauen, Galizien und Rumänien haben folgendes beschlossen …« – sarkastisch leitet der jüdische Journalist Binjamin Segel (1866–1931) in seiner »Erledigung« (1924, 16 Kapitel exklusive Einleitung) eine pointierte und wohlbegründete Widerlegung der »Protokolle der Weisen von Zion« ein, jenes berüchtigten und bis heute folgenreichen Textes, der die jüdische Weltverschwörung propagiert. Als einer der »hervorragendsten jüdischen Publizisten« seiner Zeit (Nachruf, ›Gemeindeblatt Frankfurt am Main‹, April 1931) übt Segel scharfe Quellenkritik, etwa wenn er besonders auffällige Passagen der Protokolle akribisch analysiert (8. Kapitel) oder in einer umfangreichen Gegenüberstellung nachweist, dass ihr Verfasser aus der Schrift »Dialogue aux enfers« (1864) von Maurice Joly abgeschrieben hatte (9. Kapitel).
Dem angezeigten Buch sind zahlreiche Aspekte zur Kommunikationsgeschichte der »Protokolle« zu entnehmen, u.a. die Darstellung ihrer Resonanz in Medien wie der Londoner ›Times‹ und auf Versammlungen (z.B.
S. 137–140); die bereits enthaltenen Fiktion einer fremdgesteuerten »Lügenpresse«, hier »Judenpresse« (S. 156–157; 176); die Untersuchung der Äußerungen von Meinungsführern, die dieser Verschwörungstheorie das Wort redeten (u.a. Reventlow, Ford, Ludendorff, Rosenberg; 13. Kapitel); schließlich die Frage nach der Vorbildfunktion der »Protokolle« für Verfahrensweisen des Goebbelsschen Ministeriums (S. 249–257; vgl. Stein: Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion«, 2011 [1936]).
Freilich, Segel führt gegen die Unfähigkeit zu denken das Wort und die Ratio ins Feld. Des Widerspruchs ist er sich bewusst: »es ist zwecklos, gegen diese Art von Beweisführung anzukämpfen«, denn der Antisemitismus »flüchtet sich […] in das Gebiet des […] mystisch verbrämten Aberglaubens« (S. 482). Und dennoch fühlt Segel sich verpflichtet, der Verschwörungstheorie mit den Mitteln der Vernunft entgegenzutreten (z.B. S. 142). Damit steht er in der geistigen Tradition des »Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, in dessen Philo-Verlag sein Text 1924 zuerst erschien.
Es ist das große Verdienst Franziska Krahs, die »Erledigung« neu herausgegeben und sorgfältig editiert zu haben. Darüber hinaus rundet sie den Text mit einer biographischen Skizze Segels ab (S. 487–505) und bereichert die Journalismusgeschichte der Weimarer Republik um Erkenntnisse über einen ihrer Pro- tagonisten aus dem Umfeld der deutsch-jüdischen Presse: Segel schrieb u.a. für ›Ost und West‹, das ›Frankfurter Israelitische Familienblatt‹, ›Im deutschen Reich‹ und die ›C.V.- Zeitung‹. Zudem leitet Krah die »Erledigung« mit einem Überblick zur Geschichte der »Protokolle« ein (S. 7–29). Hier erfährt der Leser, dass der Text auch nach 1945 weltweit »ein sehr lebendiges Dokument geblieben« ist (S. 16). So bleibt die Betrachtung von Segel gültig: »Die Geschichte [hat] das Experiment« noch nicht abgeschlossen, »was man alles in einem aufgeklärten Zeitalter […] den Klassen zumuten darf« (S. 37).