»Aufhören!« Zum Tod von Joachim Bruhn

Initiative Sozialistisches Forum

»Aufhören!«

Zum Tod von Joachim Bruhn

Am 28. Februar dieses Jahres ist unser Freund und Genosse Joachim Bruhn gestorben. Er war zusammen mit Manfred Dahlmann, den wir kaum mehr als ein Jahr zuvor verloren hatten, bei der Gründung und Entwicklung der ISF und ihres Verlages in der Tradition des alten Instituts für Sozialforschung, die freilich vom Frankfurter WestEnd bis zum Hamburger Mittelweg 36 konsequent ignoriert wurden, maßgeblich beteiligt und blieb auch in den Jahren seiner schweren Krankheit für alle inspirierend, die mit ihm verbunden waren. Wo Freunde und Genossen in den alltäglichen Verrichtungen und Versuchungen von Beruf, Familie oder Wissenschaft zu versinken drohten, war er ihr leibhaftiges Gedächtnis und kraft dieses Gedächtnisses vermochte er wie kaum ein anderer, aus der Glut alter und neuer Texte das Feuer der Kritik im Sinne der fortdauernden Aktualität und Notwendigkeit des Kommunismus zu entfachen und für die Buchproduktion ebenso fruchtbar zu machen wie für die geistige Erfahrung und Entwicklung Einzelner im kaum übersehbaren Kreis der Autoren und Herausgeber, Setzer und Übersetzer, Schüler und Freunde, Helfer und Förderer des ça ira-Verlags. Mit ihnen telefonierte er täglich und fast bis zuletzt.

Diesem Vermögen wurde die Nachruferei und das Gerede vom »intellektuellen Agitator«, vom »Theoretiker« gar, dessen Denken »um eine Rekonstruktion der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie« soll »zentriert« gewesen sein, nicht nur nicht gerecht. (1) Sie reihen sich vielmehr ein in eine Serie von vergifteten Würdigungen, in welchen sich interessiertes Nichtverstehenwollen zu Lebzeiten nicht selten zum Nachtreten post mortem steigerte,(2) zur Rache des Gekränkten aus dem Hinterhalt des Überlebens. Dort wurde der Tod zum Anlass genommen, endlich einmal das zu sagen, was man immer schon einmal sagen wollte, aber zu Lebzeiten aus welchen Gründen auch immer zu sagen sich nicht traute. Denn nichts lag Joachim Bruhn ferner als »Theorie«, die er als rationalisierende Reproduktion kapitaler Synthesis im Geiste kritisierte, als kapitalproduktive Verdoppelung der unwirklichen Realität einer negativen Gesellschaft, die als begrifflich verfasste Totalität längst fugendicht mit sich vermittelt war und deren Wahrheit daher in eins mit ihrer Abschaffung fiele. Und der Begriff der »Rekonstruktion« war für ihn spätestens seit der Debatte in der Zeitschrift Prodomo vor zwölf Jahren Duftmarke und Keyword jenes Marxismus-Akademismus, der seinen »Gegenstand für Kolloquien zuschneidet« und in welchem »jedes Argument nur zugleich die Schauseite eines Bewerbungsschreibens, daher die untertänigste Bitte um Verbeamtung« ist. (3) Darum, resümierte Joachim Bruhn den traurigen Befund, »kommen auf hundert Rekonstruktionen, wenn es gut geht, vielleicht zwei Kritiken.« (4)

Aber der tendenzielle Fall der Vernunftrate, wie er Vergleichbares mit gebrochenem Humor genannt hatte, kulminiert in der »Kritikvergessenheit« ehemaliger Kritiker. Vor einer solchen warnte ein tüchtiger Absolvent des seit 35 Jahren kostenlosen ISF-Repetitoriums und heute arrivierter Soziologieprofessor in seiner Antrittsvorlesung ebenso wie vor dem anderen Extrem, das er »Kritikversessenheit« nannte. Die Einladung des Soziologen zum langen Marsch auf dem akademischen Mittelweg kam aber zu spät, steht doch allenthalben nichts als der kritikabstinente Rückfall in Politik auf der Agenda, wo das Sauve qui peut! jeden überschießenden Gedanken an Subversion und Aufstand abgelöst und das Interesse längst jeden Riss und jede Fuge der Wahrnehmung gegen die »exakte Phantasie des Dissentierenden« (Adorno) abgedichtet hat.

Das Interesse aber »hat kein Gedächtnis, denn es denkt nur an sich. Das eine, worauf es ihm ankommt, sich selbst, vergißt es nicht. Auf Widersprüche […] kommt es ihm nicht an, denn mit sich selbst gerät es nicht in Widersprüche. Es ist ein beständiger Improvisator, denn es hat kein System, aber es hat Auskunftsmittel.« Vielleicht würde Joachim Bruhn bestimmten Nachrufern diesen Satz aus Karl Marx’ Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz entgegenschleudern, könnte und müsste er diesen Abgrund an Kritikverrat noch erleiden. Dann würde er mit bitterer Ironie die Improvisationsgabe des einen oder der anderen Überlebenden loben, die mit wenigen »Auskunftsmitteln« ihr Interesse an der Umdeutung des Lebenswerks eines toten Kritikers verraten, dem es gewiss nicht um eine vermeintliche Kontinuität von Aufklärung, die »Verknüpfung« (5) von Praxis mit Theorie oder die Verteidigung leviathanischer Souveränität gegen »das Schlimmere« zu tun war. In solchen Motiven spricht sich vielmehr das ontologische Sicherungs- und politisierende Selbstbehauptungsinteresse ehemaliger Kritiker aus, die nun endlich in jener Nacht angekommen sind, in der der große Deutsche Heinrich Faust sprach: »Was du ererbt von deinem Vater hast, / Erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.«

Dass sich in allen Nachrufen, auch den bösartigen und dümmsten, gleichwohl Richtiges findet, vermag den niederschmetternden Befund nicht zu ändern, dass aus dem kollektiven Kritiker nichts wurde. Der Tod des ehemaligen Genossen mobilisierte nur das Verdunkelungsinteresse von Clanführern der Szene und ihren Adjutanten oder auch von gekränkten Einzelnen, die alle schon lange kalkuliert hatten, dass vom Toten nicht mehr viel zu holen sei, nachdem man selbst Vater, Professor oder sonst realitätstüchtig geworden war, radikale Kritik aber all das ins Wanken brächte, was sich der Ex-Kritiker mittlerweile zwecks Erhaltung und Steigerung seiner Produktivität und Resilienz mühsam zurechtgelegt hat. In den meisten Abschiedsworten, Kondolenzadressen und Trauerpostings konkretisierte sich mithin vor allem der Drang zu rastlos netzwerkelnder Kommunikation und die Fähigkeit der diesmal eher Schwarz tragenden Diskursteilnehmer, durch die weit ausgreifende Montage von Wahrheitsfragmenten, Meinungsbruchstücken und Gefühlstriggern zuerst Aufmerksamkeit, Rapport und falsche Vertraulichkeit zu erzeugen und sodann ebenso autoritär wie durchtrieben Follower für den Anschluss an die je eigene Bande anzuwerben, in diesem Fall so geschwätzig, hemmungslos und teilweise niederträchtig, als wäre nichts geschehen und der Verstorbene gar nicht tot.

So vertraut ist den Postkritikern das Jonglieren mit Begriffen geworden und so gründlich haben sie sich alle Einsichten, die einmal den revolutionären Bruch mit Kapital und Staat und mit ihm die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft (6) geistig antizipieren sollten, abgewöhnt und abmakeln lassen, dass sich im selben Text desselben Autors Widersprüche und Gegensätze herumtollen, als wären sie allesamt Gäste in einer Talkshow, in der alles stimmt und auch wieder nicht stimmt, nichts einfach nur da und wahr sein kann und alles gesagt werden darf, weil es auf nichts und niemanden ankommt und weil gerade darum alles meist wie geschmiert läuft, weitergeht und niemals aufzuhören scheint. »Postmoderne ist immer dann«, zitierte Joachim Bruhn seit den 80er Jahren gerne Terry Eagleton, »wenn man nicht mehr mit dem unbedingten Anspruch auf Wahrheit wissen könne, ob man einem Verhungernden das Brot gibt oder ihn an den Fußsohlen kitzelt.« Seit den Nullerjahren zitierte er lieber Robert Mitchum alias Jeff Bailey, den er seit Out of the Past für den größten Philosophen der Gegenwart hielt: »Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage«.

Die überlegene Gleichgültigkeit gegenüber dem Hungernden ebenso wie die treulose Gleichgültigkeit gegenüber dem einmal Erkannten und den notwendigen Bestimmungen einer negativen Wahrheit, die objektiv, aber niemals plausibel ist, sondern der distanzierenden und leidvollen Anstrengung des Begriffs auch gegen den Denkenden selbst bedarf, hören auf den Begriff der »Antinomie«. Sie ist die objektive Gedankenform, die alles Gerede, jeglichen Diskurs und auch das beste Argument zum Roh-, Hilfs- oder Betriebsstoff kapitaler Synthesis bestimmt, die Wertform des Urteilens in den Grenzen des Verstandes, der sich bei Strafe, seiner Ohnmächtigkeit inne zu werden, jeden Tag erneut der Erfahrung und Verzweiflung verschließen muss, dass ein jegliches Urteil sein kontradiktorisches nicht nur zulässt, sondern herausfordert. Joachim Bruhn hat in seinen letzten Texten und Vorträgen immer wieder gezeigt, dass in den Antinomien des politökonomischen Diskurses, welchen Begriff er meist mit einer leisen Spott anzeigenden Veränderung der Tonlage aussprach, die verdrängte Urszene kapitaler Verungesellschaftung wiederkehrt, der unversöhnbare und vermittlungslose Gegensatz im Kampf auf Leben und Tod zwischen Herr und Knecht, der zuletzt in der ursprünglichen Akkumulation seit dem 14. Jahrhundert epochal wurde. (7) Im vermittlungslosen Abgrund zwischen Herr und Knecht entstand jenes begrifflich verfasste, spiralförmig prozessierende und von seiner Tendenz- und Nullzeit als seinem inneren Sinn machtvoll hinangezogene bewegt bewegende Nichts, das sich im Geld und den Staatsorganen zum Paradox unmittelbarer Allgemeinheit erhoben und verdinglicht hat und als automatisches Subjekt Kapital den keineswegs überwundenen Gegensatz von Herr und Knecht in seiner antinomischen Selbstdarstellung unaufhörlich als chronische Aporie und aufgeschobene Krise zugleich verbirgt und erhält. Sei es der Streit zwischen objektiver und subjektiver, am Golde hängender oder bloß zum Zeichen drängender Geldtheorie, sei es das schizoide Ringen des egoistischen Bourgeois mit dem selbstlosen Staatsbürger in sich, der Kampf der zwei Herzen also, der schon bei Hegel gemäß den §§ 321 ff. der Grundlinien der Philosophie des Rechts und dann in Joachim Bruhns Hegel- und Marxkritik erst im Opfertod des Soldaten zum Stillstand kommt, oder sei es die niemals zu beantwortende Frage, ob man den Staat als ans Recht gebundenen oder doch zu bindenden päppeln oder gar als den das Recht erst setzenden sterblichen und seine Staatskinder schützenden Gott anhimmeln oder am Ende seinen Gestellungsbefehl dann doch wieder fürchten und lediglich als Nachtwächterstaat ertragen soll, der aus der Perspektive des Kritikers und als Rechtsstaat immerhin bis auf Weiteres die Voraussetzungen für öffentlich geäußerte Kritik sichert: immer gilt, dass weder das Entweder-Oder noch das Sowohl-als-Auch gelten kann, und immer haben beide recht und also keiner.

Wo aber alle recht haben und also keiner, sagt Joachim Bruhn in vielen seiner Texte und Vorträge, da muss die Frage nach der Konstitution des Entscheidungszwangs gestellt, allgemein die Wahrheit nach 2500 Jahren Philosophie nicht als Abbildungs-, sondern als Konstitutionsproblem gefasst, also jede einzelne Frage auf ihre verschwiegenen Voraussetzungen hin befragt und am Ende gezeigt werden, warum und inwiefern erst jenseits der Horizontlinie des Verstandes, also dort, wo der deutsche Idealismus seit Kant die Vernunft lokalisierte, die einzig wahre Frage gestellt werden könnte: wie lange die im Selbstwiderspruch der einstweilen nur möglichen Gattung taumelnden Menschen ihre geschichtsbildende Potenz noch im täglichen Opferdienst am Kapital ersticken, die aufgespeicherte Todesfurcht des Knechts tagtäglich in Arbeit verwandeln und das dahindämmernde Bewusstsein von Freiheit als die Laienpriester des Kapitals latent schizophren in das Tabernakel seiner disparaten Sachzwänge verschieben, kurz: wie lange sie noch Ausbeutung und Herrschaft als den unmöglichen Normal- und Naturzustand der falschen Gesellschaft rationalisieren und ertragen wollen.

Wird die Konstitutionsfrage allerdings nicht mehr gestellt, dann regrediert Kritik auf Politik, der sie doch einst mühsam entkam. Und entdeckt der ehemalige Kritiker das fröhliche Oszillieren zwischen den Antinomien und den gleichberechtigten Gegensätzen des Politischen zunächst verschwiegen als sein neues Vergnügen, sodann ständige Entscheiderei inmitten des Zwangsgefüges als die reife Gestalt von Verantwortung, am Ende ungetrübte Funktionslust gar als Beruf und Berufung, dann kommt es auch nicht mehr darauf an, ob man in die systematischen Paradoxa der vom Kapital gestifteten Antinomie noch ein paar kontingente Unverschämtheiten einstreut, um das je akute politische Interesse zu befördern. Die Kehrseite der Verzweiflung an den Aporien des Verstandes ist eben geistige Verwahrlosung am Abgrund des Kritikverrates, der freilich vor allen Gerichtshöfen der Postmoderne immer mit Freispruch rechnen darf. So findet sich der Kritiker unversehens auf dem Boden der Realität wieder, den er sogleich verteidigt, so wie man Haus und Hof eben verteidigt: autoritär, aggressiv und laut. Einen solchen Boden bietet die Redaktion der Bahamas, wo Mitarbeiter des ça ira-Verlags und Joachim Bruhns Freunde und Genossen als »Diskursgauner« oder »Frontschwein« beschimpft werden und im Zenit der dort möglichen Kritik an der sans phrase ein Boykottaufruf von Clemens Nachtmann stand, (8) die nun nach dem Tod von Manfred Dahlmann, Moishe Postone, Wolfgang Pohrt und Joachim Bruhn als »Periodikum, das es mit den Toten hält« (9), qualifiziert wird.

Als wären, wenn denn der Vorwurf zuträfe, die Werke der genannten Toten und der lange vor ihnen Verstorbenen wie Sigmund Freud, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Alfred Sohn-Rethel, Jean Améry und anderer nicht Grund genug, es in eines abwesenden Gottes Namen spätestens dann mit den Toten zu halten, wenn die Lebenden nur noch das Recht fetischisieren, die Kritik des Völkerrechts relativieren, die Illusion lieben, Souveränität loben (10) und summa summarum, um zur wirklichen Sozialdemokratie zu taugen, einfach »den ganzen Ballast einer missglückten linken Geschichte abwerfen« wollen, welche Parole jüngst ein quicklebendiger Autor im Umkreis der Bahamas an seine Mitlebenden ausgab. (11)

Joachim Bruhn war aber kein Theoretiker, auch kein »intellektueller Agitator« (12), und er war auch kein Praktiker und daher von Politik denkbar weit entfernt. Dass sich unsachlich verhalte, wer sich zum Kapital nicht polemisch verhält, war nicht sein »Motto«, sondern das Urteil, das alle seine kritischen Interventionen begleitete und ihn vor der Versuchung bewahrte, jemals Politik mit Begriffen zu machen. »Verbindlich« war er nur gegenüber seinen Freunden. Er war auch kein »Aufklärer« im allgemeinen Sprachgebrauch, der zwischen Philosophie und Epoche nicht unterscheidet und das Scheitern einer Versöhnung von Logik und Geschichte schon bei Hegel nicht in sich aufgenommen hat. Nach Auschwitz stellte sich ihm Geschichte niemals als Großraum und strategisches Feld in der Weise dar, dass gewonnenes Terrain zu verteidigen, an Glücksversprechen zu erinnern und Schlimmeres zu verhindern sei. Gegen die Lichtmetaphorik im Begriff der Aufklärung ließ seine geistige Physiognomie eher an Friedrich Spee denken. Der rief auf dem Weg zum Richtplatz, wohin er als ihr geistlicher Beistand die Verurteilten begleitete, den Heiland an, er möge endlich den Himmel aufreißen, damit zuallererst das Licht eindringe, ohne welches Aufklärung gar nichts beleuchten kann. Wo die »organische Zusammensetzung des Menschen« (Adorno) so angewachsen ist, dass keine Lücke im Sein (Sartre) mehr aufgefunden werden kann, da wird eben alles dunkel geblieben sein. Auch Adorno ersehnte daher dieses Offene, es war ihm gar das »Telos der Philosophie«. (13) Freilich hoffte Joachim Bruhn als Materialist nicht auf den Heiland und auch nicht auf ›das Ereignis‹ einer heideggerisierenden Postmoderne, sondern auf eine Konstellation von Kritik und Krise, in der es den Menschen, wie er manchmal sagte, »wie Schuppen von den Augen fiele« und sie im Kairos einer ganz anderen und nicht gekannten Ruhe vor dem Sturm die Weltrevolution fast wie selbstverständlich zu vollbringen vermöchten. Von einer solchen Evidenz der Vernunft im Aufgang einer anderen Synthesis ist der profane Kritiker auf unabsehbare Zeit leidvoll getrennt. Nach dem Tod Gottes, dem Bankrott der sozialdemokratisierten Arbeiterklasse und dem Bruch mit den Vätern nach Auschwitz bleibt ihm daher nur noch ein Programm der Abschaffungen (Karl Korsch), also die Freilegung und Räumung des ideologischen Terrains von allen Lügen und Fetischen an jedem Ort durch Kritik, deren Aufgabe nicht die Widerlegung, sondern die Zerstörung des verkehrten Gegenstandes und die Stellung der Lügner ist, die ihn lügend erhalten.

Das unbedingte Einstehen für Israel als den ungleichzeitigen Staat der Überlebenden und der als Juden Verfolgten war für Joachim Bruhn der Glutkern der Kritik. Es ist der Doppelcharakter des jüdischen Staates als verspätetes Resultat der zionistischen Emanzipationsbewegung der Juden und ihrer staatlich organisierten Notwehr gegen die Fortsetzung der Endlösung, welche den kategorischen Imperativ nach Auschwitz mit dem Marxschen verschränkt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Denn Auschwitz ist als gleichsam »transzendentaler Horizont über jeder jetzt überhaupt nur noch möglichen Geschichte der Menschheit« (14) zu begreifen. Gelingt es den erniedrigten, geknechteten, verlassenen und verächtlichen Menschen nicht, »ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«, Hitlers politisches Testament vom 29. April 1945 also nicht doch noch vollstreckt werde, können Revolution und Geschichte schlechterdings nicht mehr gedacht werden. Der kategorische Imperativ nach Auschwitz bedeutet aber, will man ihn nicht in die Antinomien instrumenteller Rationalität und strategischen Denkens und also in Politik zurückbiegen, nichts anderes, als die Kritik der politischen Ökonomie zu ihrer revolutionären Konsequenz so radikal zu entfalten, dass sie mit der Israel geschuldeten bedingungslosen Solidarität zwanglos konvergiert und darüber hinaus Israelfähnchen nicht geschwenkt werden müssen. (15) Davon war Joachim Bruhn überzeugt, weil er im Nationalsozialismus und der Selbstrassifizierung der deutschen Bevölkerung, das heißt in der »Transformation des Proletariats in nichts als Pöbel und der Transformation der Bourgeoisie in nichts als Gesindel«, zum mit dem Führer als dem unmittelbaren allgemeinen Deutschen verschmolzenem Volk eben nicht den ›Rückfall‹ in vorkapitalistische Barbarei erkannte, sondern ein spezifisches und in gewisser Hinsicht progressives »gesellschaftliches Produktionsverhältnis im strikten Sinn« (16) und damit den Springpunkt der Kritik der politischen Ökonomie. Es war der »›Triumph der repressiven Egalität‹, das heißt die Entfaltung und Radikalisierung eben der ›Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen‹, der Versuch des Subjekts, die negative Wahrheit der repressiven Vergleichung, die in der Subjektform bereits als quasinatürliche gesetzt ist, auch praktisch zu vollstrecken, um schließlich als ›hundertprozentige Rasse‹ sich zu reorganisieren.« (17) Für eine Ontologisierung des Westens, zu der Antideutsche bereits früh neigten, war Joachim Bruhn daher niemals zu haben. Er konnte auch nicht nachvollziehen, wie sich die Kritik der politischen Ökonomie am Ende gar in einem Lob der Souveränität und einer Liebe zum Abendland verlieren konnte. Er zog es vor, mit Adorno daran zu erinnern, dass Hitler »wie kein anderer Bürger das Unwahre im Liberalismus durchschaute«, dass der Nazismus daher die vollendete Selbstkritik des Liberalismus darstellte (18) und das Produktionsverhältnis des Nationalsozialismus als kapitalentsprungenes nicht im Jenseits, in einem imaginären Anderen des Kapitals zu verorten war, sondern seine Fluchtlinie ins Nichts beschreibt und im Vernichtungskrieg gegen die Juden vollzieht.

Zu den Lieblingstexten von Joachim Bruhn – wenn man das nach dem Tod des Vielbelesenen so beschaulich sagen kann – gehörten neben Adornos Minima Moralia, Lenins Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (19) und Marx’ Artikel über die Debatten zum Holzdiebstahlsgesetz, ein früher Aufsatz von Hegel Über das Wesen der philosophischen Kritik und das ebenfalls Hegel zugeschriebene Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Aus Hegels Reflexionen über das Wesen der Kritik gewann Joachim Bruhn schon früh die Einsicht, dass das objektiv-idealistische Programm einer immanenten Kritik dann überschritten werden müsse, wenn der Gegenstand, also die negative Synthesis durch den Wert widervernünftig und daher in seinen Paradoxa, Aporien und Verrücktheiten für immanente Kritik notwendig unerreichbar sei. »Das Geschäft der Kritik ist für diejenigen und an denjenigen Werken durchaus verloren, welche jener Idee entbehren sollten«, sagt Hegel. (20) Wenn »keine Vernunft in der Geschichte« sei, extrapoliert Joachim Bruhn den Gedanken Hegels, dann könne sich die Kritik kein anderes unmittelbares Verhältnis geben als das rein polemische, kriegerische der Verwerfung. Im Epizentrum einer solchen Konstellation würde Voluntarismus vernünftig, Vernunft evident und die von Joachim Bruhn immer wieder aufgeworfene Frage drängend, warum die evident vernünftige Tat von Johann Georg Elser in keiner philosophisch-kritischen Untersuchung, auch nicht bei Adorno, auch nur als Fußnote vorkommt. Es kommt darauf an, dieser Frage als der nach dem Verhältnis von diskursiver Kritik und intuitivem Impuls im Innersten negativer Dialektik, dem gewissermaßen existenzialistischem Moment der Kritik und der Unbedingtheit des kategorischen Imperativs weiter nachzudenken, welche Unbedingtheit Joachim Bruhn wie kein anderer vertrat und in Sprache und Gestus verkörperte.

Im ältesten Systemprogramm findet sich eine Stelle, in der vielleicht die Kraft und geistige Physiognomie von Joachim Bruhn besonders deutlich und gegenwärtig wird, wie sehr bei ihm der polemische Zorn und der ihn immer grundierende Gestus der Verzweiflung vom Begriff gesättigt und der Begriff selbst fast schon gestisch geworden war. Hegel schreibt: »Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.« (21)

Immer resümierte Joachim Bruhn, zuletzt eher müde als leidenschaftlich, meist aber zorniger als müde, all das, was er jemals tat, dachte und schrieb in diesem Imperativ: Der Staat und das Kapital sollen aufhören!

Initiative Sozialistisches Forum, April 2019

 

Anmerkungen
1 Zitiert wurde Clemens Nachtmann: Militanter Aufklärer. Ein Nachruf auf Joachim Bruhn. In: Jungle World, Nr. 10, 2019 vom 7.3.2019. Online verfügbar unter: www.jungle.world/artikel/2019/10/militanter-aufklaerer.

2 So zum Beispiel Martin Halter, der sein Ressentiment gekonnt mit wenig subtilen Dumm- und Bosheiten zu legieren verstand und es sich nicht verkneifen wollte, Joachim Bruhn als »Seminarmarxisten« mit »hohen moralischen Ansprüchen« zu denunzieren, welche der »Hardcore-Theoretiker« offenbar aus seiner Wohnung »in Weingarten« heraus geltend machte, wo er nicht etwa wohnte, sondern »hauste«. In: Revolution ist notwendig, also möglich. Leidenschaftliche Kritik: Zum Tod des linken Freiburger Publizisten und Mitbegründers des ça ira Verlags Joachim Bruhn. In: Badische Zeitung, 9.3.2019.

3 Siehe vor allem: Joachim Bruhn: Studentenfutter. Über die Transformation der materialistischen Kritik in akademischen Marxismus. Antwort auf Ingo Elbe. In: Prodomo, Nr. 6, 2007, S. 24-32. Online verfügbar unter www.prodomo-online.org/uploads/tx_news/studentenfutter.pdf.

4 Joachim Bruhn: Adornos Messer. Über die materialistische Kritik der politischen Ökonomie und die theoretische Praxis der linken Intellektuellen. In: Risse. Analyse und Subversion, Nr. 4, Frühjahr 2003. Online verfügbar unter: www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-adorno.

5 So in einem halbprivaten Nachruf, der bei der Trauerfeier am 16.3.2019 verlesen wurde.

6 Wem dieser Begriff altmodisch, überholt, lächerlich, gar pubertär (»Wer mit 20 Jahren kein Kommunist ist …«) vorkommt, möge hier die Lektüre abbrechen, sich am Freiburger Institut für Soziologie und Anti-Aging unter
Jugendliche mischen und daselbst wissenschaftlich updaten, z. B. in einem Seminar über »Diskurstheorie und Diskursforschung«.

7 Vgl. exemplarisch Joachim Bruhn: Echtzeit des Kapitals, Gewalt des Souveräns. Deutschlands Zukunft in der Krise. In der soeben erschienen Neuauflage von Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg 2019, S. 197-243; Adolf Hitler, der unmittelbar allgemeine Deutsche. Über die negative Dialektik der Souveränität. Vortrag gehalten am 30.1.2013 in Freiburg. Online hörbar unter: www.youtube.com/watch?v=rWx5VofwDj0.

8 Weil ihm ein Artikel in der sans phrase missfiel, schrieb Clemens Nachtmann: »Zu hoffen bleibt da angesichts der unerfreulichen Gesamtsituation nur, dass die Leserinnen und Leser der ›sans phrase‹ sich eine derartige
Entgleisung nicht bieten lassen und beim nächsten Mal, wenn sie vor die Wahl gestellt sind, ein Exemplar dieser Zeitschrift zu erwerben, eine freie Entscheidung treffen.« Online abrufbar unter: www.redaktion-bahamas.org/
aktuell/20131218Druckfrisch-aus-Wien-Phrase-2.html.

9 Redaktion Bahamas in: Bahamas, Nr. 81, S. 79.

10 Für all das wirbt Jan-Georg Gerber, ebd., S. 45 ff.

11 Rajko Eichkamp. Online abrufbar unter: www.platypus1917.org/2018/06/22/den-ganzen-ballast-einer-missgluckten-geschichte-abwerfen.

12 Die nachfolgenden Zitate stammen aus dem bereits erwähnten Nachruf Clemens Nachtmanns.

13 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1997, S. 31.

14 Joachim Bruhn: »Nichts gelernt und nichts vergessen«. Ein Schema zur Geschichte des Antizionismus in Deutschland. In: Joachim Bruhn: Was deutsch ist, a.a.O., S. 246.

15 Vgl. hierzu einen Aufsatz von Joachim Bruhn aus dem Jahre 2003, der vieles vorwegnimmt, was heute innerhalb antideutscher und ideologiekritischer Kreise als Bruch kenntlich geworden ist: Kritik, Polemik, Dampframme.
Kurze Replik auf Justus Wertmüller. In: T-34. Antifa Duisburg (Hg.): Informationen für das westliche Ruhrgebiet. Online verfügbar unter: www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-dampframme.pdf.

16 Joachim Bruhn: Echtzeit des Kapitals, Gewalt des Souveräns. Deutschlands Zukunft in der Krise, a.a.O., S. 198.

17 Ebd. S. 222.

18 Ebd. S. 223.

19 Dort fand Joachim Bruhn »das Telos der ›freien Assoziation‹ aus Weitling, Fourier, Buonarotti et al.« In: Über die Transformation der materialistischen Kritik in akademischen Marxismus. Antwort auf Ingo Elbe, a.a.O.

20 Georg W. Hegel: Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere. In: Ders.: Werke, Bd. 2., Frankfurt am Main 2003, S. 173.

21 Ders.: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. (1796 oder 1797). In: Ders.: Werke, Bd. 1, a.a.O., S. 234 f.