jour fixe Programm Herbst/Winter 2006/07
Jour Fixe Programm Herbst/Winter 2006/07
Mittwoch, 25. Oktober 2006
Psychoanalyse der Deutschen
Über die negative Aufhebung des Subjekts
Der Nazifaschismus hat die Bedingung der Möglichkeit zerstört, die Gesellschaft, wie immer auch ideologisch, als Interaktionszusammenhang, bei dem es auf Motivation noch irgend ankäme, sich intellektgerecht zurecht zu legen. Das trifft die Kategorie des Subjekts ins Mark. Nicht mehr kann sie, emphatisch, wie bei Sigmund Freud, als Anweisung darauf betrachtet werden, das “Ich” gegen seine angeborenen Feinde zu verwirklichen; vielmehr ist sie als die Inkarnation des Zwangs zur Identität zu verhandeln. Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft ins totale Mordkollektiv zeigt, daß das “Subjekt” keineswegs der Ort freier Selbstbestimmung und vernünftiger Spontaneität ist, sonder nur eine juristische, eine politökonomische Kategorie des Warentausches, eine Kategorie des BGB. Wie die Ware, das hat Alfred Sohn-Rethel gezeigt, unterm identischen Preisschild den Naturprozeß still stellt und als Realabstraktion verfährt, so zwingt das Subjekt als vom Staat mit Gewalt bewehrte “fictio juris” (Marx) und d.h. Realfiktion, das konkrete Individuum, der kontrafaktisch unterstellten Identität (und Kontinuität) des freien Willens sich anzubequemen, d.h. sich, als Natur, stillzustellen. Da kochen die Ressentiments auf, nicht zuletzt auch der antisemitische Wahn. Deutschland, der Mordzusammenhang, setzt die Psychoanalyse außer Kraft. Es gab keine Rache für Auschwitz, und wenn das Gesetz der Äquivalenz aufgehoben ist, dann ist alles möglich. Wie im Traum. – Es spricht Joachim Bruhn (ISF, Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 8. November 2006
Warenfetisch und Kulturindustrie
In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht Marx zufolge die tote Arbeit über die lebendige. In der Kulturindustrie wird gleichsam die tote Arbeit selber zum Leben erweckt, um die Konsumenten, als welche ihr die Produzenten nach Feierabend gegenübertreten, in lebende Leichen zu verwandeln. Die Produkte der Kulturindustrie demonstrieren auch den über Hunger und Elend Erhabenen, was Marx gemeint hat, als er über die modernen Erfindungen sagte, “daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.” Die Kulturindustrie, forderten Horkheimer und Adorno, müsse ernster genommen werden, als sie es von sich aus möchte. Daran ist nicht zu zweifeln: immer weitere Bereiche der kapitalistischen Produktion haben sich seither der “Kultur” verschrieben, den “notwendigen Überflüssigkeiten” (Balzac), die indes zu den Notwendigkeiten einer Produktionsweise gehören, die ohne solcherart Überfluß gar nicht existieren könnte. Notwendig sind diese Produkte nicht nur als Waren, deren Absatz die Akkumulation des Kapitals befördert, sondern im besonderen auch als “Kulturgüter”. Durch deren Konsum erst bewähren sich die Menschen als Mitglieder der Gesellschaft, die in ihrem sogenannten Überbau bisweilen ebenso gnadenlose Anforderungen stellt wie an der materiellen Basis, an der jeder einzelne außer seinem täglichen Brot auch das Geld für seine kulturellen Selbstentwürfe zu verdienen gezwungen ist. Indem er diese ihm eingeräumte Freiheit ausfüllt, trägt er in doppelter Funktion dafür Sorge, daß ein Produktionsverhältnis, in dem man ihm selbst das Brot täglich wegzunehmen droht, sich am Leben erhält. Der Konsument betätigt sich zugleich als Ideologe seines eigenen Verhängnisses. Wenn die Kritik der Kulturindustrie weder als Entrüstung der kultivierten Bürger über den Verlust ihres Privilegs noch als schlichte Priestertrugstheorie verstanden, sondern als eine an Marx orientierte Kritik der kapitalistischen Kulturwarenproduktion ernst genommen werden soll, stellen sich Fragen, auf die man bei Adorno keine Antworten findet. Einer davon, nämlich der nach der Bedeutung des Warenfetischs in der Kritik der Kulturindustrie, soll hier nachgegangen werden. – Es spricht Christoph Hesse (Rote Ruhr-Uni, Bochum), Autor von “Filmform und Fetisch” (Aisthesis-Verlag Bielefeld, 2006).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 22. November 2006
“Was keineswegs einst war”
Die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft ist als eine klandestine Verbrechergemeinschaft zu verstehen. Abgesehen von den Emigranten und wenigen unliebsamen Ausnahmen waren der überwältigende Teil der Überlebenden, mittelbar oder unmittelbar, in die Verbrechen des Krieges und der industriellen Vernichtung von Menschen verwickelt. Hier ist nicht von einer Kollektivschuld die Rede, sondern davon, daß, wie gesagt, mit wenigen Ausnahmen, jeder Einzelne mittel- oder unmittelbar mitgetan hat. Vor diesem Hintergrund ist das große Schweigen, das bis in die späten 1960er Jahre und über diese hinaus andauerte, zu verstehen. Dieses große Schweigen deutscher Zunge, das seinerseits die Kontinuitäten nationalsozialistischer Einflußnahme nach 1945 ermöglichte, kennt jede und jeder Nachgeborene aus der eigenen Familiengeschichte. Über dieses Schweigen in seiner Erscheinungsform als Philosophie der Geschichte spricht Winfried Meyer (Leipzig), Autor des gerade bei ça ira erschienenen Buches “‘Was keineswegs einst war‘. Von der Leugnung der Realgeschichte in der deutschen Nachkriegsphilosophie”.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Donnerstag, 23. November 2006
Freiburg in der NS-Zeit
Antifaschistischer Stadtrundgang
An exemplarischen Stationen wird aufgezeigt, was in Freiburg passierte, wie die Arisierung organisiert wurde, welche Menschen wo gelebt haben, die ihre Wohn- und Lebensstätte verlassen mußten. An der Universität wird vom Rektorat Martin Heideggers im Frühjahr 1933 die Rede sein. Der Rundgang endet gegen 17 Uhr am Platz der Alten Synagoge. – Es führt und kommentiert E. Schlesiger.
Treffpunkt um 15.30 Uhr am “Basler Hof”, Kaiser-Joseph-Straße (gegenüber Buchhandlung Herder).
Mittwoch, 6. Dezember 2006
Der Zionismus des Proletariats
Auf dem Gründungskongreß der Zionistischen Bewegung 1897 in Basel spielten sozialistische Ideen keine Rolle. Dies verwundert nicht, denn hätte es Versuche gegeben zionistische Ideen mit sozialistischen zu vermischen, wäre das wohl auf erbitterten Widerstand gestoßen. Schon wenige Jahre später hatte sich das Bild radikal gewandelt. Zionistisch-sozialistische Parteien waren zu einem integralen Bestandteil der Bewegung geworden und in weniger als drei Jahrzehnten zur dominanten politischen Kraft im damaligen Palästina. So dominant, daß man von der “Diktatur der zweiten Aliyah” (hebr.: Aufstieg) sprach. Die Vorherrschaft der sozialistischen Arbeiterparteien sollte nicht nur die Phase bis 1948 prägen, sondern, in ihrer sozialdemokratischen Spielart, auch die drei Jahrzehnte nach der Staatsgründung. Diese Fraktion der israelischen Arbeiterbewegung bestimmt auc h heute noch das Bild der sozialistischen-zionistischen Arbeiterbewegung außerhalb Israels. Namen wie Ber Borochow oder Nachman Syrkin, die den Zionismus mit der sozialistischen Revolution verbanden, sind darüber in Vergessenheit geraten. – Es spricht Stefan Braun (Wiesbaden), Co-Autor des von Alexandra Kurth herausgegeben Buches “Insel der Aufklärung. Israel im Kontext” (Gießen: Netzwerk-Verlag 2005).
Muß wegen Krankheit leider ausfallen
Samstag, 9. Dezember 2006
Gesellschaft, Wahrheit, Revolution
Tagesseminar: Einführung in die Erkenntniskritik
Seitdem der Bürger, der den Gegensatz von Bourgeois und Citoyen in sich vereinigte und seiner konstitutiven gesellschaftlichen Rolle deshalb noch bewußt war, durch die Funktionselite so endgültig ersetzt wurde wie der klassenbewußte Arbeiter durch die Konsummonade, verzichten die akademisch bestallten Theorieproduzenten darauf, die geistigen und materiellen Voraussetzungen von Gesellschaft zu reflektieren. Sie haben sich der Aufgabe entledigt, für die sie früher bezahlt wurden: Ideologien zu entwerfen, die es den Bürgern erlaubten, sich über die Unvernunft ihrer ureigenen Wirklichkeit hinwegzulügen. Das Kapital ist mittlerweile nichts als reiner Funktionszusammenhang, dem das Subjekt nahtlos sich einpaßt; auch die letzten Illusionen, die Welt gestalten zu können, sind verflogen. Allseits herrscht ein “heroischer Realismus”. Ideologie und Wirklichkeit fallen in eins: weshalb der Intellektuelle bestenfalls noch als Pädagoge und Therapeut gebraucht wird, der die Schafe zusammenzuhalten hat. Will die Kritik angesichts dessen, daß ihr mit dem selbstreflexiven Subjekt nicht allein der Adressat, sondern damit auch die Vorbedingung einer freien Gesellschaft verlorengegangen ist, nicht kapitulieren, hängt alles davon ab, ob es gelingt, zumindest die Erinnerung an die Zeit, in der es den selbstbewußten Bürger noch gab, wachzuhalten. In diesem Sinne soll erörtert werden, worum es eigentlich ging, als noch ernsthaft Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie betrieben worden ist.
Von 12 bis 19 Uhr im Büro der ISF, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage). Anmeldung bei jedem Jour fixe; dort ist auch ein Vorbereitungsreader erhältlich.
Mittwoch, 20. Dezember 2006
Die Logik des Ganzen
Vernünftig eingerichtet wäre eine Gesellschaft, die die Freiheit der Individuen zum Zweck hat, also die Menschen von den Zwängen der Natur emanzipiert ohne dabei selbst zur “zweiten Natur” (Marx), d.h. zur Fessel zu werden. Diese Gesellschaft ist bisher ein Rätsel geblieben. Allein was sie nicht ist, läßt sich darstellen. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die propagierte Freiheit der Individuen formell und bedroht; als “invisible hand” ist die Allgemeinheit, die dem Individuum vorgeordnet ist und deretwegen es notfalls Opfer zu bringen hat, verhohlen thematisiert.. Im Staatssozialismus wurde diese Aufopferung zur allgemeinen Bürgerpflicht. Wer ausscherte, hatte die Allgemeinheit, nämlich die – durch Marx “wissenschaftlich” belegte und vom Staat behütete – Dialektik der Geschichte gegen sich. Im Nationalsozialismus wird die eigentliche Allgemeinheit prinzipiell wider das jüdische Prinzip vorgestellt, dessen Vernichtung einen opferreichen Kampf erfordere. Ob verhohlen wie in der bürgerlichen Gesellschaft, als Tribut an den Kommunismus wie im real existierenden Sozialismus oder als Wahn wie im Nationalsozialismus – es waltete die Logik einer vermeintlichen Allgemeinheit wider das Individuum. Heute ist der Islamismus die reinste und wahnhafteste Praktizierung dieser Logik. Im Vernichtungskampf gegen Israel und für die absolute islamische Umma löschen sich die Djihadisten stolz und bereitwillig aus. – Es spricht Hannes Gießler (Leipzig). Er schreibt für das Conne Island-Info “Cee Ieh” (www.conne-island.de/nf), erforscht in einer “Gruppe in Gründung” (www.gig-leipzig.com) das Scheitern der kommunistischen Bewegung und engagiert sich in einem Bündnis gegen Antisemitismus (www.israel-soli.de
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 10. Januar 2007
“Dann fangen wir von vorne an.”
(Über)Leben eines kritischen Kommunisten im 20. Jahrhundert
Ein Film über Theodor Bergmann
Theodor Bergmann: Sohn eines Rabbiners und atheistischer Kommunist, verfolgt während des Nationalsozialismus und per Haftbefehl gesucht in der sowjetischen Besatzungszone, Melker im schwedischen Exil, dann Professor für Agrarpolitik an der Universität Suttgart-Hohenheim. Das alles paßt kaum in ein Leben. Dennoch sind das längst nicht alle Stationen im Leben Theodor Bergmanns. Der 90jährige ist sowohl Zeitzeuge als auch Zeitgenosse. Denn der gebürtige Berliner kann sich nicht nur sehr genau erinnern: Wenn er erzählt, wird das Vergangene präsent. Prägnant und humorvoll schildert er ein ganzes Jahrhundert. In diesem Film reist Theodor Bergmann seiner eigenen Geschichte hinterher: In einem Streifzug durch Berlin zeichnet er das Bild seiner Kindheit in einer achtköpfigen Familie in den 20er Jahren und erzählt seine Entwicklung zum oppositionellen Kommunisten, der die Politik der KPD schon früh zu kritisieren lernte. In Israel erzählt er von seiner Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland, vom schwierigen Aufbau des jüdischen Staates und von seiner Entscheidung, nach Europa zurückzukehren. Doch nicht nur der Zeitzeuge Bergmann kommt zu Wort. Auch der Zeitgenosse, der aktive Gewerkschafter und Autor zahlreicher Bücher, dessen Triebfeder trotz aller leidvollen Erfahrungen ein ungebrochener Optimismus ist. Dieser “historische Optimismus”, so Theodor Bergmann, speist sich aus der bis heute bewahrten Überzeugung, “daß es trotzdem anders geht”.1916 in Berlin geboren, wächst Theodor Bergmann in einer jüdischen Familie auf. 1933 flüchtet er alleine nach Palästina. 1936 kehrt er nach Europa zurück, um sich in Tschechien am antifaschistischen Widerstand zu beteiligen. 1938 flieht er weiter nach Schweden, wo er als Landarbeiter das Ende des Krieges erwartet. 1946 sucht er in Deutschland nach überlebenden Genossen, läßt sich in Stuttgart nieder und wird Professor für Agrarpolitik. – Filmvorführung in Gegenwart von Theodor Bergmann (Stuttgart, Autor u.a. von “Gegen den Strom. Geschichte der KPD-Opposition” im VSA-Verlag) sowie der Filmemacher Thorsten Fuchshuber, Julia Preuschel, Gabriele Reitermann und Danièle Weber (Weiteres zum Film ab Anfang Dezember unter: www.dann-fangen-wir-von-vorne-an.de).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 24. Januar 2007
Der dialektische Widerspruch im Kapital
Eine Debatte über die Grundlagen der marxschen Kritik
These:
Unter dem Titel “Dialektik der Wertform” hat Hans-Georg Backhaus eine Kritik an Marx‘ Wertformanalyse geübt mit dem – Hegels Logik Maßstabfunktion verleihenden – Vorwurf, Marx werde der Hegelschen Logik, insbesondere der “dialektischen Bewegung” der “Wesenslogik”, nicht gerecht. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, Marx würde von Hegel in der Logik entwickelte Bewegungsformen des “absoluten Geistes” auf die ökonomisch gesellschaftlichen Verhältnisse anwenden und diese dadurch mit einer mystisch irrationalistisch verbrämten dialektischen Methode auf eine unangemessene und modernen Wissenschaftskriterien nicht mehr gerecht werdende Weise im Kapital darstellen. Um dieses Vorurteil zu widerlegen und die Rationalität der dialektischen Methode im Kapital nachzuweisen habe ich mich in dem Buch “Der dialektische Widerspruch im Kapital” kritisch mit Backhaus‘ Interpretation auseinandergesetzt. In die Diskussion der konträren Interpretationen dieser für das Verständnis der dialektischen Methode im Kapital bedeutsamen Abstraktionsstufe der Darstellung soll die Beantwortung der Frage einbezogen werden, warum diese Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft zugleich deren Kritik ist. Dies soll nicht geschehen, ohne darauf einzugehen, auf welche jeweils davon verschiedene Weise es auch in Kants drei “Kritiken” und Hegels “Philosophischem System der Wissenschaften” um die Einheit von Darstellung und Kritik geht.(Dieter Wolf)
Antithese:
Mag sein, daß Backhaus der Hegelschen Logik “Maßstabsfunktion” zuspricht. Dann hätte er unrecht und recht zugleich: Er unrecht, und Wolf recht, insofern Backhaus Marx eine “falsche Anwendung” der Logik auf seinen Gegenstand, das Kapital, vorwirft. Denn mit dem Kapital ist die Wirklichkeit zwar dialektisch konstituiert, aber ohne jede Vernunft, d.h. das Kapital entspricht nicht dem Grundprinzip der Hegelschen Logik, und diese ist deshalb auch nicht “anzuwenden”. Daraus kann man Marx aber keinen Vorwurf machen: denn daß die Wirklichkeit des Kapitals nicht der dialektischen Logik folgt, das gerade ist ja der Skandal. Recht hätte Backhaus, und unrecht dementsprechend Wolf, wenn mit der Rede von der Maßstabsfunktion darauf rekurriert wird, daß deren zentralen Begriffe, d.h.: Totalität, Identität, Negation, Selbstreflexion, Selbstbewußtsein, Wesen und Erscheinung etc. pp., Gedankenbestimmungen sind, die der Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis immer vorausgehen. Gegen Dieter Wolf wäre also darauf zu bestehen, daß die Reproduktion der Wirklichkeit im Denken nicht voraussetzungslos zu haben ist, d.h. daß die Darstellung der Wirklichkeit auf einer Logik des Denkens beruht, die diese stets transzendiert. Daraus folgt: es ist unzulässig, in der Darstellung der Logik des Kapitals davon zu abstrahieren, daß die “Waren nicht allein zu Markte gehen können” (Marx), sondern es muß klar sein, daß die Waren einen Träger, das kapitalistisch konstituierte Subjekt, benötigen. Erst im Rekurs auf diese Subjektkonstitution kann entschieden werden, wie plausibel Wolfs Thesen sind. Oder anders: Widersprüche bewegen aus sich selbst heraus gar nichts; dies setzt immer ein individuiertes Subjekt voraus, das “will”. Das hat natürlich Folgen für den Begriff der Kritik: Zusammenfallen können Darstellung und Kritik nur dann, wenn die Darstellung ein seiner Verantwortung für das Funktionieren des falschen Ganzen, also des Kapitals, bewußtes Subjekt trifft. Wenn nicht, könnte man auf den Begriff der Kritik, und den Kampf für den Kommunismus, getrost verzichten. In Frage steht, ob Dieter Wolfs Thesen dieser Falle entgehen. (Manfred Dahlmann)
Ergänzung:
Gemäß der Darstellungsebene, die das zweite Kapitel des Kapital auszeichnet, in dem es um das allgemeine Äquivalent als Resultat der “gesellschaftlichen Tat” geht, beginnt Marx die Analyse der Ausgangssituation des Austauschprozesses mit dem Satz, die “Waren können nicht selbst zu Markte gehen”, weshalb man sich nach ihren “Hütern umsehen” muß. Warum betont Marx diese Allerweltsweisheit, die dem schlichten Tatbestand Rechnung trägt, daß es die Menschen sind, die die ökonomisch gesellschaftliche Wirklichkeit schaffen und gestalten, erst im zweiten Kapitel nach der Entwicklung der Wertformen, die der Gegenstand des ersten Kapitels ist? Der Grund liegt darin, daß die Warenbesitzer “Subjekte” sind, die auf eine ganz bestimmte Weise “kapitalistisch konstituiert” sind, die man nur angemessen begreifen kann, wenn man inhaltlich verbindlich nachvollzieht, worum es in den ersten beiden Kapiteln, die die sich wechselseitig bedingen und ergänzen, jeweils geht. Der “Rekurs auf die Subjektkonstitution” macht die Beantwortung folgender Fragen erforderlich. Gibt es in den ökonomisch gesellschaftlichen Verhältnissen etwas, daß erklärt, auf welche unbewußte und bewußte Weise sie von den Menschen geschaffen und gestaltet werden? Liegt es an der historisch spezifischen Form der ökonomisch gesellschaftlichen Verhältnisse, dass es bei allem, was die Menschen von ihnen wissen, etwas gibt, das sie nicht wissen und sogar noch wesentlich das bestimmt, was sie wissen? Im Rahmen der Warenzirkulation soll es ausdrücklich um den “Rekurs auf die Subjektkonstitution” gehen, was ich vor der Kenntnisnahme des Textes von Manfred Dahlmann nicht gewußt habe. Dieser “Rekurs” hat für mich nur Aussicht auf Erfolg, wenn man versucht, zu verstehen, auf welche Weise es in den ersten beiden Kapiteln des Kapital als unterschiedlichen Abstraktionsstufen der methodischen Darstellung um die Erklärung eines bestimmten Zusammenhangs von ökonomisch gesellschaftlichen Strukturen und dem unbewußt-bewußten Handeln der Menschen geht. (Dieter Wolf)
Es diskutieren Dieter Wolf (Berlin) und Manfred Dahlmann (Freiburg). Dieter Wolf ist u.a. Autor von “Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur marxschen Werttheorie” (Hamburg: VSA-Verlag 2002), weitere seiner Beiträge finden sich auf www.dieterwolf.net. Texte und Thesen von Manfred Dahlmann (ISF) finden sich unter www.isf-freiburg.org in der Rubrik “Beiträge”.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 7. Februar 2007
Jargon der Demokratie
Über den neuen Behemoth
Staaten sind Monster. Diese Metapher, die Hobbes für staatliche Herrschaft fand, wäre unter keinen, noch so demokratischen Umständen fallenzulassen; sowenig wie Hegels Einsicht, daß zwischen derartigen Geschöpfen das Recht nicht wirklich existieren kann, sondern nur Gewaltverhältnisse. Gegenseitige Abschreckung vermag hier Verträge und die Einhaltung von Konventionen zu garantieren, aber nur, wenn die Konstellation der Staaten gerade günstig ausbalanciert ist. Der neue Behemoth ist jedoch kein politisches Ungeheuer wie jedes andere, es läßt sich nicht abschrecken und man erkennt nur schwer seine Konturen. An einem Ende ist es zutraulich wie ein sanftes Haustier oder die Kommunikationstheorie von Habermas; am anderen mordende Bestie, die den Koran aufsagt. Das vollständige Monster erwächst aus der Toleranz gegenüber islamistischen Rackets und Theokratien. Die theoretischen Analysen der “Totalitarismus-Forscherin” Hannah Arendt und die politischen Interventionen der US-amerikanischen Neokonservativen können zumindest eines: Licht auf die Silhouette des ungreifbaren Unwesens werfen; und die Freudsche Annahme, es gebe womöglich einen Todestrieb, bietet eine brauchbare Arbeitshypothese, den inneren Antrieb des Ganzen zwar nicht zu begreifen aber kenntlich zu machen. – Es spricht Gerhard Scheit (Café critique, Wien) aus Anlaß des Erscheinens seines Buches “Jargon der Demokratie” im ça ira-Verlag.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Caf é, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Mittwoch, 21. Februar 2007
Das Unbehagen an der Kulturindustrie
Über die situationistische Kritik des Spektakels
Die neue Organisationsweise der Gesellschaft des Spektakels, die sich durch die so genannte dritte technologische Revolution, die Entwicklung der Mikroelektronik, ergibt, verschärft die generelle gesellschaftliche Krise auch im Hinblick auf die Kulturindustrie. Die neuen Produktivkräfte entwerten einen großen Teil der geistigen Fähigkeiten auf eine ähnliche Weise, wie früher das handwerkliche Geschick durch die industrielle Produktion entwertet wurde. Diese Krise hat sich im Jahr 2003 exemplarisch in der Bewegung der französischen Kulturprekären manifestiert. Auf dem zersplitterten Terrain der Spektakelproduktion führen sie einen selbstorganisierten Interessenkampf gegen die Einschränkung ihrer Arbeitslosenbezüge. Die Sabotage der großen Sommerfestivals sorgt in ganz Europa für Furore. Doch nach einigen Wochen setzt eine inhaltliche Regression der Bewegung ein. Die bornierte Forderung nach einer “Rettung der französischen Kultur” durch staatliche Subventionierung tritt in den Vordergrund, die Rolle des Künstlers und seine Funktion in der Gesellschaft des Spektakels wird von der Kritik ausgenommen. Erneut bewahrheitet sich, was Jaime Semprun bereits Mitte der siebziger Jahre festgestellt hatte: “Während unter den Spezialisten der Repression zweifellos Leute existieren, die über die Gefährlichkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krise klar genug sehen, unterhalten die Lohnabhängigen der Kultur und der spektakulären Information mehr als irgendwer sonst Illusionen über ihren eigenen Bluff und finden in den Bildern reformistischer Ausrichtung und euphorischer Neuerung, die sie selbst serienmäßig herstellen, ein tröstliches Motiv. – Es spricht Bernd Beier (Redaktion “Jungle World”, Berlin), Co-Autor des von Stephan Grigat, Johannes Grenzfurthner und Günther Friesinger herausgegebenen Buches “Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale” (Verbrecher Verlag, Berlin 2006).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage).
Samstag, 24. Februar 2007
Kapital und Souveränität
Tagesseminar: Einführung in die materialistische Staatskritik
Die Ideologie der Politik zieht ihre Ratio aus dem Vertrag zwischen Freien und Gleichen als der zentralen Institution der Vergesellschaftung durch den Tausch. Wenn das, was in Deutschland links auftrumpft, die Auffassung vertritt, es gelte, so Oskar Lafontaine, eine “Politik für alle” zu erkämpfen, d.h. das, was seit den Tagen der Agitation Ferdinand Lassalles für den “Volksstaat” oder auch Lenins Revolution für den “Staat des ganzen Volkes” als “Demokratisierung” sattsam bekannt ist, dann kommt die Ideologie der Politik an ihr Ende: die Einheit von Bürger und Staat – die Volksgemeinschaft – bekennt sich in der Idee, die Souveränität sei das Instrument der gesellschaftlichen Selbstbestimmung. Die marxsche “Kritik der politischen Ökonomie” dagegen tritt auf als Kritik der politischen Ökonomie, die von Anfang an die Einheit von Ökonomie und Politik, von Ausbeutung und Herrschaft, d.h. von Kapital und Souveränität darstellt. Alle Kategorien dieser Kritik sind ökonomisch und politisch zugleich. Insofern sie aus der vermittelten Identität von Ausbeutung und Herrschaft entspringen, gilt die Souveränität als nur eine, wenn auch die gegenwärtige Form der Knechtschaft. Als Kritik, die dem kategorischen Imperativ folgt, die Spaltung der Gattung aufzuheben, zielt sie nicht auf die Aufhebung, sondern auf die Abschaffung des Staates.
Von 12 bis 19 Uhr im Büro der ISF, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage). Anmeldung bei jedem Jour fixe; dort ist auch ein Vorbereitungsreader erhältlich.