Initiative Sozialistisches Forum – Staatskapitalismus – das Trauma der Revolution
Initiative Sozialistisches Forum
Staatskapitalismus – das Trauma der Revolution
Was die französische Revolution für das Bürgertum, das ist die russische für die Linke: Ideal und Schreckbild zugleich. Für die einen ist sie der verwirklichte Traum von einer erfolgreichen sozialistischen Eroberung der Macht, für die anderen zeigt sich in ihr der praktisch vollzogene Verlust des Willens zur Emanzipation. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das revolutionäre Russland proklamierte gegen diese abstrakten Menschenrechte der Besitzbürger die praktischen Rechte der Produzenten: Land, Brot, Arbeit, Frieden. Und wollte auf diesem Wege die unerfüllt gebliebenen Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft wirklich einlösen.
Wie jede bloß politische Revolution erlag auch die russische der fatalen Dialektik der Macht. Schon der Jakobinismus war genötigt, die Humanität der Parole von ,Liberté, Egalité, Fraternité‘ in den Zynismus von Infanterie, Kavallerie und Artillerie zu übersetzen. Dies nicht aus purer Böswilligkeit: In Politik transformiert und als Staatlichkeit auf den Begriff gebracht, naturalisiert nicht nur das humanistische Ideal von einer natürlich gegebenen Gleichheit den konkreten Menschen zwangsläufig zum bloßen Material und Rohstoff für Herrschaft – jedes abstrakte Ideal ist die Währung für das, was in der Münze konkreter Repression in Umlauf gebracht wird. Und so haben weder die französische, noch die russische Revolution das Individuum befreit: Sie haben die Menschen vielmehr zu Staatsbürgern geformt.
In der auf die modernen ,Großen Revolutionen‘ folgenden terroristischen Gleichschaltung offenbart sich die gesellschaftliche Wahrheit jeder Utopie von allgemeiner Gleichheit (egal, ob nun die auf dem Markt, die vor dem Gesetz, oder eine vor der Natur gemeint sein soll): Allgemeine Gleichheit kann immer nur gelten ,ohne Ansehen der Person‘. Und wie das Ideal allgemeiner Gleichheit sich nur in Form von Gleich-Schaltung politisch verwirklichen (und staatlich garantieren) lässt, so kann aus der praktischen Realisierung der Forderung nach allgemeinen Freiheitsrechten nicht die Freiheit des einzelnen Menschen resultieren. Was als Freiheit vom Gewerbe eingeklagt wurde, erwies sich sehr schnell als der in der Folge der bürgerlichen Revolutionen institutionalisierte Zwang, überhaupt ein Gewerbe, und gleichgültig welches, ausüben zu müssen. Gesellschaftlich dechiffriert liest sich die Erklärung der Menschenrechte als die gewaltsam garantierte Verpflichtung zur kapitalistischen Produktion.
Die Revolution war liquidiert, als die Revolutionäre an die Macht kamen. Wie Robespierre und St. Just in Frankreich, so erging es Lenin und Trotzki in Russland. Die Revolution gegen den Staat transformierte sich in eine bloße Regierungsübernahme; angetreten, Souveränität zu zerstören, konnten die Bolschewiki sich nur behaupten, indem sie Souveränität intensivierten. Unter dem historischen Zwang, die Einheit der staatlichen Gewalt zu erhalten, oder aber die eroberte Macht an die Weißen abgeben zu müssen, organisierte die Sowjetmacht nicht die Befreiung von der Arbeit, sondern den Arbeitszwang. Das sozialistische Ideal der gesellschaftlichen Gleichheit aller vor dem naturgegebenen Zwang, sein Leben reproduzieren zu müssen, erwies sich, zur Politik erhoben, als die Naturalisierung des Menschen zum lebendigen Behälter von Arbeitskraft. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ – die sozialistische Kritik am Lotterleben und Müßiggang, am erpressten Zinseszinsleben der parasitären Kapitalisten erwies sich im Gefolge der russischen Revolution als Fortsetzung des Kapitalismus mit anderen Mitteln.
Der Begriff der Souveränität kommt, sei es als ein psychologischer, im Individuum verankerter, oder als ein gesellschaftlicher, von der Verkehrsform der Menschen untereinander erzeugter, im Theoriegebäude des Marxismus-Leninismus nicht vor. Indem die Leninisten in Russland zur Eroberung der politischen Macht antraten, taten sie etwas, was sie von ihrer Theorie her gar nicht hätten tun dürfen. Bis mindestens zum April 1917 war es auch für alle bolschewistischen Sozialdemokraten noch eine Selbstverständlichkeit, dass die Rolle des Geburtshelfers der kommunistischen Gesellschaft nur in den weiter entwickelten kapitalistischen Staaten des Westens sinnvoll auszufüllen war. Was theoretisch als siegreiche List der Vernunft erscheinen könnte, erweist sich historisch als Bankrotterklärung. Schon in der von ihnen gewählten Form des Aufstandes erlagen die Bolschewiki der bürgerlichen Ideologie, dass, wer das Sagen hat, auch den Gebrauch und die Verwendung der Macht zu bestimmen vermag. Für die Bolschewiki wie für jeden anderen Bürger handelt politisch erfolgreich der, der mit dem geringstmöglichen Aufwand an eingesetzten Mitteln ein Höchstmaß an Ertrag realisiert. Die Formel der Macht wurde als Multiplikation des Willens zur Macht mit den zu ihrer Eroberung nötigen Gewaltmitteln kalkuliert – wie auch der Sozialismus als einfache Addition von Sowjetmacht plus Stromerzeugung berechnet wurde. Der Versuch, die Menschen von ihrer Bestimmung, Charaktermasken des Kapitals werden zu müssen, zu befreien, mündete mit der Institutionalisierung der Sowjetmacht ein in ihre Formierung zu Handlangern sich verbürokratisierender Souveränität.
Die Diktatur des Proletariats wurde zu einer Diktatur der Partei über das Proletariat – und zerstörte so die sozialen Gehalte der Revolution. Die Partei gibt vor, den Staat als das Exekutivbüro der arbeitenden Klassen zu organisieren – und je besser ihr dies gelingt, umso mehr organisiert sie darin gleichzeitig die Diktatur der abstrakten Arbeit über die empirischen Produzenten. Der Arbeiter galt auch ,drüben‘ nur als die leibliche Verkörperung von Arbeit, einer Arbeit, die in ihrer Abstraktion von jeder qualitativ bestimmten Tätigkeit zu etwas anderem als dem, Quelle von Kapital und Profit zu sein, gar nicht dienen kann. Das Missverständnis bezüglich dieser Grundlage kapitalistischer Produktion führte zur Kapitulation vor den Gesetzen kapitalistischer Vergesellschaftung: in der Ökonomie wie in der Politik. Die praktisch-politische Probe auf die These, die Macht ließe sich zu ihrer eigenen Abschaffung missbrauchen, führte zu nichts anderem als zu ihrer Potenzierung. Der Souverän lässt sich nicht ungestraft zum bloßen Notar oder Sekretär erniedrigen. Ebenso wie die These, kapitalistische Vergesellschaftung führe durch eigene Logik zu ihrem Gegenteil, also zum Kommunismus, praktisch gewendet, nicht zum Kommunismus, sondern in die Barbarei eines sich aus sich selbst reproduzierenden Systems führt, genauso resultiert aus einer theoretischen Erniedrigung des Souveräns dessen praktische Inkarnation zum neuen Gott: und sei es als ,Die Partei‘.
Die Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus ist juristisch – nicht kritisch. Die Enteignung des Kapitalisten soll zur Liquidation des Kapitalismus führen. Die Besitzübertragung an den Staat als dem Gesamtproletarier soll den Charakter der Produktion fundamental ändern. Aber das Enteignungsdekret befiehlt nur die Ausweitung der Fabrik auf die Gesamtgesellschaft. Die Revolution gegen die Kapitalisten ist eine Revolution fürs Kapital. Im marxistisch-leninistischen Sinne hat sie nie mehr bedeutet als eine Revolution für die Entfaltung des durch die bürgerlich-egoistischen Interessen bloß verdeckten wahren Wesen des Staates als dem natürlichen Repräsentanten einer vom Prinzip her als vernünftig angesehenen Planung. Und Revolution ist auch den Leninisten heute nichts weiter als ein Aufstand gegen den Markt als dem schlechten Schein und für die Fabrik als dem guten Wesen.
Das Wesen des Staates ist, wie das der Fabrik, die rational-abstrakte Verplanung des empirisch Konkreten für etwas abstrakt Allgemeines. Nur weil die bourgeoisen Interessen den Plan-Staat zu ihrem Vorteil monopolisieren, ihn zum Exekutivausschuss ihrer Herrschaft verfremden und gegen die objektiven sozialen Bedürfnisse okkupiert halten, ergibt sich dem Leninisten die Notwendigkeit zur Revolution. Was der Bolschewismus unter Ökonomie versteht, zeigt Lenins Wort vom Kapitalisten als einem für den Fortgang der Produktion eigentlich überflüssigen Couponschneider. Die Ökonomie ist den Leninisten nicht mehr als der nicht weiter hintergehbare Ort der Aneignung von Natur. Ihrem Wesen nach sei Ökonomie Arbeit und daher Formung der Natur für die Befriedigung von Bedürfnissen. Im Kapitalismus werde das Wesen von der Oberfläche noch verdeckt. Solange noch der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung bestehe, würden die Güter zwar als Gebrauchswerte hergestellt, auf dem Markt jedoch als Waren, als Tauschwerte gehandelt. Verantwortlich dafür, dass das Produkt sich zur Ware verfremde, sei also nicht die Arbeit selbst, sondern der Rechtstitel des Kapitalisten auf die Ergebnisse der Produktion.
Das Einzelkapital subsumiert sich die Arbeitskraft des Arbeiters unmittelbar – je niedriger dessen Lohn, umso größer der Gewinn für den Kapitalisten. Gegen die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieses Handelns ist das Einzelkapital bekanntlich blind. Um die durch das dauernde Changieren zwischen der Republik des Marktes und der Despotie der Fabrik resultierende Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft bewältigen zu können, muss – neben den sonstigen ,Gemeinschaftsaufgaben‘: Polizei, Militär, Recht etc. – auch die Arbeitskraft gesamtgesellschaftlich verwaltet werden, d.h. an der Lohnarbeit muss auch noch das Moment ihrer formellen Freiheit – das ist die Freiheit des Arbeiters, seine Arbeitskraft verkaufen oder verhungern zu müssen – beseitigt werden. Durchgesetzt werden muss dies, wie sich historisch gezeigt hat, weniger gegen den massiven Widerstand der organisierten Arbeiterklasse als vielmehr gegen den Widerstand der einzelnen Kapitalisten. Obwohl die innere Konkurrenz gegen den Willen der Einzelkapitale politisch ausgeschaltet wird, bringt sich das Kapital, durch den Staat hindurch, auf diese Weise erst auf seinen Begriff: Es wird zum alles durchdringenden Subjekt der gesellschaftlichen Reproduktion. Mit der durch den Staat vermittelten totalen Subsumtion der Arbeitskraft transformiert sich die kapitalistische Ökonomie der Sachen in die der Menschen. Das Ergebnis der Oktoberrevolution ist, dass sich mit der Sowjetunion diese menschenökonomische Form des Kapitalismus erstmals realisieren konnte.
Staatskapitalismus, wie er in der Sowjetunion funktionierte, bedeutet, dass die als Fabrik organisierte Gesellschaft Konkurrenz nur als äußerliches Schicksal bzw. als Weltmarkt kennt. Im Innern herrscht die Ökonomie des politischen Gebrauchswerts. Es ist eine stoffliche Ökonomie, eine Ökonomie der Versorgung, der Zuteilung, der Bewirtschaftung und Rationierung nach Maßgabe dessen, was das politische Zentrum bedarf. Es ist zugleich eine Ökonomie des strukturellen Mangels, eine im Kern statische, auf einfache Reproduktion bedachte Wirtschaft, die die Imperative der Weltmarktkonkurrenz vermittelt über die Souveränitätsnöte ihrer politischen Vorstände erfährt. Dieser Staatskapitalismus hat, abseits aller nicht zu übersehenden Gegensätze, schließlich wahrgemacht, wovon die vielfältigen sozial- und planstaatlichen Politiken des Westens immer geträumt haben: Die Verwandlung der Gesamtgesellschaft in ein einheitlich agierendes Nationalkapital. Der Bolschewismus hat damit am bürgerlichen Staat nicht nur dessen Bestimmung, ideeller Gesamtkapitalist zu sein, zur Geltung gebracht, sondern darüberhinaus eine weitere seiner Bestimmungen erstmals realisiert: Die, dass der Staat auch ideeller Gesamtproletarier werden muss, wenn es dem Kapitalismus gelingen soll, die Arbeitskraft als Humankapital gesamtgesellschaftlich bewirtschaften zu können.
Die Bürokratie ersetzt nicht nur den Markt: Sie definiert offensichtlich den gerechten Lohn auch gemäß derselben Kriterien, nach denen im kapitalistischen Westen der Markt das ,Maß der Arbeit‘ bestimmt. Einerseits also herrscht im Verhältnis Lohn und Leistung das kapitalistische Prinzip des Tausches gleicher Werte und damit das Gesetz der Bezahlung nach Maßgabe der zur Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Lebensmittel. Andererseits ist die marktförmige Veröffentlichung des Wertgesetzes politisch untersagt und die Arbeiter gelten als Mitglieder einer Anstalt, deren Existenzberechtigung sich in der Garantie der Subsistenz ihrer Insassen beweisen muss. Vor diesem Grundwiderspruch bewegte sich die gesellschaftliche Reproduktion der sowjetischen Gesellschaft.
Die Analyse der Ökonomie der Sowjetgesellschaft klärt hinreichend, dass hier nicht der Kapitalismus erschüttert wurde, sondern nur die Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen Reichtum von einer Klasse (den Kapitalisten) auf ein abstrakt-reales Gebilde übergegangen ist: die Partei. Dass sich hier erfüllt hat, was von jeher der Wunschtraum aller Sozialdemokraten gewesen ist: die Organisierung der Gesellschaft nach dem Muster sozialdemokratischer Vereinsmeierei.
So wie die Jakobiner die Ideale der Bourgeoisie nicht verraten haben, sondern sie nur konsequenter als ihre Mitbürger verwirklichten, so stellt der Bolschewismus nicht die revolutionäre Überwindung des sozialdemokratischen Reformismus dar, sondern dessen aktivistische linke Variante. Weder als Politiker und erst recht nicht als Philosoph hat Lenin den Marxismus auf das Niveau einer Kritik des Kapitals im imperialistischen Zeitalter gebracht, sondern lediglich die sozialdemokratische Ideologie der Vorkriegszeit konsequent zu Ende gedacht. Und so konnte er zum Führer der ersten sozialdemokratischen Revolution in der Geschichte werden.
Die Oktoberrevolution bleibt unsere Angelegenheit um so mehr, als im Westen der russische Staatskapitalismus immer wieder dazu herhalten muss, die These zu belegen, die bürgerliche Gesellschaft sei zwar zugegebenermaßen eine ziemlich schlechte, aber doch, wie sich historisch vor allem am Stalinismus zeige, die beste aller realisierbaren Gesellschaftsformen – denn der Mensch sei von Natur aus schwach und bestechlich und brauche nun einmal den Souverän, der ihm sagt, wo er lang zu gehen hat. Und der demokratische Parlamentarismus sei die Staatsform, in der den Individuen die weitestgehenden Souveränitätsrechte zugestanden würden. Mehr sei schon aus anthropologischen Gründen unmöglich.
Die Gegenüberstellung – Demokratie hier, Totalitarismus dort – beweist dagegen nur erneut, wie wenig der Bürger auch noch nach der Erfahrung des Faschismus imstande ist, zu begreifen, dass der immergleiche soziale Inhalt seiner Herrschaft verschiedene Formen erzeugt – neben der demokratischen die bonapartistische, die faschistische und eben auch die staatskapitalistische. Der westliche Bürger klagt am Sowjetsystem an, was, wie der Faschismus, eine logische Möglichkeit der Gestaltung seiner sozialen Beziehungen unter anderen ist. An der Sowjetunion hat er auszusetzen, dass die Gräuel der ursprünglichen Akkumulation, die terroristische Einübung der Arbeitsmoral, die Disziplinierungen des Denkens und Fühlens der Individuen, die Vertreibung der Bauern, der Entzug ihrer Lebensgrundlagen und ihre gleichzeitige Zusammenpferchung zum Industrieproletariat dort im zivilisierten 20. Jahrhundert und als bewusstes politisches Programm durchgeführt wurde. Auszusetzen hat er, was geschah, um ein Nationalkapital zu erzeugen, das mit dem seinen konkurrieren kann, und was mit Methoden geschah, die den Bürgern hier zumindest aus ihrer eigenen Geschichte her geläufig sein sollten. Und nicht nur historisch: Im restlichen Dreiviertel der Welt werden diese Methoden auch heute noch anschaulich angewandt und sind von keinem anderem als den Bürgern hier im Westen zu verantworten. Es ist nicht nur unredlich, sondern schlicht Heuchelei, wenn dieser Bürger sich für unschuldig erklärt, weil sich bei uns die soziale Synthesis spontan als stummer Zwang der Verhältnisse Geltung verschafft – während im Staatskapitalismus es der ausdrücklichen Anordnung bedarf, um die Einheitlichkeit der Gesellschaft zu reproduzieren und damit, anders als im Westen, auch die wirklich wichtigen politischen Entscheidungen – und damit die Schuldzuweisungen – personifizierbar bleiben.
Oktober 1987
Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte Version, zuerst 1990 erschienen in: Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution der Initiative Sozialistisches Forum. Die Texte des leider vergriffenen Buches sind heute auf der ISF-CD zu finden.