Initiative Sozialistisches Forum – Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1988
Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1988
Dienstag, 12. April 1988
Verdinglichung und Erkenntnis
Anmerkungen zu Georg Lukács
Als Ziel seiner Theorie der Verdinglichung hat Georg Lukács die genaue Bestimmung jener Probleme benannt, “die sich aus dem Fetischcharakter der Ware als Gegenständlichkeitsform einerseits und aus dem ihr zugeordneten Subjektsverhalten andererseits ergeben”. Über die Marxsche Analyse des Warenfetischismus hinaus soll so die Vermittlung von Ware und Erkenntnisform begriffen werden. Lukács nimmt an, diese Vermittlung durch die Identifikation des Proletariats als des identischen Subjekts/Objekts der Geschichte ebenso darstellen wie kritisieren zu können. Aber die Quintessenz seiner Theorie ist zur “grimmigen Scherzfrage” (Theodor W. Adorno) geworden: Arbeitsmetaphysik schlägt um in die geschichtsphilosophische Rechtfertigung der Aneignung fremder Arbeit. Die Versöhnung von Subjekt und Objekt ist erpreßt
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 26. April
Wissenschaft statt Aufklärung
Über die schlechte Aufhebung der Studentenbewegung und die (leider) immer noch nicht mögliche Abschaffung der Kritischen Theorie
Der Anfang einer Sache ist durch ihr Ende vermittelt. Es war zwar ein Unglück, das genaue Gegenteil von Zufall, daß die Studentenbewegung den “Marxismus” als Weltanschauung neu erfand, weil sie die Marxsche Kritik nicht wahrnehmen konnte. Im Resultat wurde fieberhaft “wissenschaftlicher Sozialismus” gebüffelt – aber es kamen nicht Sozialisten, sondern linkische Akademiker heraus. Heute hat die linke Intelligenz den Schulterschluß mit dem Positivismus vollzogen, – dem sie damals mittels “materialistischer Wissenschaftskritik” an die Gurgel wollte. Es ist dies Indiz j eines Gesellschaftszustandes, in dem Erklären und Billigen identisch geworden, Wissenschaft und Aufklärung daher auseinandergetreten sind.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 10. Mai 1988
Mythos 68
Erst 20 Jahre alt und schon am Ende
Die heutige Linke hat mehr von den “68ern” geerbt, als sie sich eingestehen will. Ihre Distanzierung von der APO hat den durchsichtigen Zweck, den eigenen Dilemmata auszuweichen, um umso gewissenloser die Irrtümer von gestern wiederholen zu können. Erinnert werden müßte, daß 1968 zumindest eine Ahnung der grundsätzlichen Probleme revolutionärer Politik in spätkapitalistischen Gesellschaften vorhanden war. Die Studentenbewegung stellte sich wenigstens noch die richtigen Fragen dort, wo heute wie aus der Pistole geschossen die falschen idealisierenden und/oder aktionistischen Antworten kommen.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 24. Mai 1988
“Arbeit macht frei”: Die Kunst des Strafens
“Strafvollzug ist Arbeit am Menschen” steht in, der Eingangshalle der Vollzugsanstalt Stammheim. Wer arbeitet, wird resozialisiert. Arbeit ist zentraler Bestandteil des Systems Strafvollzug. S Alles – Freizeitbetätigungen, Besuche, medizinische Versorgung, Lockerungen der Haftbedingungen – funktioniert nach? dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 7. Juni 1988
Der Prozeß der Zivilisation
Zur Ideologiekritik an W.A. Mozarts “Zauberflöte”
An der musikalischen Faktur und der Gesamtkonstruktion der “Zauberflöte” von Wolfgang Amadeus Mozart und E. Schikaneder soll die gesellschaftliche Notwendigkeit bestimmter Handlungsfiguren des Werks aufgezeigt werden. Es sollen zugleich jene Momente dargestellt werden, die nicht restlos ideologischer Natur sind. Grundkenntnisse der Handlung der “Zauberflöte”, die in jedem Opernführer nachgeschlagen werden können, würden das Verständnis der Analyse wesentlich erleichtern.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 21. Juni 1988
Nationalsozialismus im Film
“Vergegenwärtigt man sich die Debatten, die seit Jahrzehnten um die Frage einer Ästhetik nach Auschwitz kreisen, so zerfallen sie in eine moralische und eine materiale Frage; die moralische ist die, ob, nachdem in Auschwitz jede Hoffnung auf die Tragfähigkeit des humanen Fundaments der Zivilisation zuschanden ging, die Utopie des schönen Scheins der Kunst nicht endgültig zur falschen Metaphysik sich verflüchtigt hat; die zweite, materiale, macht sich an der Frage fest, wie und ob Auschwitz der ästhetischen Repräsentation und Imagination eingeschrieben werden kann und ist.” Gertrud Koch (Frankfurt) analysiert u.a. Claude Lanzmanns Film “Shoah”.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 23. Juni 1988
Grenzen der Aufklärung
Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus
Zur historischen wie gesellschaftstheoretischen Vertiefung der in den Debatten um “Antizionismus – Ein neuer Antisemitismus von links” aufgeworfenen Fragen referiert Detlev Claussen (Frankfurt) zu den Thesen seines im Fischer-Verlag erschienenen Buches. Ausgangspunkt ist die These T.W. Adornos, “daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten”.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 5. Juli 1988
Hegel – Marx
Eine Kritik der Dialektik von Herr und Knecht
Die in den siebziger Jahren vorherrschende anthropologische Marx-Lektüre verstand die “Kritik der Politischen Ökonomie” nach dem Schema der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht. In der Folge dieses interessierten Mißverständnisses geriet Marx zum besonders originellen Junghegelianer. Diese Verkehrung der Marxschen Kritik zur Geschichtsphilosophie der Gattung Mensch fand nicht zuletzt deshalb weite Verbreitung, weil sich in ihr unter dem Tarnwort der Gattung schon die spätere Zurechtstutzung des Naturbegriffs durch die Ökologie vorbereitete.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 12. Juli 1988
Der Bücherkreis
Die Geschichte einer sozialdemokratischen Buchgemeinschaft in der Weimarer Repu blik
Im Gegensatz zu ihrer großen Konkurrentin, der “Büchergilde Gutenberg”, ist der “Bücherkreis” heute nahezu unbekannt. In der Weimarer Republik war das anders: Beide Buchgemeinschaften gehörten zu einer funktionierenden Arbeiterkulturbewegung, die in dem Spannungsfeld von industrieller Massen- und proletarischer Gegenkultur lavierte. Um diese Gratwanderung zu verstehen, wird von Aufbau und Programm des “Bücherkreises” ebenso die Rede sein wie von sozialdemokratischer Kulturpolitik und nationalbolschewistischer wie rätekommunistischer Unterwanderung, aber auch von Konzentrationstendenzen auf dem Buchmarkt und kapitalistischer Vergesellschaftung, Anpasserei, Verrätertum und Widerstand.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)