Initiative Sozialistisches Fourm – Deutsche Ideologie, solidarische Kritik

Initiative Sozialistisches Forum

Deutsche Ideologie, solidarische Kritik

Ich bin Deutscher, also bin ich. Mögen anderswo unversöhnliche Interessen aufeinanderprallen – in Deutschland kabbeln sich Gesinnungen um die bloße Form ihrer vorab schon ausgemachten höheren Einheit. Hier herrscht nicht der Kampf der zu Ideologien nur raffinierten ökonomischen Zwecke, hier herrscht der Streit der Weltanschauungen. Hier hat die (öffentliche) Meinung vom (privaten) Interesse als ihrem relativen Rationalitätskriterium sich emanzipiert und wird zu dem, was sie an ihrem Begriffe immer schon war: unerbittlicher und gnadenloser Wahn. Was anderswo als abseitige Marotte und Tick sein touristisch ausbeutbares Dasein fristet, als Folklore und Stammesritual, ist hier Nationalcharakter. Was sonst im Winkel sich auslebt, steht hier im Rampenlicht. Anderswo als geistige Knechtsnatur belächelt und als nützlicher Idiot der großen Politik von Staatswegen alimentiert, formt hier der “gesunde Menschenverstand” die Welt nach seinem Bilde. Der Satz, Gerechtigkeit müsse sein, ginge auch die Welt darüber zugrunde, konnte nur in Deutschland geschrieben und in die Praxis umgesetzt werden. Gesinnung, die Wut auf Sinn, ist die deutsche Form von Meinung, die sich über jeden Einspruch erhaben weiß, die jedweden Einwand nur dazu benutzt, sich eitel als Nabel der Welt zu empfinden. Die Welt ist Anschauungssache, bloßer Spiegel des Subjekts.

Anderswo mag die bürgerliche Gesellschaft von Zeit zu Zeit ihren sozialen. Widerspruch vertraglich schlichten wollen und den Versuch unternehmen, den Antagonismus im Kompromiß zu vertagen, aufzuheben und auf die lange Bank zu schieben. Anderswo findet die Akkumulationsgesellschaft zu einem Gleichgewicht der Klassenkräfte, zu einer, wenn auch prekären, Balance der Ökonomie der Arbeit und der des Kapitals. Anderswo gibt es Parteien – in Deutschland gibt es Volksparteien. Ihre Mitglieder sind nicht Parteigänger besonderer Zwecke, sondern sie vertreten das Allgemeine als ihren besonderen Zweck. Das Besondere, Einzelne, das Individuum befindet sich nicht im Gegensatz zum Allgemeinen; es muß sich mit diesem noch vermitteln. Das Besondere ist unmittelbar Glied des Allgemeinen. Das Individuum weiß sich vorab als organischer Teil eines Ganzen, des Volkes. Und es benimmt sich auch so, erfüllt die ihm angewiesene Funktion, leistet seinen Dienst.

Anderswo gibt es bürgerliche Gesellschaft, die sich (noch) nicht nach ihrem Begriffe entfaltet hat – in Deutschland herrscht eine oberflächlich parlamentarisierte Volksgemeinschaft. Volksgemeinschaft, die negative Aufhebung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, hat den Gegensatz des egoistischen Privatbürgers zum uneigennützigen Staatsbürger hinter sich gelassen. Hätten Ameisen wirklich einen Staat, dann wäre es einer, der das Sein des Einzelnen für den Staat zur Existenzberechtigung des Einzelnen nur überhaupt erhebt. Soziale Funktion und Anthropologie sind identifiziert, genauer: Die soziale Funktion hat sich in die Subjektivität hineingearbeitet und das Subjekt maschinisiert. Zweite Natur gibt sich als erste, Volk, die dumpfe Zusammenrottung alles Bodenständigen, als Gesellschaft.

Da das Öffentliche als besondere Sphäre der Abstraktion vom Interesse nur formal besteht, ist das Private substantiell öffentlich. Das Öffentliche ist nur eine andere Präsentationsform des Privaten. Helmut Kohl lügt daher die Wahrheit wenn er sagt: “Alles, was im Privatleben wichtig ist, gilt auch für den Staat und in der Politik.” Und: “ Geborgenheit, Wärme, Mitmenschlichkeit in der Familie wie auch in der Nachbarschaft – das ist Heimat.” Geborgen im Uterus des Volkes, eingehüllt in die Schmusedecke der Nation ist der Mensch nicht der Wolf des Menschen, sondern Zwischenmensch unter Mitmenschen. Heimat ist, wo Staat ist, wo die unmittelbar tierischen und leiblichen Bestimmungen des Menschen, sein familiäres Dasein, zum Ausdruck kommen.

Noch die Opposition hat Teil am deutschen Gemeinschaftswahn. Wo der Staat als überdimensionale Familie auftritt, da gilt es schon als Alternative, ihn zur Wohngemeinschaft reformieren zu wollen. Nicht mehr der autoritäre Rechthaber soll Vati sein, sondern ein guter Kumpel; nicht mehr auf dem Unterschied von Mein und Dein soll er herumreiten, sondern im Kollektiv Pferde stehlen. Die Alternativen verlängern so den Nationalcharakter: Nicht minder energisch als von Staatswegen die konstruktive, wird unter den Abweichlern die solidarische Kritik abverlangt. Kritik soll vorab schon Einverständnis mit dem Kritisierten demonstrieren. Nicht soll sie das Vorhandensein gemeinsamer Zwecke prüfen, sondern die Gemeinschaftlichkeit vor jedem besonderen Zweck bestätigen. Der Stil offizieller und konstruktiver Kritik – die ausgewogene Festrede, die sorgsam Für und Wider, Einerseits und Andererseits notiert und bilanziert, um schließlich den Gegenstand zu würdigen, d.h. seinen Nachruf zu verlesen – bezweckt das Erlebnis der Gemeinsamkeit. Nicht anders die sogenannte solidarische. Die materialistische Pointe eines Kabaretts, in dem sich solidarisch auf arisch reimt, liegt darin, daß sie es nicht bezweckt, Verhältnissen auf die Finger, sondern Menschen auf die Schulter zu klopfen, dem Volksgenossen seine Anerkennung auszudrücken. Die zur solidarischen kastrierte Kritik soll zur Krücke kollektiver Identität herhalten. Nicht auf ihre Wahrheit, auf ihren Nutzen wird sie verhört. Der Angriff des Nutzens auf die Kritik, vorzugsweise eingeleitet durch die Aufforderung, man solle nicht so abstrakt und abgehoben daherreden, sondern endlich konkret werden, mündet in den Persilschein für das Interesse, das ihm Gemäße sich auszusuchen. Das Verhör auf den Nutzen vermag sich jede weitere Begründung zu ersparen, es ist sich selbst evident und ein einfaches Gebot alternativen Menschenverstandes. Auf Einfachheit getrimmt, vielleicht gar noch mit Lenins Kindervers “Die Wahrheit ist konkret” aufgepäppelt, verwirft das Interesse alles andere als Sophisterei, als bloßes Spiel mit Worten, denen es an Tiefe mangele. Die nicht durch Attribute relativierte Kritik gilt als ebenso intellektualistisch wie die solidarische als authentisch, gefühlsecht und dem Kollektiv sprachlos verbunden.

Diese Sprachlosigkeit ist es, die der Forderung nach solidarischer Kritik ihren gewaltheischenden und repressiven Charakter verleiht. Hegel schreibt über den gesunden Menschenverstand: “Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.”

Im trotzigen Beharren auf dem Gefühl, oder alternativ, der Identität, ist das eine nur ausgesprochen: Du bist nichts, Dein Volk ist alles.

Unter dem Titel Konstruktive Kritik und Lüge nachgedruckt in Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution

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