Initiative Sozialistisches Forum – Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1993
Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1993
Dienstag, 20. April 1993
Herrn Friedrich Engels‘ Umwälzung der Wissenschaft
Oder: Warum die Kritik der politischen Ökonomie keine Wissenschaft ist
In seiner Schrift “Der Anti-Dühring” schwärmt Friedrich Engels vom erlösenden Umschlagen der “negativen Kritik” in die positive “kommunistische Weltanschauung”, in “eine exakte Darstellung des Weltganzen”. Indes, ob sich auch das Amöbendasein dialektischer Gesetze erfreut, ist für die Kritik der politischen Ökonomie durchaus uninteressant. Engels’ Enzyklopädiewahn ist jedoch die Urform einer langen Reihe grausamer Mißverständnisse der Marxschen Kritik als wissenschaftliche Theorie. Dabei stellt doch das kategorialkritische Verfahren im “Kapital” die Formen des Werts gerade in ihrer existierenden Widersprüchlichkeit dar, als – “verrückt”. Immerhin: An Engels läßt sich zeigen, was der historische Materialismus alles nicht ist. – Es spricht Stefan Krauss (Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 4. Mai 1993
Totale Vergesellschaftung und totale Herrschaft
Zur Aktualität des Totalitarismusbegriffs bei Hannah Arendt
Das wesentliche Merkmal totaler Herrschaft besteht nach Hannah Arendt darin, daß das Handeln der Menschen nicht mehr von konkreten Zielen oder Zwecken bestimmt wird, sondern nur noch dem abstrakten Gesetz einer permanenten Bewegung um der Bewegung willen unterworfen ist. Dieser Befund läßt es fragwürdig werden, ob die gegenwärtige, “posttotalitäre” Gesellschaft von der totalen so grundsätzlich verschieden ist. Jede politische Praxis, die in Kategorien denkt, über die die Wirklichkeit längst hinweggeschritten ist, dementiert sich selbst, um so mehr, als sie über jeden Selbstzweifel erhaben ist. Daß dieses Dilemma, dem sich Hannah Arendt ausgesetzt hat, auch für uns besteht, soll beispielhaft erläutert werden, indem der Rassismusbegriff, wie er unter Linken gängig ist, mit dem in Arendts “Ursprüngen und Elementen totaler Herrschaft” konfrontiert wird. – Es spricht Manfred Dahlmann (Hamburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 18. Mai 1993
Zwangsarbeit im Konzentrationslager
Im Gegensatz zu anderen zentralen Aspekten des nationalsozialistischen KZ-Systems war das in den Lagern eingerichtete System der Zwangsarbeit bisher kaum Gegenstand systematischer Analyse. Dies ist umso verwunderlicher, als es die in spezifischen Phasen verlaufende Entwicklung des Lagersystems kennzeichnet, daß die ökonomische Ausbeutung der Häftlingsarbeit von einer anfangs eher zweitrangigen zur zuletzt – die reinen Vernichtungslager ausgenommen – dominierenden Funktion der Konzentrationslager wurde. In der letzten Phase wurden die Lager zu Orten massenhaft konzentrierter Arbeitssklaven, deren Arbeitskraft in einem letzten ungeheuren Gewaltakt vor allem zu kriegswirtschaftlichen Zwecken ausgebeutet werden sollte. Unter den Vorzeichen dieser rüstungsproduktiven Zielsetzung entstand in organisatorischer Anbindung an die schon existierenden Hauptlager ein nahezu flächendeckendes Netz unzähliger sogenannter Außenlager. Für ein differenziertes Verständnis der Überlebensbedingungen der Häftlinge in diesen Lagern – aber nicht nur dort – bildet die detaillierte Analyse des Zwangsarbeitssystems einen unverzichtbaren Schlüssel. Er öffnet darüberhinaus theoretische Einsichten, die auch auf das System der kommunistischen Konzentrationslager übertragbar sind. – Es spricht Wolfgang Kirstein, Autor der Studie “Das Konzentrationslager als Institution des totalen Terrors. Das Beispiel des KL Natzweiler” (Centaurus Verlag, 1992).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 25. Mai 1993
“Die letzte Sensation der Moderne”
Über die Gegenwart Walter Benjamins
“‘Die Vorstellung vom Menschen ist von nun ab untrennbar von einer Gaskammer‘. Dieser Satz bezeichnet die ‘letzte Sensation der Moderne’“ (Klaus Briegleb). Der Vortrag behandelt die Präsenz der NS-Vergangenheit in der Gegenwartsliteratur, die| postmoderne Kulturindustrie und die Aktualität von Walter Benjamins Geschichtsreflexionen. Gegen die derzeitige Benjamin-Verkitschung beim Abfeiern der Jubiläen (100. Geburtstag, 50. Todestag) sollen die Widerständigkeit seiner Erinnerungsästhetik und vor allem sein geistesgegenwärtiges Denken in dialektischen Bildern herausgearbeitet werden. Die Provokation dieses Denkens im und für den kulturindustriellen Raum nach Auschwitz wird anhand von Verarbeitungen Benjaminscher Theoreme in der Gegenwartsliteratur gezeigt. Beispiele sind Rainald Goetz (“Kontrolliert”), Klaus Modick (“Das Grau der Karolinen”) und evtl. Peter Weiss. – Es spricht Gerhard Spaney (Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Freitag, 4. Juni 1993
Der Fremde als Herausforderung
Erstens verläßt niemand ohne Not seine Heimat (sondern jeder soll gefälligst da hocken bleiben, wo er herkommt); wenn der Ausländer aber – zweitens – schon mal da ist, dann ist es das mindeste, daß er eine echte Chance und Bereicherung darstellt. Was wir von den Ausländern bzw. wie wir mit ihnen besser umzugehen, auf jeden Fall aber: lernen können, und warum wir auf die Ausländer gar nicht verzichten können, es sei denn, wir wollten riskieren, daß das Müllabfuhr- und Evangelische Akademietagungswesen von einem Tag auf den anderen zusammenbräche – davon soll der Vortrag handeln. – Im Anschluß an den Vortrag zeigen thailändische Go-Go-Girls Tänze aus ihrer Heimat; ein Lesung antisemitischer Gedichte in einem der unzähligen unterdrückten kirkisischen Dialekte beschließt den Abend. Alle Interessierten sind herzlich willkommen, insbesondere diejenigen, denen es schwerfällt, kein Rassist zu sein, und die sich dabei ertappen, wie sie in der Straßenbahn ganz spontan rassistisch reagieren und sich fragen, ob das nicht vielleicht irgendwie auch etwas ganz normales ist und wir uns nicht manchmal einfach überfordern. – Es spricht Peter Schneider (Zürich), Psychoanalytiker und Rundfunkredakteur. Um 20 Uhr im Hörsaal 1009 (Kollegiengebäude l) der Universität.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 15. Juni 1993
“Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken”
Daniel Paul Schreber und die moderne Subjektivität
Die akribische Darlegung eines komplexen paranoiden Denksystems in Daniel Paul Schrebers “Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken” (1903) hat – von Sigmund Freud über Elias Canetti bis Jacques Lacan – viele divergierende Interpretationsversuche herausgefordert. Dieses große Interesse wird verständlich, wenn man die Qualität dieser Herausforderung berücksichtigt: Schreber konzipiert sein Denk system vor dem Hintergrund seiner Biographie und der Diskurse seiner Zeit mit wissenschaftlichem Anspruch und zum Zwecke der Selbstaufklärung – und arbeitet dabei dennoch unentwegt an einem buchstäblich grandiosen Mythos. In Schrebers Text sind mithin die Verwerfungen des modernen Denkens, insbesonders die Gegenlage von Mythos und Aufklärung, und die brüchigen Spannungsfelder moderner Erfahrung in seltener Prägnanz eingeschrieben. Von der materialen Analyse des Schreberschen Textes ausgehend, kann thematisch zur allgemeineren Frage nach der Konstitution moderner Subjektivität übergegangen werden, wobei dann auch die historischen Bedingungskonstellationen der Gegenwart zu diskutieren sind. – Es spricht Uwe Weissenbacher (Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 25. Juni 1993
Psychologie und Rassismus
Zur Kritik neuerer sozialpsychologischer Erklärungsversuche
Trotz aller öffentlichen Nachfrage nach psychologischen oder sozialpsychologischen Theorien, die eine Erklärung von Nationalismus, Neonazismus und Rassismus versprechen, wird die kritische Sozialpsychologie der 20er Jahre, die sich eben diesen Phänomenen widmete, kaum herangezogen. Ein Grund dafür ist sicher die neue Begeisterung für Autorität, die viele “Alt 68er” von den “staatsbürgerlichen Tugenden” schwärmen läßt, ohne die “die Politik kaputtggeht” (Claus Leggewie). Eine Konsequenz dieses Versäumnisses ist Rationalisierung: die “Risikogesellschaft” sei eben überkomplex und die Jugend verarbeite ihre “Entfremdungsangst” mittels “Überfremdungsangst” (Wilhelm Heitmeyer), oder sie ließe, im Osten, ihrem “Gefühlsstau” (Maaz) die Zügel. Eine andere Konsequenz ist die Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit: man wirft sich mangelndes Verständnis für die Eltern vor und kritisiert – so der Freiburger Psychoanalytiker Tilman Moser beim Wiederlesen von Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch “Die Unfähigkeit zu trauern” – den eigenen adoleszenten Überschwang und Nihilismus. So kommt es, daß man wenig über die Psychologie des Rassismus erfährt und um so mehr über die Psyche der Psychologen. – Es spricht Sophinette Becker (Frankfurt), die in der Abteilung für Sexualwissenschaft des Klinikums der Universität arbeitet und Mitherausgeberin der ‘Zeitschrift für Sexualforschung’ ist.
Um 20 Uhr im Hörsaal 1009 (Kollegiengebäude l) der Universität
Dienstag, 29. Juni 1993
Haß auf Ausländerhaß?
Angesichts eines neuen, griffigen Feindbildes, des “rechtsradikalen Deutschland”, ist es doppelt angebracht, die Instrumente der Selbstkritik zu schärfen, damit die Kritik nicht zu einer “unsauberen” Technik, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen teils nachzuäffen, teils anzuheizen, verkommt. Die Theorie muß den gesellschaftlichen Zusammenhang erarbeiten und die manifesten Gegensätze “gedanklich” zum Verschwinden bringen. Auch die politische Praxis darf sich nicht in der “Abschaffung” der Neonazis erschöpfen, sondern muß eine – als praktische durchaus spalterische – Methode zur Erforschung des Zusammenhangs sein. – Es spricht Ilse Bindseil (Berlin), die zuletzt das Buch Streitschriften veröffentlicht und mit Monika Noll das Jahrbuch “Frauen III: F wie weiblich herausgegeben hat.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Dienstag, 13. Juli 1993
Der Tod und die negative Dialektik der Triebe
Der unversöhnliche Antagonismus zwischen Lebens- und Todestrieb, den Sigmund Freud in seinem Alterswerk entwickelte, stieß besonders bei marxistischen Psychoanalytikern auf Kritik: die harmonische Utopie einer kommunistischen Gesellschaft war damit nicht zu machen. Tatsächlich formulierte der bürgerliche Kulturpessimismus mit dem ‘Unbehagen in der Kultur’ die individualpsychischen Mechanismen dessen, was die adornitische Linke später die ‘totale Vergesellschaftung’ nennen wird. Das Subjekt nämlich, durch kulturelle Sanktionen weitgehend der Möglichkeit beraubt, seine Aggressionen an anderen zu befriedigen, wird selbst zum Opfer des Todestriebes. Aus dieser Perspektive lassen sich die Abenteuer militanter Politik auch als durchaus sinnvolle Therapieversuche bewerten, der kulturimmanenten Autodestruktion zu entkommen: Der Stein im Schaufenster einer Bank ist allemal besser als ein Geschwür im Magen. – Es spricht Udo Bühler (Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)