Initiative Sozialistisches Forum – Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1987
Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1987
Dienstag, 10. Februar 1987
Begriff der Kritik
Wer einer Kritik nichts mehr zu entgegnen weiß, der weiß doch zumindest noch das eine, daß nämlich der Kritiker ein bloßer Kritikaster sei. Die Frage nach der Funktion der Kritik erschlägt die nach ihrer Wahrheit. Ins Psychologische oder Soziologische wird abgelenkt, was doch, als Kritik, auf rettende Distanzierung von zwanghafter Determination, sei’s durch die je rettende Distanzierung von zwanghafter Determination, sei’s durch die je individuelle Deformation des Charakters, sei’s durchs soziale Getriebe, zielte. Befreiung von Ideologie und Vorurteil erscheint als Zumutung. Darin reflektiert sich die zunehmend anorganische Zusammensetzung der bürgerlichen Gesellschaft: Kritik, für Marx noch “der Kopf der Leidenschaft”, verkommt dem modernen Bewußtsein zur Leidenschaft der Besserwisserei.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 17. Februar 1987
Theodor W. Adorno gegen seine Epigonen verteidigt
Immer wieder in der Geschichte wurden Theorien von ihren Rezipienten verflacht, verstümmelt und verdreht. So auch die Kritische Theorie Th. W. Adornos durch Leute wie Stefan Breuer oder die Mitglieder der Initiative Sozialistisches Forum. Die Epigonen machen aus Adornos Denken das, wogegen er immer angeschrieben hat: Ursprungsdenken. Hegels “Geist” feiert seine Wiederauferstehung als “totale Gesellschaft”. Was Marx und Adorno als Ideologie brandmarkten, verkauft sich nun als deren Kritik. Dagegen sollen Marx und Adorno verteidigt werden.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 10. März 1987
Aktualität und Geschichtlichkeit
Das herrschende Einverständnis in den Gang der Unvernunft ist es genau, was Walter Benjamin als die Katastrophe denunzierte. Sie manifestiert sich im modernen kategorischen Imperativ; “Du sollst Dich fügen, ohne Angabe worein”. Alles, was Rettung verspricht, wird zerrüttet und verdorben. Geschichte als Zentralbegriff gesellschaftlicher Erkenntnis fällt den blinden Erfordernissen einer nahezu total verwalteten Welt zum Opfer. Als unnützer Ballast wird sie ‘ausgetrieben’. Es gilt zu zeigen, daß es nicht um des Kaisers Bart, sondern ums Ganze geht.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 24. März 1987
Brechts Herzneurose: Ein Schlüssel zu seinem Schreiben und Denken?
Brecht hatte mit schweren Gefühlsambivalenzen zu kämpfen, die zu Herzanfällen führten und zur Angst, sein Herz bleibe stehen. Zu den Mitteln, diese Angst und diese Ambivalenzen zu bewältigen, zählen auch sein Schreiben und Denken, z.B. die Theorie des epischen Theaters. Während er sein Leiden, und mit ihm einen wesentlichen Antrieb seines Schreibens, verbarg, inszenierte er sich als rationalen politischen Schriftsteller und Klassiker. Nun gilt es, beide zusammenzusehen, den privaten und den öffentlichen Brecht, nicht um ihn und sein Werk zu entwerten, wohl aber, um sie in ihren Widersprüchen zu erkennen, sie zu verfremden und – indem die bisherige einfühlende Idealisierung der für die Öffentlichkeit bestimmten Selbstinszenierung aufgegeben wird – an ihnen zu lernen. Der Referent, Carl Pietzcker, ist Professor am Germanistischen Seminar der Universität.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 7. April 1987
Falsches Bewußtsein und Verdinglichung
Zur Entwicklung des Ideologiebegriffs
Es geht um die Entwicklung und den Funktionswandels des Ideologiebegriffs von seinen Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute. Gegen allen pauschalen Gebrauch des Begriffs soll erörtert werden, welche historischen Bedingungen und gesellschaftlichen Erfahrungen für ihn konstitutiv sind. Geleitet werden die Überlegungen von der Überzeugung der Kritischen Theorie, daß in einer Zeit, in der Ideologie ein so durchgängiges Bewußtseinsschicksal geworden ist, daß man sich auf sie als auf eine allgemeine Grundbedingung allen Denkens affirmativ berufen kann, ihre spezifische Kritik nötiger ist denn je. – Der Referent, Ulrich Enderwitz, lehrt an der FU Berlin und hat zuletzt “Die Republik frißt ihre Kinder. Hochschulreform und Studentenbewegung in der BRD” und “Totale Reklame. Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft” (beides Matzker-Verlag, Berlin 1986) veröffentlicht.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 21. April 1987
“Autonomie” – Der unaufhaltsame Verfall einer revolutionären Theorie
Die Theorie der “Autonomie” war der avancierteste Versuch des radikalen Linkskommunismus, auf das Niveau der Gegenwart zu kommen – um sie zu revolutionieren. Am Ende steht der politische wie auch theoretische Bankrott: Karl-Heinz Roth sucht das revolutionäre Subjekt dort, wo es (ver)west, in den Archiven und Gräbern; Detlef Hartmann, Autor von “Leben als Sabotage”, findet es in der plebejischen Bohème der Hausbesetzer und legitimiert es im Rückgriff auf Lebensphilosophie; Antonio Negri ist zum Bewunderer der ‘Grünen’ konvertiert. Zu vermuten steht: Der Verfall war vorprogrammiert.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 5. Mai 1987
Der Glückstechnik auf der Spur: Franz Jung
Sein Leben lang suchte der Schriftsteller und Wirtschaftsfachmann Franz Jung (1888 – 1963) nach einer Technik, mit der sich allumfassendes Glück verwirklichen ließe. Was er auf der Suche nach dem Paradies fand, reicht von der Psychoanalyse über den historischen Materialismus und einer tayloristisch organisierten Gefühlsproduktion, bis hin zur Biosophie. Daß daraus ein “Weg nach unten” wurde (so der Titel seiner Autobiographie von 1961), läßt erahnen, wie seine Bemühungen endeten. Die Stationen seiner Suche markieren jedoch nicht nur persönliche Niederlagen. Zugleich geben sie Aufschluß über das Scheitern von Befreiungskonzepten, mit denen sich Linksintellektuelle im 20. Jahrhundert identifizierten. – Wolfgang Rieger referiert über den Themenkreis seines gerade erschienenen Buches Glückstechnik und Lebensnot. Leben und Werk Franz Jungs.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 19. Mai 1987
Kommunikationstheorie und politische Macht
Zur Kritik an Jürgen Habermas
Jürgen Habermas ist der hervorragendste Vertreter der Frankfurter Schule und einer der einflußreichsten deutschen Soziologen. Mit der Kritischen Theorie teilt er die Ablehnung der Wert- und Kapitaltheorie von Karl Marx. Schon in der Studentenbewegung faßte er seine Kritik an Marx in der Unterscheidung von Arbeit und Interaktion zusammen, der er einen konstitutiven Charakter unabhängig von der Arbeit zuweist. Diesen Ansatz erweiterte er zu einer Theorie kommunikativen Handelns, die die ‘ideale Sprechsituation’ als Grundlage einer universalen Ethik erweisen soll. In dieser Ethik ist der Kampf um die Macht mit gewaltsamen Mitteln nicht mehr zu rechtfertigen. – Es referiert Michael Berger.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 2. Juni 1987
Weltmarktpoker
In diesen Monaten kommt es zum wiederholten Mal seit Beginn der 70er Jahre zu einer jener Entwicklungen auf dem Weltmarkt, die die bürgerliche Presse regelmäßig zu der ebenso erstaunten wie verständnislosen Feststellung veranlaßt: “Der Dollar ist nicht mehr der Dollar!” Wie kommt es, daß der Dollar von Zeit zu Zeit nicht mehr der Dollar ist? Ist er wirklich ein Stehaufmännchen, das nach jedem Straucheln immer wieder auf die Beine kommt oder kündigt sich diesmal vielleicht gar das Ende der “Dollar-Ära” an? Die Karten auf dem Weltmarkt werden gegenwärtig zwischen den großen kapitalistischen Staaten für eine weitere Runde kapitalistischer Akkumulation neu gemischt. Die Verteilung der Verluste aus der letzten Runde, um die es beim seit Anfang der 80er Jahre andauernden Verschuldungspoker mit der Dritten Welt geht, ist dabei mitentscheidend für Spielregeln und Chancen bei der neuen.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 16. Juni 1987
Gewalt und Subjekt
Die Philosophie Jean-Paul Sartres im Blickwinkel Kritischer Theorie
Zwiespältig bleibt Sartres Existentialphilosophie in der Frage, ob die Subjekte sich untereinander anders als zu Objekten, zu bloßen Mitteln und Materialien ihrer Zwecke verhalten können. An der Auflösung des Objektcharakters der Subjektivität hängt allerdings die Möglichkeit klassenloser Gesellschaft. Sartres Subjektbegriff muß auf die gesellschaftspraktische Konstitution von Subjektivität überhaupt durchschaut werden. (In Zusammenarbeit mit dem “Forum für Kritische Philosophie”).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 30. Juni 1987
Die psychische Konstitution des Subjekts im Postfordismus
Mit der Durchsetzung computerisierter Produktionstechnologien und der Perfektionierung des Sicherheitsstaates wird die ökonomische und soziale Krise der 70er Jahre aufgehoben. Noch sind die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Produktion von Subjektivität unklar: Neuere psychoanalytische Theorien konstruieren in einem Salto mortale von der gestörten Mutter-Kind-Beziehung zum postmodernen Sozialcharakter die narzißtisch gestörte Konsummonade des “Neuen Sozialisationstyps”.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 14. Juli 1987
Von der Klasse zum Stand
Der Untergang der deutschen Arbeiterbewegung
1968 gingen der SDS mit der Parole “Arbeiterkontrolle” vor die Fabriken. Die Antwort der werktätigen Bevölkerung war knapp und erschöpfend: “Was? Ihr wollt uns kontrollieren?” – Die Episode zeigt: Die Frage “Wer wen?” ist beantwortet und der objektive Genitiv erfolgreich gegen den subjektiven vertauscht. Dahinter liegt die Geschichte der Verwandlung der Arbeiterklasse in den Stand der nur zeitweilig mit produktiven Aufgaben betrauten Staatsbürger, formuliert im historischen Projekt der “Entproletarisierung mit kapitalistischen Mitteln”, vorangetrieben durch die proletarischen Volksparteien im dialektischen Einklang mit der nazistischen Volksgemeinschaft.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)