Initiative Sozialistisches Forum – Artikel 16 (2)

Initiative Sozialistisches Forum

Artikel 16 (2)

Artikel 16 (2) Grundgesetz bestimmt lapidar: “Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” Daß, wer sich als Oppositioneller oder einfach nur “Andersdenkender” bei seiner jeweiligen Herrschaft gründlich, vielleicht tödlich unbeliebt gemacht hat, ausgerechnet im Land des mörderischsten Exzesses nationaler Souveränität einen Rechtsanspruch auf Freiheit und Leben genießen solle, – das war eine der “Lehren der Geschichte”, mit der die antitotalitären Rot = Braun – Demokraten zwischen 1949 und 1989 weltweit für das andere Deutschland Reklame machten. Das Asylrecht hatte zu demonstrieren, daß die Deutschen das “Recht auf nationale Selbstbestimmung” auch einmal ganz anders, nach Maßgabe der Menschenrechte nämlich, zu handhaben wüßten. Daß die bürgerliche Gesellschaft der Deutschen, die das Individuum nach der Maxime “Du bist nichts, dein Volk ist alles” am gründlichsten seiner politischen Nichtigkeit und sozialen Überflüssigkeit überführt hatte, im Asylrecht universales Menschenrecht unmittelbar als nationales Bürgerrecht gelten lassen wollte, mittlerweile ausgerechnet dieses Paragraphen zutiefst überdrüssig ist, das zeigt, daß hierzulande selbst der ärmlichste Vorschein von Vernunft nur unterm bewaffneten Kuratel der Alliierten zu haben war. Das halbwegs wiedervereinigte und schon ziemlich wiedergutgemachte Deutschland empfindet den einst prominentesten ideologischen Passepartout zur Teilhabe an der Weltherrschaft der Marktdemokraten jetzt, nach dem Ende des “Eisernen Vorhangs”, als Souveränitätseinbuße, als Angriff auf die “nationale Identität”, d.h. als Attentat auf die völkische Homogenität.

Nicht, daß der westdeutsche Rechtsstaat je um administrative Schikanen zur Abschreckung der politisch oder ökonomisch unerwünschten “Menschenflut”, wie die “Frankfurter Allgemeine” die Überflüssigen nennt, verlegen gewesen wäre; nicht, daß es dem ostdeutschen Sozialstaat jemals an drakonischen Methoden zur Bewirtschaftung des fremdländischen Menschenmaterials gemangelt hätte; auch nicht, daß das System der “wehrhaften Demokratie” irgendwann zur Unterscheidung zwischen Flüchtlingen etwa aus dem Chile Pinochets und dem Rumänien Ceaucescus unfähig gewesen wäre – was die Volksgemeinschaft nervt, ist die Generalklausel, d.h. die einfache Tatsache, daß dem Artikel 16 (2) die Bestimmung fehlt, die die bürgerliche Demokratie bislang noch jeder ihrer vollmundigen Erklärungen von wegen Freiheit usw. usf. anzufügen wußte: “Das Nähere regelt ein Gesetz.” Das allein macht diesen Artikel zum “Schlupfloch” der Unbefugten.

Das “Nähere” und Eigentliche, das hier zu regeln wäre, ist der Begriff der politischen Verfolgung. Es geht darum, der Massenarmut, die nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Gesellschaften des Ostens, die, im Verfolg ihrer als “sozialistische Anwendung der Ware-Geld-Beziehung” getarnten nationalen Autarkiepolitik, noch nicht einmal das “Prinzip der eisernen Reisschüssel” gegen den Weltmarkt durchzusetzen vermochten, den Weg nach Westen zu verwehren; und es geht darum, dem Massenelend, das, nach dem Bankrott der Ideologie der nachholenden Industrialisierung und der “autozentrierten Entwicklung”, auf der Suche nach Subsistenz aus dem Süden der “Weltarbeitsteilung” flüchtet, den Weg nach Norden zu verbarrikadieren, indem man ihr das demokratische Privileg, politisch verfolgt zu werden, schlichtweg bestreitet. Ökonomie ist Schicksal. “Wirtschaftsflüchtlinge” gelten, bestenfalls, als national unzuverlässige Elemente, als unsichere Kantonisten und als Leute, die im Zweifelsfall dem gerechten Urteil, das der Weltmarkt über ihr heimatliches Kollektiv verhängt hat, individualistisch und auf eigene Faust zu entkommen suchen.

Und das mag der Deutsche gar nicht. Daher offenbart der Streit der staatstragenden Parteien um die Frage, wie dem eklatanten Mangel des Artikel 16 (2) am besten beizukommen sei – ob dadurch, daß alles Nähere und Weitere der Verwaltung und der Polizei überlassen wird, oder dadurch, daß das Asylrecht um ein Einwanderungsgesetz ergänzt wird, das, wie Daniel Cohn-Bendit vom Amt für Multikulturelle Angelegenheiten vorschlägt, die ökonomisch Tauglichen aus der Masse der Unbrauchbaren heraussortiert –, nur den interessierten Grundirrtum des Asylrechts selbst. Denn was die Gemeinschaft der Demokraten und was die sich anbahnende “große Koalition der Vernunft” gegen die Flüchtlinge, von der der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags (SPD) träumt, geflissentlich übersieht, das ist, daß der selbst von Antifaschisten über den grünen Klee gelobte Asylparagraph nicht einem einzigen Juden das Leben gerettet hätte. Noch die staatstragende Bewältigung des deutschen Faschismus setzt ihn als abgemachte Sache rundum voraus: Denn nicht deshalb wurden die Juden verfolgt und umgebracht, weil sie anders dachten, sondern deshalb, weil sie, zwecks bedingungsloser Zwangsbetonierung der bürgerlichen Gesellschaft zur Volksgemeinschaft, das ganz Andere zu sein hatten.

Das Asylrecht, das einen juristisch rekonstruierbaren Zusammenhang zwischen einer staatsfeindlichen Tat oder einer zumindest oppositionellen Absicht des Einzelnen und der ihm drohenden politischen Verfolgung zur Bedingung macht, wäre die beste legale Methode gewesen, die jüdischen Flüchtlinge abzuweisen. Von Staat und Kapital verhängte Kollektivschicksale, die mit dem konkreten Tun und Lassen Einzelner nicht das Geringste zu schaffen haben, kommen in einem Deutschland, das sich dem Kampf gegen die “Kollektivschuld” verschrieben hat, nicht vor. Schon daß verfolgt wird, wer politisch anders denkt oder sich gar verhält, ist einer postfaschistischen Gesellschaft das blanke Rätsel, in der jeder nach seiner Façon selig werden kann, weil die Meinung des Einzelnen soviel zählt wie seine Kaufkraft, das heißt, nationalökonomisch betrachtet, überhaupt nichts. Wer noch nicht einmal seine politische Funktion, sondern nur seine bloße soziale Existenz als Asylgrund geltend machen kann, der darf auf vollkommenes Unverständnis rechnen – und auf dessen Pendant, die unverhüllte Aggression. “An die Fiktion, politisch verfolgt zu sein, klammern sich viele Einwanderungswillige”, wußte Anfang September “Der Spiegel” zu berichten: “Allein letzten Monat haben 28.272 Menschen bei deutschen Behörden einen Asylantrag gestellt. … und das, obwohl nach dem Sturz vieler Diktaturen und dem Zusammenbruch nahezu aller kommunistischen Regime die Verfolgung von Andersdenkenden weltweit nicht zu-, sondern abgenommen hat.”

Der Weltmarkt ist totalitär. Das verschafft dem postfaschistischen Deutschland die gute Gelegenheit, als normalisierte Nation in die Notgemeinschaft der demokratischen Akkumulationsgewinnler sich einzuschleichen, die den “Eisernen Vorhang” durch eine Grenze, wie sie zwischen den USA und Mexiko besteht, abzulösen trachten. “Die Pläne eines Migrationsauffangbeckens im östlichen Mitteleuropa werden sich nicht leicht verwirklichen lassen”, weiß die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”. Und weiter: “Deutschland ist in den Augen der Sehnenden nicht irgendein Land westlichen Lebensstandards, sondern das ersehnte Land schlechthin.” So kommt die Konkurrenz bis zum Tode, die die Deutschen dem “auserwählten Volk” machten, an ihr so siegreiches wie gerechtes Ende.

“Asylbewerber sind keine Menschenfresser”: Die Aufklärung über das Wesen und die Absichten der Nicht-Deutschen, die der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel seinem Wahlvolk zuteil werden ließ, lebt von der durchaus unzutreffenden Unterstellung, daß es, organisierte die über die Nation hereinbrechende “Asylantenschwemme” (“Frankfurter Allgemeine”) die Nacht der langen Messer, tatsächlich Menschen an den Kragen ginge, nicht bloß Deutschen. Indem die Deutschen sich als Menschen aufspielen, versuchen sie, dem abgrü ndigen Haß, den sie auf die unproduktive, nutzlose, kosmopolitische und also im Prinzip jüdische Menschheit hegen, als Anthropologie pur, als das Wesen und die Bestimmung des Menschen auszugeben.

Nachgedruckt in Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten

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