Die Farbe der Robe

70 Jahre höchstrichterlicher Rechtsfetischismus

 

Rechtspräparate im Event-Cube – Ging einer während der spätsommerlichen Feiern zum siebzigjährigen Beste­hen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in Karls­ruhe spazie­ren und gelangte dabei auf den Marktplatz, dann stand er vor einem gläsernem Mehrper­sonen-Sarkophag, der auf der Internetpräsenz des BVerfG ohne Scham und ohne erkennbare Ironie als ›Event-Cube‹ zum 70jähri­gen bewor­ben wurde. Darin schlief nicht Schneewitt­chen alias Justitia einem Königssohn mit Prädi­katsexamen entgegen, sondern dort waren geschlechtslose Bun­desorgane der Rechts­pflege wie im Dornröschenwintergarten in unbenannten justi­ziellen Ver­richtun­gen erstarrt, stumm und lebensgroß, gesichtslos und wie im Stehen auf­gebahrt. Der fachdidak­tische Zweck dieser Inszenierung besteht ersichtlich darin, die Symbolkraft der Richter­robe zum Ausdruck zu bringen, also das verfassungs­geberische Votum für die ver­meintlich reine ›Herr­schaft des Rechts‹ (so der Titel der zum Jubiläum des BVerfG von der Bundes­zentrale für poli­tische Bildung heraus­gegeben Zeit­schrift Aus Politik und Zeit­geschichte), und das heißt nichts anderes als: die sin­gulär post­nazistische und doch schon von Hegel eingeleitete Verdrängung und Verschie­bung von Gewalt und Sou­veränität in die rechtsstaatliche Gebor­genheit, staats­bürgerliche Siche­rungsver­wahrung und schein­bare Immanenz einer zeitlos reinen Rechtslehre, der Kelsen'­schen Grundnorm mit all ihren sub­sump­tions­logischen Deduktionen und begriff­lichen Netz­werken mit­tels eines ganz beson­deren Verfassungsorgans – gleichsam des Kehlkopfs der Souve­rä­nität.

 

Auf dem Catwalk der Souveränität – Wie konnte das BVerfG zum einzigen der fünf Verfassungsorgane emergieren, dessen Mitglieder überhaupt eine Amtstracht tragen? § 67 der Geschäftsordnung des BVerfG bestimmt: »Die Richterinnen und Richter tragen in der münd­lichen Verhandlung eine Robe mit Barett.«

Die Antwort findet man in der Frühgeschichte des BVerfG, dessen Funktion als Verfassungshüter von Anfang insofern umstritten war, als die Reichweite sei­ner Macht als Verfassungsorgan in Frage stand. Der Streit dauert bis heute fort und lodert immer dann auf, wenn das BVerfG mal von den einen gelobt, mal von den anderen getadelt wird. Streitereien dieser Art hatten von Anfang an die Debatten bestimmt, aus denen das Grund­gesetz 1949 hervorgegangen war. Im Kreis seiner soge­nannten Väter tendierten tagsüber dem Rechtspositivismus Hans Kel­sens zugeneigte, in der Däm­merung aber brüllend autoritäre Natio­nalsozialde­mo­kraten wie Carlo Schmid dazu, das BVerfG als primus inter pares im Zent­rum staatlichen Han­delns zu situie­ren; nach seiner Vorstellung von der Sanierung Deutschlands sollte es »ein mächtiger Pfeiler im Bau der Bundes­republik« sein.

Nach der fast friktions­losen Überführung des durch den Massenmord an den europäischen Juden homoge­nisierten Staats­volkes der Arbeitersoldaten in den Volkskörper der ent­nazifi­zierten Verfas­sungskomplizen wurde diesen unter der Auf­sicht des West­alliierten ein bizarrer Leviathan gestiftet, der scheinbar alles Monströse von sich abgestreift hatte. Der war durch und durch mit Recht getränkt, föderalistisch imprägniert, mit staatsschützenden Drainagen bewehrt und durch die Anti­zipa­tion und Prozeduralisierung aller erdenklichen Kon­flikte wie für die Ewig­keit konserviert worden, um so den Schein staatlicher Sub­stan­tialität zu erzeu­gen: den Schein, dass sich ein Staat gewissermaßen als causa sui aus den Zutaten Recht, Gesetz und einem ausbalancierten Penta­gon der Ver­fassungs­organe in seinen leviathanischen Eingeweiden selbst erzeugen und erhalten und noch den Aus­nah­me­zustand ver­rechtlichen könne. Von dieser generativen Selbstbezüg­lichkeit des Grundgesetzes zeugen insbesondere die derzeit nur aus­gesetzte all­gemeine Wehrpflicht des Staatsbürgers in Uniform zusammen mit der Arbeits­pflicht im Verteidigungsfall gemäß Art. 12a, die in den Art. 14 Abs. 3 u. 4, 15 normierte sogenannte Sozialbindung des Eigentums, die verfas­sungsrechtliche Integration und Positivierung des Widerstandsrechts in Art 20 Abs. 4, die Instru­mentalisierung der Parteien für die von unten nach oben vermittelte Bildung des Allge­meinwillens gemäß Art. 21 und die Notstandsverfassung auch für den Fall des innenpo­litischen Notstands nach Art. 91 GG.

Anders als der sterbliche Gott bei Thomas Hobbes sollte der postnazistische Leviathan der Deutschen buchstäblich zum ewigen Leben ertüchtigt werden, wovon nicht nur die soge­nannte Ewigkeitsga­rantie in Artikel 79 Abs. 3 GG zeugt. Dort findet sich allerdings die Aporie staatlicher Selbst­begründung und die auf nichts Gerin­geres als auf die Ewigkeit angelegte Selbstfesselung (anders als die nur temporäre des Odysseus) in aller Klarheit: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwir­kung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 nieder­gelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« Ob die Änderung einer Vorschrift des Grund­gesetzes durch das Parlament die Ewigkeitsgarantie ver­letzt, entscheidet wiede­rum das BVerfG. Dieses dürfte aber nach der subtil geregelten Arbeits- und Gewaltenteilung im Format eben dieses Grund­ge­setzes keinesfalls über dem Parlament stehen und könnte ihm also gerade nicht sub specie aeternitatis vor­schreiben, wo seine Grenzen gezogen werden müssen. § 31 des Bundesver­fassungsgerichtsgesetzes steigert diese letztlich unvermeid­bare Aporie des sich selbst als seinen eigenen Grund missverstehenden Verfas­sungsstaates zur gesetzgeberischen Fehlleistung in den Niederungen eines ein­fachen Gesetzes: »Die Entschei­dungen des Bundesverfassungs­gerichts binden die Ver­fassungs­organe des Bun­des und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden… In den Fällen … hat die Ent­scheidung des Bun­desverfassungs­gerichts Gesetzes­kraft.«­ – Mit zwei Sätzen suspendiert der Gesetz­geber hier ebenso verstohlen wie widersinnig, was sein Grundgesetz ihm keinesfalls erlau­ben kann: die rich­terliche Unabhängigkeit auf allen Instanzen und die Kompe­tenzen von Bundes­tag und Bundesrat als den bei­den Repräsentativkammern des Volkes, das doch der eigentliche Souverän sein soll.

Souveränität ist im Grundgesetz des neuen deutschen Leviathans also gut ver­steckt. Sie lugt hinter der »Würde des Menschen« in Art. 1, also des all­ge­meinen Menschen über­haupt, einer Abstraktion, nur ab und zu hervor wie Rumpel­stilzchen, das bis zum bitteren Ende drauf hofft, dass niemand seinen Namen kennt. Weder darf man also bei der Würde »des Menschen« an die bedürftigen und quälbaren einzelnen Menschen denken, noch beim Begriff der Würde an Immanuel Kant, denn was der Parlamentarische Rat unter Würde ver­standen hat, mit dem kategorischem Impe­rativ Kants und dessen Ableitung der Würde aus der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und zur Autonomie wenig zu tun. Darum wird man sich nicht wundern, dass der vom Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Wortlaut des Art. 1 des GG vom Parlamentarischen Rat abgelehnt wurde. Der Vorschlag lautete: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« Da musste Theodor Heuss lachend interve­nieren: »Meine Herren, was für ein Deutsch!« Man war sich einig: Mit der Formel, die dann in Art. 1 GG Eingang gefunden hatte, konnte die »banale Staatsphilosophie [durch] Rechts­verbindlichkeit« ersetzt werden. (alle Zitate aus Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biografie. Berlin 2009, S.15)

Anders als etwa die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Okto­ber 1958, die der Souveränität gleich zu Beginn einen eigenen Titel mit drei Artikeln widmet, kommt der Begriff der Souveränität im Grundgesetz kein ein­ziges Mal vor. Deliberativ sollte die Bonner Republik sein und ihr Grund­gesetz daher von Anfang an eine Einladung an alle, jeden Gegensatz der Inte­ressen, jede schmerzliche Erinnerung an eine Zeit der Klassenkämpfe und den unaufhör­lichen Kampf um Meinungsführerschaft nach Mög­lichkeit in ein bloß rechtliches Problem zu transformieren und sodann als rechtlichen Meinungs­streit oder Rechtsstreit auszu­tragen.

Was dennoch fehlte, brachte der spätere Bundes­ver­fassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde erstmals 1964 bündig zum Ausdruck: »So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften von neuem und in ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis …« Damit sagte Böckenförde nun nichts anderes als schon vor ihm und immer wie­der der jetzt unter seinen Zuhörern gewiss bei­fällig nickende Carl Schmitt.

Souveränität geht im Recht niemals auf, wollen Schmitt und Böckenförde sagen, und wir alle sind, wie Heidegger etwas weiter ausholen würde, »hinaus­ge­halten ins Nichts«, das von weit her nach dem Opfer ruft. Das ist der von endloser Nach­lust hervorgetriebene Postnazi-Sound, der bis heute in bestimmten akade­mischen Milieus nachklingt und immer wieder neu ertönt, wenn sich dort Eingeweihte beim Steh­e­mpfang oder einer Vernissage über den Briefwechsel von Gretha Jünger und Carl Schmitt, die intellektuelle Bezie­hung zwischen Martin Heidegger und den Brüdern Ernst und Friedrich Georg Jünger oder über die Frage unterhalten, warum Heidegger keine Ethik schreiben konnte, Jacques Derrida aber eine Politik der Freundschaft. In dem vom »Nach­leben des National­sozia­lismus in der Demokratie« (Adorno) geprägten Milieu konnte Böckenförde im »Diktum« die politische Gestalt der Antinomie vor­führen, wie sie, eines Ursprungs mit der antinomisch verfassten Ökonomie des Wertes, die Rechts- und Staatsphilosophie seit dem 16. Jahrhundert herausfor­dert. Gerhard Scheit macht einen Vorschlag, wie Böckenförde ohne seine interessierte Reservation gegen dialektisches Denken sein Diktum hätte klarer fassen können: »Die Reine Rechtslehre der Demokratie möchte Souveränität in Recht, alle Sub­stanz in Funktionen auflösen. Die politisch-theologische Lehre vom Souverän hingegen bereitet darauf vor, das Recht der Souveränität, die Funktion der Sub­stanz zu opfern.« (Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg 2004, S. 77)

Böckenförde weiß aber, dass ihn der Fortgang von der Andeutung zur Kritik der Antinomie geradewegs ans Ende seiner Karriere führen würde. Weil Staats- und Verfassungsrechtler sich mehr oder weniger geschickt in den Antinomien von Recht und Gewalt herumtreiben und dabei immer neue Varianten, Aspekte und Fluchtwege aus ihren vom Geg­ner soeben erschütterten Argumenten ent­decken, verwaltet Böckenförde das Problem der Souveränität nämlich fortan einfach in der Weise, dass er in seine langwei­ligen und im Grunde noch nicht einmal rechts­dog­matisch erhellenden Abhand­lungen ebenso autoritär wie heimtückisch ab und zu einen Schuss Katholizismus injiziert, wodurch er min­des­tens drei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Er adres­siert das Problem der Souve­ränität auf eine irgendwie erregende und geradezu in der Tradition des Inves­ti­turstreits stehen­den Weise; er gewinnt trotz seiner gelegentlich kirchen­kritischen Einlassungen die Katholische Kirche für seine Karriereplanung als Verbündete und er kann sich schließlich mit dem Nimbus des gebildeten Rich­ters über das niedere Hand­werk der Verfassungsrechts­dogmatik erheben.

 

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes – Im Zusammenspiel der Staatsor­gane scheint es beinahe so, als ob dem BVerfG die besondere Funktion zukomme, das böse Geheimnis kapitaler Souveränität in eine Flut von Rechtssätzen zu verstricken und so den Schein zu wahren, Aus­beutung und Herrschaft seien unter der Herr­schaft des Rechts ver­schwunden und dieses nicht vielmehr die Form, in der sich jene vollziehen. Sind im Gewirr der streitenden Parteien, die sich in den Antinomien der nega­ti­ven Gesellschaft herumwerfen, die Schmerzen Einzelner noch spürbar und ihre Not noch zu sehen, so sind diese in den langen Beratungen und Urteilen des BVerfG, wenn nicht verschwunden, so doch zur Unkenntlich­keit entschärft. Das ist die Trans­formation existenzieller Not in ein Rechts­prob­lem, von der Juristen als Organe der Rechtspflege leben. Das alles weiß aller­dings im Grunde jeder genauso, wie jeder weiß, dass Hunger unter kapita­listischen Bedingungen kein Grund zur Pro­duktion ist, und es versteht sich, dass diese Praxis immer wieder, im Einzelnen und ad personam denunziert werden muss und an den bekannten Urteilen auch demonstriert werden könnte.

Was aber in der Rechtsprechung des BVerfG darüber hinaus in jedem Urteil und in jedem Beschluss zu zeigen wäre, das ist die spezifisch verfas­sungs- und staatsrechtliche Methode der analytischen Zerkleinerung, rechtsdog­matischen Fermentierung und politischen Verdauung der Antinomien, zu denen Bundes­verfassungsrichter aufgrund ihrer Ausbildung im Grenzbereich zwischen Gemeinschafts-, Sozial- und Rechtskunde und des Modus ihrer Wahl besonders geeignet sind. Die 16 Richter der beiden Senate werden nämlich jeweils zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat mit einer Mehrheit von jeweils zwei Dritteln gewählt. Diese qualifizierten Mehrheiten und die konfliktprophy­lak­tische Betei­ligung der Bundesländer am Auswahlverfahren via Bundesrat tra­gen dazu bei, dass das BVerfG bei der Bildung der Volonté générale als eine Art von Zentral­bank oder Clearingstelle der juristischen Meinungen fungieren und die Mei­nungsströme bis zu einem gewissen Grad steuern kann. Weil der Staat durch Gesetze, Ver­ord­nungen, Allgemeinverfügungen oder Verwaltungsakte regel­mäßig rechts­förmig handelt, präformiert die jeweils vom BVerfG als geltend in Umlauf gebrachte ›herrschende Meinung‹ staatliches Handeln mittel­bar und manch­mal äußerst wirkungs­voll, wie die circa 50 folgenreichsten Urteile des BVerfG seit 1951 zeigen. Dass Juristen außerhalb ihrer forensischen Tätig­keit nicht von wahrheitsfä­higen Urteilen sprechen, sondern trotz Hegels Gering­schätzung der bloßen Meinung lediglich herrschende von Minder­meinungen oder allenfalls von ›im Vordringen befindlichen Ansichten‹ unterschei­den, zeugt davon, dass es sich mit den Meinungen ähnlich wie mit den Preisen verhält: Beide bilden sich spontan und oszillieren um eine gedachte Mitte: hier um den gerechten Tauschwert, dort um das dogmatisch richtige Urteil. Und genau so, wie man den Wert einer Ware im Gewimmel der Märkte nirgends auffinden kann, so ergibt sich auch das juristische Urteil nur im Durchschnitt aller einschlägigen Mei­nungen im ubiquitären Rechtsdiskurs wie von selbst.

Dieser Rechtsdiskurs dient letztlich allein der Abkühlung und Neutrali­sierung der im poli­tischen Streit aufgeheizten Antinomien des Politischen und der Drosselung ihrer Schwingungsfrequenz. In der Stille der Wahrheits- und Rechtsfindung sollen die im Kampf der gegenläufigen Interessen klirrenden Waffen zur Ruhe kommen und soll sich jede streitende Partei für einen friedlichen Augenblick in ihrem Kon­trahenten wiedererkennen; das ist jedenfalls im Wirtschaftszivilrecht regelmäßig kein Problem, weil sich dort ohnehin bei zureichender Größe des Samples alle Vor- und Nachteile ausgleichen, die sich aus den Tauschakten eines Teilmarktes ergeben. Für einen Augenblick sollen die Rechtssubjekte also sehen, dass sie auch nur der Gegner eines Gegners sind und dass jede Entscheidungsalternative nicht mehr ist als eben die Alternative der anderen – vice versa. Solche Augenblicke des Friedens finden Juristen in den Minuten nach Vertragsunter­zeichnung oder nach der Verkün­dung eines Urteils. Zur dauerhaften Ruhe kommen aber weder die Parteien noch ihre rechtlichen Vertreter, weil die begrifflich verfasste Gesellschaft Ruhe nur für die Dauer des Wechsels der Lauf­richtung zulässt. Kaum ist ein Vertrag unterzeichnet, beginnt der Streit um die gehörige Vertragserfüllung. Und auch das Urteil beseitigt die Antinomien, die es not­wendig machte, auch dann nicht, wenn es endlich rechts­kräftig geworden ist. Denn diese Anti­nomien sind letztlich durch das Kapital­verhältnis selbst als dem prozes­sierenden Wider­spruch gesetzt. Sie, die Marx im Kapital zur Darstellung brachte, sind sowohl Momente als auch Emanationen des zentralen Wider­spruchs, dass im Kapi­talverhältnis gesellschaftliche Syn­thesis überhaupt nur negativ als prozes­sieren­der Widerspruch in eine ebenso dynamische wie labile Existenz treten muss: »Das Kapital ist selbst der prozes­sierende Wider­spruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reich­tums setzt.« (Marx) Dieser Widerspruch beruht historisch auf der Trennung zwischen gesell­schaftlicher Produktion und privater Aneignung des Reichtums in Folge der ursprünglichen Akkumulation oder, mit anderen Worten: dem Aus­schluss aller durch alle vom Reichtum.

Weil das BVerfG hieran auch dann nichts ändern könnte, wenn es dies wollte, nimmt es Zuflucht zum General­schlüssel des Ver­fassungsrechts, dem Postulat der Ver­hältnismäßigkeit, mit wel­chem Zauberwort es alles und jedes und noch die größte Gemeinheit mit dem unwahren Ganzen zu vermit­teln trachtet. Alles soll zu allem in ein angemessenes Verhältnis gebracht wer­den, am Ende sogar das Verhältnis zu ihm selbst. Das liest sich dann im Urteil zur Recht­mäßigkeit von Sanktionen, die den Hartz-IV-Empfänger noch unter das soge­nannte Existenz­minimum drücken, gleichsam als Quadratur der Ver­hältnis­mäßigkeit so: »Der Gesetzgeber kann erwerbsfähigen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Existenz selbst zu sichern und die deshalb staat­liche Leistungen in Anspruch nehmen, abverlangen, selbst zumut­bar an der Ver­mei­dung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mit­zuwirken. Er darf sich auch dafür entschei­den, insoweit verhältnismäßige Pflich­ten mit wiederum verhältnis­mäßigen Sank­tionen durchzusetzen.« (Urteil des BVerfG vom 5. November 2019, ›Sanktionen im Sozialrecht‹, 1 BvL 7/16). Im Strudel des Selbstverhält­nisses der Verhältnis­mäßigkeit geht unter, dass das BVerfG mit diesem Urteil en passant seine eigene Lehre von den materiellen Vorausset­zungen menschen­würdigen Daseins im Sinne des Artikels 1 Abs. 1 GG über Bord geworfen hat. Auf diese Weise plau­derte es zugleich das insge­heim bar­ba­rische Prinzip einer Gerechtigkeit aus, das dem bürgerlichen Recht neben dem realen Schein von Äquivalenz beim Tausch der aus dem Individuum abstrahierten Arbeitskraft gegen Geld auch zugrunde liegt und das sich auf das zwar von Paulus erfundene, aber erst vom Ursozialdemokraten August Bebel für eine affirmative Politik der Arbeit nutzbar gemachte erste Gebot der bürgerlichen Gesellschaft zurückführen lässt: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«

An dem zitierten Urteil zur Legalität staatlich verschärfter Armut wirkten im Übrigen vier Richter und vier Richterinnen des insofern paritätisch besetzten ersten Senats mit, unter letzteren auch die vom Bündnis 90/Die Grünen und der SPD nominierte Susanne Baer. Sie wurde auf der Website der gewerkschafts­eigenen Hans-Böckler-Stiftung unter anderen mit diesen Worten als Für­spre­cherin der Bedürftigen gepriesen: sie fühle sich all jenen verpflichtet, die nicht zur Mitte der Gesellschaft gehören und habe Humor.– Besser kann man es nicht ausdrücken.

 

Verfassungsweltmeister Deutschland.– Wie der baden-württember­gische Justizminister Guido Wolf bei Gelegen­heit einer Feier zum 70ten Jubi­läum des Grundgesetzes erkannte, sind ›wir‹ auch schon ohne weiße Roben nicht nur beim Export, bei der Aufarbei­tung ›unserer‹ Vergangenheit und bei der Gestal­tung von Holocaust-Mahn­malen, sondern auch in Verfassungsfragen Welt­meister. Gedacht und aus­ge­sprochen: »Um diese Ver­fassung beneidet uns die ganze Welt.« Und wenn das BVerfG auch künftig immer einmal wieder gegen den EuGH deutsches Recht sprechen wird, dann werden ›uns‹ nicht nur Polen und Ungarn, Russen und Belarussen, sondern vor allem Chinesen auch noch den Titel ›Verfassungsgerichtsweltmeister‹ verleihen wollen.

Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus einem Essay, der in der kommenden 19. Nummer der sans phrase erscheinen wird.

.