Initiative Sozialistisches Forum – Schon wieder Deutschland

Initiative Sozialistisches Forum

Schon wieder Deutschland

Die Wiedergutmachung der Deutschen vollendet sich, die Geschichte hat gefälligst abgebüßt zu sein und darf entsorgt werden. Die unheimliche Erleichterung, die sich im Schlachtruf “Deutschland den Deutschen!” die Schmach von der Seele schreit, seit 1933 erst ein von Nazis, dann von Amerikanern und Bolschewisten besetztes Land gewesen zu sein, verlangt nach Taten. Während noch das offizielle Deutschland ängstlich die Vorteile und Unkosten der so unverhofft hereingebrochenen nationalen Einheit bilanziert und einstweilen peinlich darauf bedacht ist, sich konziliant zu geben, spricht seine radikale Avantgarde schon Fraktur und zieht Konsequenzen. Weit davon entfernt, das Werk jugendlicher Wirrköpfe oder brauner Spinner zu sein, demonstriert sich in der Schändung jüdischer Friedhöfe in Ihringen und anderswo die Logik der Nation selbst. Es sind ihre Perspektiven und nächsten Schritte, die die Täter, einstweilen ins Abseits vorpreschend, sensibel erfassen und praktisch antizipieren. Denn dieser neue Anfang, der Ursprung einer neuen Epoche, erfordert die gründliche Abschaffung und beherzte Liquidation der Geschichte, die Auslöschung und Ausmerzung selbst noch der steinernen Zeugen derer, die die Nation, als sie zur Volksgemeinschaft sich verpuppte, in den Staub trat. Was geschah, das soll nicht nur einfach vorbei sein, vergeben und vergessen – es darf sich nie ereignet haben.

So besteht der gesellschaftliche Auftrag des Antisemitismus nach Auschwitz darin, die Vernichteten noch einmal zu vernichten, die Verfolgten aus dem einen Grund schon wieder zu verfolgen, daß sie verfolgt wurden. Die Wiedergutmachung der Nation bedarf einer Geschichte, in der der Zwang zur Homogenität, den die Nazis zur Gleichheit von Blut und Rasse nur radikalisierten, noch nie vorkam, einer Geschichte, in der der Nationalstaat als die unschuldige Naturalform gesellschaftlicher Existenz schlechthin erscheint. Der Gedanke, daß der Nationalstaat die objektive Bedingung der Möglichkeit des Massakers ist, daß die Form Staat als solche anders sich nicht behaupten kann als in der Produktion von Ausgeschlossenen, Nichtdazugehörigen und Fremden, muß mit jenen gebannt werden, die, als Opfer, seine Zeugen sind. Nicht der geringste Zusammenhang darf bestehen zwischen den Nürnberger Gesetzen, die ex negativo, an den Juden, definierten, was deutsch ist, und jener so demokratischen “nationalen Identität”, die doch nirgends anders als im Recht der Staatsbürgerlichkeit ihr Fundament hat, d.h. in den bürokratischen Praktiken der Zulassung zum nationalen Kollektiv. Darum darf es die Juden nie gegeben haben, damit sich Deutschland unter die Alliierten von einst als die fünfte Siegermacht über den Nationalsozialismus einreihen kann. Die Täter von Ihringen sind keine Nazis gewesen, bloß Deutsche.

Denn “daß die Deutschen wieder vom Machthunger überfallen werden, das scheint den Deutschen selbst ganz unwahrscheinlich”: Die souveräne Ignoranz, mit der die frischgebackene Nation der Meinungsforscherin Noelle-Neumann gegenüber durchblicken ließ, daß sie, obwohl man darüber nicht viel Worte verlieren mag, über den feinen Unterschied zwischen Unwahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit allerdings im Bilde ist, gibt in ihrer ebenso auftrumpfenden Unschuld wie abgrundtiefen Unbefangenheit den genauen Grad an, in dem man es als legitim erachtet, Herr im eigenen Haus und also Richter in eigener Sache zu sein. Daß der ’Stolz darauf, ein Deutscher zu sein’ mit Chauvinismus nicht das mindeste zu tun, daß das ’Recht auf nationale Selbstbestimmung’ mit Nationalismus nicht das geringste zu schaffen habe, darüber waren sich die Deutschen beiderseits der Elbe längst vor dem 9. November 89 einig. Was jedoch der impertinenten Gnade der späten Geburt, aller Anstrengung zum Trotz, nie definitiv gelang – die Naturalisierung der Bevölkerung zum Volk, die Verdinglichung des Menschen zum Deutschen -, das gelingt nun im trauten Verein mit dem Leipziger Wunder der Wiederbelebung des einen Volkes. So kommt der deutsche Abwehrkampf gegen den Totalitarismus zu seinem Ende: Wie der deutsche Westen sich des Nationalistischen am NS schon mit den Mitteln von Grundgesetz, EG und NATO entledigte, so hat nun der deutsche Osten dem spezifisch Sozialistischen am rotbraunen Totalitarismus, der Gleichschaltung und der Gleichmacherei, den Garaus bereitet.

Die trostlose Leidenschaft allerdings, in der sich die Vereinigung der Deutschen vollzieht, läßt schon ahnen, daß die ihres Sieges nicht glücklich werden können. Denn die unheimlichen Kräfte, mit denen sie zu ringen hatten, sind nichts anderes als ihre eigenen in entfremdeter Gestalt. Schon der kleine Unterschied, den die Deutschen zwischen Nation und dem Nationalismus, zwischen der objektiven Möglichkeit neuer Greuel und ihrer bloß historischen Wahrscheinlichkeit zu machen belieben, verweist auf das unheilbar Fatale der Gleichheit der Deutschen mit sich selbst. Sie erstreben etwas als Ding und Sache, als friedlichen Besitz und gottgefälliges Eigentum, von dem sie doch insgeheim wissen, daß es sich einzig als tödlicher Prozeß und mörderische Praxis wird realisieren lassen. Die nationale Identität ist an sich leer, ohne Inhalt und Substanz, das deutsche Wesen ein Unwesen, das positive Gestalt nur erlangen kann im Ausschluß anderer aus der Menschheit, in ihrer Negation durchs völkische Kollektiv, das nur darin seines Wesens habhaft zu werden vermag. Was die Nation, zumal die deutsche, an sich ist, daß weiß niemand und kann niemand wissen, bevor sie nicht gegen andere sich tätig definiert. Das macht: als Produkt des Staates, als Erscheinung der politischen Souveränität kann die Nation einen Gehalt nur darin finden, das Ensemble aller Verhaltensweisen und Werte zu sein, die den individuellen Gehorsam und die vorbehaltlose Loyalität gegen die Gebote der Macht verkörpern. Schon darum vermag niemand auf die einfache Frage: Was ist deutsch? eine allseits befriedigende Antwort zu geben, weil es zum Wesen dieses Souveräns gehört, im Jenseits bloß formaler Alternativen zu existieren, die er vielmehr als seine Bewegungsform setzt. Was das ist, deutsch, das geht nicht in den Definitionen auf, die den öffentlichen Meinungsstreit beflügeln, kann nicht beantwortet werden durch Geschichte, Sprache und Kultur, nicht durch Blut und Boden. Sie verweisen nur auf das souveräne Kalkül, das keine Möglichkeit ausschließt, das sich vorbehält, je nach Lage der Dinge zu entscheiden. Weil, was deutsch sein soll, auf der jeweiligen Definition der Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv basiert und nur in der Angst vor dem Ausschluß seine materielle Gewalt findet, kann als Deutscher nur auftreten, wer seine restlose Bereitschaft zum Mitmachen und zur Gefolgschaft immer schon bekundet hat, bevor noch von Staatswegen irgendein konkreter Befehl ergeht.

Was den Staatsbürger so umtreibt, der ebenso unabweisbare wie doch nie definitiv gelingende Versuch, dem Souverän seine Brauchbarkeit und Loyalität geistig und praktisch zu beweisen, das bezieht seine Energie und Durchschlagskraft aus der existentiellen Urangst des Wirtschaftsbürgers, aus seiner Todesfurcht vor dem Erschlaffen seiner Produktivität, vor der Niederlage in der allgemeinen Konkurrenz, vor dem Abgleiten in Natur und bloßes Material. Nichts anderes übertreibt und radikalisiert er in seiner Begeisterung für die “nationale Identität” als den trostlosen Versuch, seine bürgerliche zu behaupten. Er weiß um seine individuelle Überflüssigkeit für die Bedürfnisse des kapitalistischen Betriebes, seine Nichtnotwendigkeit für einen gesellschaftlichen Apparat, der seine Räson nicht in der Produktion von Gebrauchswerten, sondern von Kapital hat. So versucht er, dem Apparat seinen Nutzen zu beweisen, indem er sich, in vorauseilendem Gehorsam, rassistisch gegen ’Minderwertige’ und antisemitisch gegen die als ‘überwertig’ Halluzinierten abgrenzt und ausagie rt. Wenn es die Türken und Juden nicht gäbe, das bürgerliche Subjekt müßte sie zu Zwecken seiner Integration erfinden.

Das neue Deutschland hat sich in nationalem Überschwang die ökonomische Krise importiert, hat sich eine Überschußbevölkerung von Millionen nach kapitalistischen Maßstäben unproduktiven Menschen auf den Hals geladen, nur weil sie “deutsch” sind. So wird die Wiedergutmachung der Deutschen an nichts anderem scheitern als an ihnen selbst: an der haltlosen Flucht nach vorne in einen nationalen Wahn, der Geborgenheit im Jenseits der Konkurrenz verspricht und doch nur in nihilistischer Raserei enden kann.

Nachgedruckt in Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten

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