Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 2012
Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 2012
Mittwoch, 25. April 2012
Warum können Marxisten nicht lesen?
Der Anfang des Marxschen “Kapital” und das Ende des Kapitalismus
Die Marxisten aller Fraktionen haben es sich darauf versteift, “Das Kapital” von Marx als alternatives Handbuch der Volkswirtschaftslehre lesen zu wollen und sodann zu ihrem höchst eigenem Nutzen zu bewerben. Am allerliebsten diskutieren sie die Frage, die ihnen die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” pünktlich zu Beginn der neuesten Krise vorgelegt hat: “Hat Marx doch recht?” Wenn sie derart nachgefragt werden, dann läuft nicht nur Sahra Wagenknecht zu großer Form auf, dann sind sie alle in ihrem Element: dem Rechthaben über die gesellschaftliche Organisation des größtmöglichen Unglücks der größtmöglichen Zahl, und d.h.: dem Wahrsagen einer Vergesellschaftung, die doch an sich die Widervernunft schlechthin darstellt. Daher greift, lange bevor die Interpretationen in aller, wie immer ganz unschuldiger Originalitätssucht sich überbieten, unter den Marxisten der Analphabetismus um sich: kaum einer, der nicht behauptet, Marx beginne seine “Analyse” mit der “Elementarform” der Ware. “Überlesen” wird so, daß der Materialismus das der “Analyse” Vorausgesetzte, dessen gesellschaftliche Konstitution, kritisiert, und erst dann der totalitären Entfaltung der Widervernunft hinterherdenkt; “überlesen” wird außerdem, daß Marx “Das Kapital” keineswegs mit der Ware anfängt, daß der erste Satz des Buches vielmehr lautet: “Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‘ungeheure Warensammlung’, die einzelne Ware als seine Elementarform.” Indem Marx mit dem Reichtum beginnt, der als das gerade Gegenteil seiner selbst gesellschaftlich zu “erscheinen” genötigt ist, wird zugleich gezeigt, daß das Ende und die Aufhebung des Kapitals, d.h. seine Wahrheit, kein Gegenstand von Theorie sein, daß es keine Wahrheit über das Kapital geben kann. – Es spricht Joachim Bruhn (Freiburg), Co-Autor u.a. “Das Konzept Materialismus” der Initiative Sozialistisches Forum (ça ira-Verlag).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Mittwoch, 9. Mai 2012
Johann Georg Elser – ein Terrorist?
Johann Georg Elser brachte am 8. November 1939 eine selbstgebaute Bombe im Münchner Bürgerbräukeller zur Detonation – und verfehlte das Hauptziel Adolf Hitler nur durch Zufall. Es war der Kunstschreiner Elser, der 1938, im Jahr des pazifistisch gesinnten Münchner Abkommens, in einsamer Entscheidung seine “politische Beurteilungskompetenz” (Lothar Fritze) überschritt und sich ohne jede Rückendeckung entschloß, den Nazi-Terror an seinem mythischen Ursprungsort zu terrorisieren. Der “Bürgerbräu-Attentäter” sah sich einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gegenüber, die, anders als herkömmliche Diktaturen, den “Gehorsam ohne Befehl” (Clemens Nachtmann) kultivierte. Präzise wie nur Wenige begriff Elser, was unbedingt zu tun war und daß es doch wohl kaum etwas gegen die Tendenz einer sich barbarisch auflösenden deutschen Gesellschaft ausgerichtet hätte. Der Vortrag möchte die daraus erwachsene Einsamkeit des “fähigsten Hitlergegners” (Hellmut G. Haasis) auf den Begriff bringen. Dabei wird zum einen untersucht, warum der ideologische Schutt aus Verschwörungstheorien, interessierten Mißverständnissen und Gerüchten über dem Attentat so schwer abzutragen war – und ist. Zum anderen wird es um die damit verbundene Frage gehen, wie politische Gewalt eines Einzelnen begründbar und warum praktische Vernunft spätestens seit dem deutschen Vernichtungskrieg mit dem Pazifismus unvereinbar geworden ist. Es spricht Matheus Hagedorny (Gruppe Georg Elser, Bonn).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Vortrag als downloaden / anhören
Samstag, 12. Mai 2012
Freiburg in der NS-Zeit
Antifaschistischer Stadtrundgang
An exemplarischen Stationen wird gezeigt, was in Freiburg nach 1933 passierte, wie die Arisierung organisiert wurde, welche Menschen wo gelebt haben, die ihre Wohn- und Arbeitsstätten verlassen mußten. An der Universität wird vom Rektorat Martin Heideggers im Frühjahr 1933 die Rede sein. Der Rundgang endet gegen 17°° am Platz der Alten Synagoge. – E. Imbery führt und kommentiert.
Treffpukt um 14 Uhr, “Basler Hof”, Kaiser-Joseph-Str., (gegenüber Buchhandlung Herder).
Mittwoch, 23. Mai 2012
Georg Lukács und die Ohnmacht der Arbeiterklasse
Daß “die Weltrevolution um die Ecke ist”, wie sich Leo Löwenthal einmal ausdrückte, war nicht nur für viele Linke in den Jahren nach der Oktoberrevolution gewiß. So auch für Georg Lukács. Warum sich allerdings das “Tempo der Entwicklung der Revolution” verlangsamt hatte und wie diese Einsicht mit der “Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte” zusammenhing, diese Frage wollte Lukács beantworten. Vor dem Hintergrund von Krieg, Krise und Revolution schrieb er acht Aufsätze, die damals einen der radikalsten Versuche bedeuteten, das Revolutionäre an Marx durch Weiterführung der Hegelschen Dialektik wieder aktuell zu machen. Als sie 1923 unter dem Titel Geschichte und Klassenbewußtsein erschienen, war zunächst kaum abzusehen, welche Bedeutung diesem Buch vergönnt sein sollte. Der wichtigste Essay über Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats orientierte sich an Marx’ Kritik des Fetischcharakters der Ware und wollte gleichzeitig begründen, warum das Proletariat sich als revolutionäres Subjekt konstituieren müsse. Dem Materialismus, wie ihn Max Horkheimer bestimmte, blieb es überlassen zu fragen, wie die Aktualität der Revolution mit der Erfahrung ihres Scheiterns zusammenhing, wie die Entwicklung in der Sowjetunion zu beurteilen sei und warum sich das Proletariat nicht als das Subjekt-Objekt der Geschichte konstituieren wollte, wie es Lukács’ Theorie darlegte. – Es sprechen Markus Bitterolf (Heidelberg) und Denis Maier (Luzern), Herausgeber des Bandes Georg Lukács u.a., Verdinglichung, Marxismus, Geschichte. Von der Niederlage der Novemberrevolution zur kritischen Theorie.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
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Mittwoch, 6. Juni 2012
Adorno und die Zwölftonmusik
“Sehr merkwürdig, … wie du die Sache beschreibst, läuft sie auf eine Art von Komponieren vor dem Komponieren hinaus. Die ganze Material-Disposition und -Organisation müßte ja fertig sein, wenn die eigentliche Arbeit beginnen soll… Denn diese Zubereitung des Materials geschähe ja durch Variation, und die Produktivität der Variation … wäre ins Material zurückverlegt – samt der Freiheit des Komponisten. Wenn er ans Werk ginge, wäre er nicht mehr frei.” – Diese von der Roman-Figur Serenus Zeitplom vorgetragenen Einwände gegen die Zwölftontechnik stammen aus dem Roman Doktor Faustus von Thomas Mann, an dessen Entstehung Adorno wesentlichen Anteil hatte. Die Stelle beschreibt einerseits eine Tendenz, die es innerhalb der Wiener Schule Arnold Schönbergs real gab und die auf direktem Weg zum Serialismus der 50er Jahre führt. Andererseits ist sie Ausdruck eines fundamentalen Mißverständnisses, zumindest, wenn man Schönbergs eigenes Verständnis der Technik, mit “12 nur aufeinander bezogenen Tönen” zu komponieren, zugrunde legt. Eine Auseinandersetzung mit Adornos Kritik an der Zwölftontechnik muß sowohl die kompositionstechnischen Sachverhalte berücksichtigen als auch die Dialektik der Aufklärung, zu der die Philosophie der neuen Musik ein Exkurs ist. Der Vortrag wird daher eine Einführung in die Musik Schönbergs ebenso beinhalten wie eine Auseinandersetzung mit zentralen Textstellen. – Es spricht Aljoscha Bijlsma (Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
Vortrag als downloaden / anhören
(Wem die Qualität der beiden besprochenen Stücke nicht genügt, sei auf folgende Aufnahmen verwiesen:
Klavierstück op. 11/3, Klavierstück op. 33A)
Mittwoch, 20. Juni 2012
Die suspendierte Gattung
Zur Kritik der deutsch-europäischen Flüchtlingspolitik
Mehr als 1.500 Exilsuchende starben 2011 in jenem Gewässer, das den wesentlichen vom verüberflüssigten Teil der Gattung trennt. Der vielen anderen nimmt sich “Frontex” an, die Apparatur zur militärischen Abriegelung der europäischen Außengrenzen gegen das überflüssige Leben, oder, wenn der eine, die andere doch durchschlüpft, die Heimatfront aus regierungsamtlicher Schikane, kulturalistischer Betreuungsökonomie und nächtlichem Abschiebekommando. Den Flüchtlingen aus den Ruinen des Weltmarkts oder vor Despotien wie dem Iran wird ihre Überflüssigkeit vom Kapital erneut eingehämmert: Man kaserniert sie, damit sie nur ja keine Freude haben an ihrer Selbstbefreiung aus unmittelbarem Zwang; man drangsaliert sie, damit sie sich wieder aus freiem Willen verflüchtigen. Die Subjektivität, wird ihnen abgesprochen, d.h. die Ermächtigung zur Selbsterhaltung, und dies im Interesse der nationalen Arbeitskraft. Der politische Souverän, der Menschen als Deutsche konstituiert, stundet die Fungibilität der nationalen Arbeitskraft; er täuscht ihr kapitale Wertigkeit nur vor, um die nationale Formierung zu garantieren. Wer vor Hunger, Krieg und Tugendterrorismus flieht, wird zum Ausschuß einer vernunftwidrigen Soziezät, die von den konkreten Individuen absieht, um sie zu Exemplaren der kapitalisierten Gattung zu stempeln. Kein politischer Souverän existiert, der ihr Leben zu schützen wagt, und keine Zwangsgewalt, die sie als zugehörig identifiziert und fähig wäre, ihre Selbstverwertung zu verbürgen. – Es spricht Danyal (Hamburg), Autor des Blogs Cosmoproletarian Solidarity
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
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(Dieser Mitschnitt wurde in Würzburg aufgenommen, wo der Referent den gleichen Vortrag hielt. Unsere eigene Aufzeichnung wurde durch die Café-Besucher, die ignorant zur Tränke drängten, leider versaut. Der Vortrag kann im Blog des Autors nachgelesen werden.)
Mittwoch, 4. Juli 2012
Hisbollah
Geschichte und Gegenwart der “Partei Gottes”
Die Hisbollah wurde Anfang der 80er Jahre im Libanon während des libanesischen Bürgerkriegs und des israelischen Libanonkriegs gegründet. Sie ist der bislang einzig erfolgreiche “Export” der islamischen Republik Iran, als deren verlängerter Arm im Kampf gegen Israel und den Westen sie weltweit agiert. Die Hisbollah hat für islamistische Organisationen immer wieder Maßstäbe gesetzt, ob im Bereich des (Selbstmord-)Terrorismus, der Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche oder des strategischen politischen Handelns. Ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah war lange der populärste Führer im Nahen Osten, über den Fernsehsender Al-Manar werden seine Reden weltweit ausgestrahlt. Doch auch die Hisbollah wurde durch die Umbrüche in der arabischen Welt erschüttert, wo plötzlich die Bilder und Fahnen Nasrallahs, Assads und der Islamischen Republik Iran brannten. Die mörderische und selbstdestruktive Dynamik des “Widerstands” gegen Israel kann am Beispiel der Hisbollah nachgezeichnet werden. Die “Befreiungsbewegung” ist heute selbst zur größten Gefahr für den Libanon geworden, die oft prognostizierte demokratische Integration der Islamisten ist vollkommen gescheitert, und der nächsten Krieg mit Israel mit noch viel größeren Verwüstungen als 2006 erscheint kaum noch vermeidbar. – Es spricht Jonathan Weckerle, Sprecher von “Stop the bomb”, Mitglied im Mideast Freedom Forum Berlin und freier Autor u.a. für Jungle World, Iz3W, Phase 2 und Konkret.
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
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Mittwoch, 18. Juli 2012
Was bleibt vom Individuum?
Von der Entfremdung des Menschen zum Untergang des Individuums
Die Gesellschaft, die ihre “Gleichgültigkeit gegens Individuum” durch Auschwitz bewies, kann nur von einem Standpunkt aus kritisiert werden, welcher am Denken, trotz dessen Ohnmacht, festhält. Von wem aber kann der Versuch dieser Reflexion geleistet werden, wenn nicht vom Individuum, an welchem als einem untergehenden die “Spur des Menschlichen” (Adorno) zu haften scheint? Daß die Individuen heute als bloße “Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen” (Horkheimer/Adorno) erscheinen, korrespondiert der von Marx konstatierten Brüchigkeit des entfremdeten Menschen. Durch die bürgerliche Revolution zerfällt das Individuum in den “Citoyen”, der Anteil an Staat und Gattungsleben nimmt, und den privaten, der Vorherrschaft des kapitalistischen Nutzenkalküls unterworfenen “ Bourgeois” (Marx). Die Bürger, die nur ihren je eigenen Zweck rücksichtslos verfolgen, sind virtuell schon Nazis, die die “Vernichtung des Nichtidentischen” einfordern. Angesichts des Nationalsozialismus flüchtet sich das, was von Moral und Kritik überlebte, in die Erfahrung der Einzelnen: Es “mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben” (Adorno). Auf dieses Refugium bleibt angewiesen, wer an Adornos kategorischem Imperativ festhält. – Es spricht Lea Bendemann(Freiburg).
Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)
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