Initiative Sozialistisches Forum – Occupy reason! * Einladungstext zum Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 2012
Initiative Sozialistisches Forum
Occupy reason!
Die “Occupy”-Bewegung ist die allerneueste Etappe des definitiven Niedergangs einer Linken, die ihren Frieden mit der Nation und ihrem Volksstaat längst schon geschlossen hat. Ganz recht heißt sie ihr Spektakel “Bewegung”, denn der freudig erregte Tumult ist alles, das Ziel nichts. Man ist “dagegen”, will aber den Gegner nicht kennen; man möchte alles “ganz anders” machen, weiß aber nicht was und wie; man fordert eine neue Zukunft, hat aber schon von der Gegenwart keinen blassen Schimmer. Von einer wie immer beschaffenen konkreten Utopie kann keine Rede sein, an deren Stelle tritt das sozialreformistische Verlangen nach einem “guten und gerechten Kapitalismus”, das sich, seiner Absurdität gemäß, in vollendeter Konfusion Luft macht: “Zehn Jahre Guantanamo: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!” – so ein Slogan aus Frankfurt.
Die Bewegung zettelt eine groteske Pseudoaktivität an, und sie macht auch gar keinen Hehl daraus, daß ihrer konformistischen Revolte subversive Reflexionen oder kritische Begriffe nur unnötiger Ballast sind. So weiß Mark Greif, eine ihrer Ikonen, dies zu berichten: “Wir alle spüren die historischen Nachwirkungen von Achtundsechzig”, denn das Erbe der Studentenbewegung sei die Warnung, daß “eine linke Bewegung nicht funktionieren” könne, wenn sie “pragmatisch und verantwortungsvoll” auftritt. Denn zu den Attributen der “68er” hätte auch eine Intransigenz gehört, ein Beharren auf der Wahrheitsfähigkeit des Denkens also, das nur zu Spaltungen führen kann. Bei “Occupy” wird derlei selig über Bord geworfen, und Greif lobt die Weigerung seiner Bewegung, “deutlich zu sein”, denn nur das habe “das Ganze passieren lassen”: “Es war strategisch eine brillante Idee: Leute, die sich sonst zerstritten hätten, kamen wunderbar miteinander aus.” Wo aus der Not eine Tugend gemacht, d.h. aus der Unfähigkeit zu denken der freiwillige Verzicht auf Reflexion gefolgert wird, kommt jedwede Gesellschaftskritik an ihr Ende. Übrig bleibt die abgeschottete Eigenbrötlerei des kollektiven Wutbürgertums, dem man begriffslos erst den Spiegel vorhält, dann das Megaphon: “Wir bilden nur die Verwunderung, das Erschrecken und auch die Wut aus dem Volk ab”, so zitiert die FAZ einen dieser Aktivisten.
Dieser Bewegung, die nicht zufällig wie eine gigantische Gruppentherapie aussieht – “Wir sind nur mit uns selbst beschäftigt” – kommen die neuen Medien gerade recht, befriedigen sie doch den narzißtischen Drang der irgendwie Zukurzgekommenen, sich in Szene zu setzen. “Die Bewegung hat die neuen Techniken der Selbstinszenierung – sich zu fotografieren, sich zu filmen, sein Leben live zu übertragen und zu ästhetisieren – besonders geschickt im Sinne von Demokratie und Gerechtigkeit genutzt.” An die Stelle öffentlich geübter Kritik tritt so die voyeuristische Veröffentlichung meinungstrunkener Nörgelei: “Man konnte abends die Versammlung per Livestream von seinem Schlafzimmer aus ansehen und dann am nächsten Abend mit der U-Bahn genau an den Ort fahren, wo sich alle trafen, um mit dabei zu sein, sich ihnen anzuschließen und vielleicht wiederum für andere Menschen in deren Schlafzimmern sichtbar zu sein”, so Mark Greif gegenüber der Jungle World, und an der Stelle der längst überfälligen Revolution macht sich die privatistische Raserei von Bloggern breit.
Diese Choräle der kollektiven Selbsterniedrigung durch freiwilligen Vernunftverzicht kommen nicht aus ohne das Hintergrundgeschrammel der fadenscheinigsten Kulturkritik. So fragt sich etwa Sybille Berg auf Spiegel Online, “woher all diese Wut kommt”, und sie weiß sodann: “Weil wir sie brauchen, diese Wut. Ganz einfach: Weil der Mensch nicht mehr ist als ein Tier mit einer Meinung.” Wenn aber derlei “Tiere mit Meinung” sich versammeln, um nach der Methode Sloterdijk Regeln für ihren Menschenpark aufzustellen, ist noch nicht einmal eine bunte Tierschau zu erwarten. Denn in den Gullys von “Occupy” sammeln sich Rest- und Bewegungslinke, Verschwörungstheoretiker, völkische Esoteriker, Antisemiten und andere Antizionisten (Pardon: “Israel-Kritiker”). Schon ein Blick in die Facebook-Seite der freiburger “Occupy”-Dependance offenbart nichts als Irrsinn: Deutschland werde “beschissen”, das Finanzkapital entmachte die Staaten “um uns alle zu beherrschen”, das “weltweit herrschende Finanz-Imperium” setze “die letzten Schritte um, um jegliche Demokratie und Souveränität der einzelnen Staaten abzuschaffen und sich selbst unantastbar von Gerichten und Gesetzen zu machen”, und der übliche Aufreger über zu niedrige Strafen für Kinderschänder darf auch nicht fehlen. Der vorsätzliche Infantilismus dieser Bewegung, der sich schon in der Sprache als ihrem Gully niederschlägt, drückt sich auch in ihren Aktionsformen aus, etwa in einem “Bananenüberfall” auf die freiburger Filiale der Deutschen Bank. “Brecht die Macht der Banken und Konzerne!” riefen die als Panzerknacker Verkleideten und zückten Bananen, um sich mit vorgehaltener Waffe das “uns gestohlene Geld” zurückzuholen. Was nach bloßer Kinderei aussieht, ist allerdings alles andere als harmlos; auf der Berliner Demonstration konnte man sehen, worauf derartiger Aktionismus zielt: Dort wurden Slogans wie “Keine Schuldknechtschaft!” skandiert und nicht einmal der bescheidenste Versuch gemacht, sich von historischen Nazi-Parolen von wegen “Brechung der Schuldknechtschaft” oder von neonazistischen abzugrenzen, denen zufolge man nichts als ein “Zinssklave” ist. So authentisch und eigentlich fühlt sich das “Tier mit Meinung”, daß es noch nicht einmal eines Alibis bedarf. Denkt man diese Forderungen an ihr logisches Ende, kommt die tatsächliche Bedeutung der größenwahnsinnigen Propaganda von den “99%” zum Vorschein: Es geht um die Volksgemeinschaft, die nur 1% liquidieren müßte (nämlich die parasitären Finanzkapitalisten), um endlich glücklich und in Frieden leben zu können. “Wir werden es nicht zulassen, daß wie früher nur gewisse kleine Kreise den Profit der Arbeit anderer haben” – wüßte man nicht zufällig, daß diese Mordparole aus dem Programm der Deutschen Arbeitsfront von 1935 stammt, könnte man sie glatt für die ehrliche Meinung eines “Occupy”-Bewegten halten.
Daß Lohnarbeit Sinn mache, wo sie doch nur die Verwertungsagentur des Kapitals darstellt, daß sie “ethischen und seelischen Wert” bedeute, während sie doch Zwang ist, daß aus ihr gar “ein Ideal” erwachse und eine “Ehre der Arbeit”, woraus sodann und naturgemäß “eine gemeinsame Auffassung von Volk und Nation” folgere, daß schließlich der deutsche Nationalzoo gegen das “gewisse” parasitäre eine Prozent zu verteidigen sei – das blieb nicht der Traum der Deutschen Arbeitsfront, sondern mündete in der Volksfront gegen die Juden. Auch “Occupy” brütet Mordphantasien. Und so wird, wer als Urheber der “Schuldknechtschaft” identifiziert worden ist, schon einmal im Geiste aufgehängt. So waren in Berlin Plakate zu sehen, die einen Galgenstrick unter der Schlagzeile “Alternativlos” und Leichen, die an Straßenlaternen hingen, mit der Aufforderung zeigten, es sei nun “Zeit für einen Laternenumzug”. Im Ressentiment ist man sich allemal einig, und eben dies ist der Grund, warum “Leute, die sich sonst zerstritten hätten”, so “wunderbar” miteinander auskommen. Denn der völkische Wahn war mit dem 8. Mai 1945 und folgenden Zwangspazifizierung der Deutschen keineswegs am Ende. Daß er bis heute Staats- und Volksauftrag ist, verrät sich in der Krise. So ist die deutsche Variante von “Occupy” nur der neueste Ausdruck des deutschen Arbeitswahns, dem die deutsche Ideologie und ergo auch die Boulevardpresse hul digt, so, nur zum Beispiel, der Stern. Dort ruft Hans-Ulrich Jörges, der Chef-Kommentator, der bei anderer Gelegenheit das kalte Kalkül des Staates, die überschüssige Bevölkerung nicht dem Hunger zu überlassen, eine “wahre Honigroute zum Kommunismus” nannte, dazu auf, der die “Realwirtschaft (zer-)störenden Spekulation” müsse “das Kreuz gebrochen werden”. Die deutsche Unschuld sinnt schon wieder auf Rache.
Die Slogans der “Occupy”-Bewegung sind so wenig neu wie die Gewaltlüsternheit, die daraus spricht. Denn die halluzinative Spaltung wie säuberliche Scheidung der Totalität des Kapitals in Produktion und Zirkulation ist die Basisideologie der warenproduzierenden Gesellschaften. Gegen deren objektiven Unfug hilft einzig bestimmte Kritik, die auf die konkrete Negation ihres Gegenstandes geht. Denn das Geld, die unmittelbar sinnlich daseiende Verkehrung der Gesellschaft, ist den Individuen der materielle Repräsentant einer Abstraktion, von der sie weder Bewußtsein noch Begriff haben. Daß die sinnlich so verschiedenen nützlichen Dinge des Lebens einen Wert haben, daß sie unter den totalitären Charakter der Ware gezwungen sind, ist den Leuten zur zweiten Natur geworden. Der einzelne Mensch als “Eigentümer bloßer Arbeitskraft” wie “Leibeigener seines Leibes” (Marx) ist genötigt, sich selbst als die ihm einzig eigene Ware zu vermarkten. Im Tausch wird von der Nützlichkeit der Produkte abstrahiert, indem man sie als Waren und Werte setzt, sie eintauscht gegen das Geld, das als die Äquivalentform aller Waren erscheint. So wird zugleich von der Besonderheit der je konkreten Arbeit abgesehen: Die Leute “wissen es nicht, aber sie tun es” (Marx), und in Deutschland zumal wollen sie das auch gar nicht wissen, weil sie es in alle Ewigkeit weiter tun wollen. Aber Wert und Geld existieren gleichwohl nur durch das soziale Verhältnis der Menschen zueinander. Die ökonomischen Formen der negativen Qualität von Gesellschaftlichkeit stellen zugleich das Selbstverhältnis des Kapitals dar, denn die Selbstverwertung des Werts ist mit der Selbsterhaltung der in die Subjektform gebannten Individuen identisch: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Und in letzter Konsequenz: Wer nicht arbeitet, der wird dem kapital gesetzten Begriff des Menschen nicht gerecht, verfehlt ihn aus eigener Schuld wie böser Absicht und gehört daher, als eine “mit Menschenhaut nur überzogene Bestie” (wie es von den Roma heißt), aus der kapitalisierten Gattung fortgeschafft. Ihr ist der fetischistische Arbeitswahn zugleich die Bedingung ihrer Existenz: ein Tribut an den stummen Zwang, den die Individuen nicht nur mit den ideologischen Mitteln von “Occupy” als “ehrliche” Arbeit vor sich selbst verschleiern.
Zwar ist das Geld nur die “unmittelbare Existenzform” (Marx) der abstrakten Arbeit, doch die kapitalisierte Gattung exekutiert sie blind und bewußtlos. Denn die “vermittelnde Bewegung”, in der das Geld die Äquivalentform aller anderen Waren wird und sodann zu ihrem Gott sich emanzipiert, verschwindet “in ihrem eigenen Resultat”. So entsteht die “Magie des Geldes” (Marx): Ökonomie ist ausagierter Okkultismus. Das Geld ist zwar nichts anderes als akkumulierte Ware in abstrakter Form, doch darin spukt das Produkt vernutzter, verstorbener Arbeitskraft als jenseitig belebtes “automatisches Subjekt” (Marx). Die unbewußte Abstraktion, die die Warenhüter praktizieren, steigt ihnen in der Geldform in verkehrter und verkehrender, d.h. in fetischistischer Form zwar zu Kopfe, aber keinesfalls ins Bewußtsein. So ist das Geld das Abstrakte zum Anfassen, die unmittelbare Allgemeinheit; und dies ist sein einziger Gebrauchswert. Das Kapital schließlich, “der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld” (Marx), wird zum einzigen Gebrauchswert der Gesellschaft, indem es die Identität des Geldes zum autistischen Prozeß steigert und überbietet. So entsteht die Ideologie vom guten Geld für gute Arbeit, vom schlechten Zins, vom teuflischen Zinseszins. Wenn nichts die Warenhüter noch daran erinnert, daß es die produktive Arbeit ist, die die gespenstische Existenz des Werts zwar nicht: konstituiert, aber doch immerhin: vitalisiert, dann darf Sahra Wagenknecht von der Linkspartei in aller Unschuld in der FAZ davon faseln, daß “das Geld wieder der Wirtschaft dienen muß.” So schwebt die mysteriöse Metamorphose von Geld in mehr Geld über den Warenhütern als “eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz” (Marx), obwohl sie doch nichts ist als das Resultat kapitalproduktiver Lohnarbeit. Ware, Geld und Kapital werden zu übermächtigen Subjekten, die in die Subjektform gebannten Individuen zu ohnmächtigen Objekten – und diese Verkehrung ist es, die von den Leuten Tag für Tag als willigen Charaktermasken wiederholt wird.
Permanente Selbstverwertung ist so der kategorische Imperativ des Kapitals wie seine objektive Schranke. Die Einzelkapitalien sind zur Produktivitätssteigerung, somit zur technischen Rationalisierung des Vernutzungsprozesses der lebendigen Arbeitskraft gezwungen, um in der Konkurrenz nicht unterzugehen. Doch eben diese Rationalisierung spuckt immer mehr Arbeitskräfte aus, die nicht mehr zur kapitalproduktiv funktionalisiert, sondern überschüssig und überflüssig werden. Die Mikroelektronik sowie die Informations- und Telekommunikationstechnologien haben die Produktivkräfte zwar revolutioniert, sind aber als Basistechnologien eines neuen, Arbeitskraft einsaugenden Akkumulationsregimes untauglich. Das Kapital, gezwungen, sich zu verwerten, flüchtet in Kredit und Spekulation, d.h. ins fiktive Kapital, in dem die so ewige wie unendliche ‘ewige’ Akkumulation des Kapitals solange simuliert wird bis die “Blase” platzt.
Die Emeute der “99%” verdoppelt und verdreifacht den Fetischismus des Kapitals, um die Dämonen der Krise zu exorzieren. Sie schweigt über das alltägliche Unglück in der Produktion, appelliert vielmehr an den politischen Souverän, an den “Staat des ganzen Volkes”, er müsse endlich das Geld von Zins und Zinseszins befreien, damit es die Produktion nicht weiter sabotiere. Statt zu kritisieren, respondieren die “99%” unentwegt die unglaubliche Idiotie, ein Charakterdefekt wie “Gier” sei der Systemfehler. Die Bewegung liegt mit ihrer Vorstellung, die (im doppelten Sinne) überwältigende Mehrheit zu repräsentieren, also gar nicht daneben. Denn wie beim Rest der Gesellschaft wird auch ihre Denke von der Ideologie des Äquivalenzprinzips beherrscht, und wo die “Bewegung” aufbegehrt, geschieht es in ihrem Namen und auf seine Rechnung. Und während man sich noch fragt, ob sie nicht endlich anders agieren könne in einer Gesellschaft, in der die Frage, “was darf ich hoffen, was kann ich sein”, regelmäßig in der Antwort “Gutes Geld für gute Arbeit” und “Wir sind Mehrwert” sich erschöpft, eskaliert ihre Wut schon in putativer Notwehr gegen die herbeiphantasierten Verschwörungen. Nicht nur, daß die “99%” einfach blind sind für die antisemitische (und, wie derzeit in Italien, Tschechien und Ungarn, antiziganistische) Mobilisierung im Namen der “ehrlichen” Arbeit – die Rede von den “99%” selbst ist zwanghaft völkisch-reaktionär, d.h. so, wie an der Schnittstelle von Sozialdemokratie und Nationalsozialismus nicht anders möglich.
Aus ihrer vollendeten Ahnungslosigkeit macht die Bewegung ebensowenig irgendeinen Hehl wie aus ihrem manifesten Gebrauch nazifaschistischer Ideologie. In scheinbar zutraulicher Naivität läßt man sich von Mark Greif ernsthaft fragen: Steht der Kapitalismus nun für “die Korruption des Handels, der Wirtschaft, der sozialen Verhältnisse und des sozialen Miteinanders? Oder wird damit die grundsätzliche Aktivität des Tausches bezeichnet, die genau so wichtig und zentral für unser Leben sein kann wie etwa Gemeinschaftlichkeit, Liebe, Individualität und so weiter? Ich weiß es wirklich nich t. Jedenfalls glaube ich nicht, daß Tausch und Wettbewerb notwendigerweise Verarmung und Verelendung bedeuten – vor allem nicht dann, wenn neben der Wirtschaft ein stabiles Sozialsystem existiert.” Nichts Genaues weiß man nicht, man will es aber auch gar nicht so genau wissen. Und die Gemeinschaft des “Occupy”-Camps, die man sich im Schlafzimmer-Livestream anschauen kann, ist so schön kuschelig, daß man sich jedes kritischen Gedankens lieber von vornherein entschlägt. So arbeiten die “99%” fleißig an der Verewigung der verkehrten Gesellschaft, und so ist ihre konformistische Revolte nicht die allerneueste Etappe des definitiven Niedergangs der Linken aller Schattierungen, sondern vielmehr ihr totaler Bankrott. Das Mindeste wäre nun ein Moment des Innehaltens und des Schweigens: Haltet die Klappe! Fangt an zu lesen! Occupy reason!