Jour Fixe Programm Herbst/Winter 2012/2013

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Die Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres – eine Kritik

Der Kulturrelativismus, die angebliche Vielfalt der Identitäten, das ‘Gender-Geseiere’ geht, wie das Geschwätz der Postmoderne insgesamt, den Protagonisten dieser ‘Diskurse’ mittlerweile selbst ‘auf den Geist’. Leider, wie die allgemeine Zustimmung zur Verleihung des sog. “Adorno-Preises” an Judith Butler auch unter Leuten zeigt, die man bisher der kritischen Theorie zuzurechnen gewohnt war, ist diese Aversion gegen das poststrukturale Geraune kein Ausdruck kritischer Distanz, sondern nur dessen, daß dieser heideggerisierende Unfug allseits dermaßen tief verinnerlicht worden ist, daß schon das Ansprechen dieser grundfalschen Voraussetzungen des Denkens als Angriff auf die persönliche Integrität begriffen wird – eine Integrität, die es, der reinen Lehre gemäß (und das macht die Sache so irrsinnig), ja gar nicht geben soll. An Sartre kann zurecht kritisiert werden, daß er einen, wenn auch ‘nur’ an einen kategorischen Imperativ zu bindenden Begriff von Vernunft nicht kennt, nicht dagegen, daß er Vernunft nicht den Subjekten und ihrer Freiheit vorordnet – denn das liefe immer auch auf eine die (Reflexions ) Freiheit negierende Verordnung hinaus. Und vor allem indiziert die allergische Reaktion heutiger Theoretiker gegen Sartre, worauf sie in Wirklichkeit hinaus wollen: den Volksstaat. Aber gegen Sartre muß festgehalten werden: die Vernunft muß autonom sein, alle Souveränität auf sich, gegen die Kapitalsouveränität gerichtet, vereinen – keinen Begriff von ersterer zu haben und einen Begriff von negativer, kapitaler Souveränität noch nicht einmal zu ermöglichen, macht seine Philosophie als solche, sieht man von ihrem antistrukturalistischen Freiheitsbegriff ab, für die Kritische Theorie dann doch unbrauchbar. – Es spricht Manfred Dahlmann (Freiburg), der gerade sein Buch Freiheit und Souveränität. Kritik der Existenzphilosophie Jean Paul Sartres” veröffentlicht hat; er ist zugleich Redakteur und Autor der Zeitschrift für Ideologiekritik sans phrase, deren erste Ausgabe gerade erschienen ist.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 7. November 2012

Die “Ratio” des ökonomischen Subjekts als die Irrationalität der “Volkswirtschaft”

Über Alfred Sohn-Rethel

Die Frühschriften Alfred Sohn-Rethels, vor allem seine 1928 bei dem austromarxistischen Ökonomen Emil Lederer in Heidelberg eingereichte Dissertation, sind die Vorstufe seiner bekannten Studien über den Zusammenhang von “Warenform und Denkform” sowie über “Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus”. Darüber hinaus haben die frühen Arbeiten einen systematischen Wert. Denn Sohn-Rethel weist darin nach, daß die bürgerliche Volkswirtschaftslehre mit ihrem metho­do­­logischen Individualismus auf verlorenem Posten steht. Zugleich versucht er die kapitalistisch-bürgerlich Gesellschaft zu verstehen als eine Gesellschaft, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, da die egoistischen Handlungen jedes einzelnen jedwede Gesellschaftlichkeit negieren. Gleichwohl bringen die wirtschaftenden Individuen durch ihr privatives Verhalten eine Gesellschaft hervor, die ihnen in steigendem Maße als objektives, unerbittlich nach eigenen Gesetzen ablaufendes Marktgeschehens gegenübersteht. Da die wirtschaftlichen Zusammenhänge in zunehmendem Maße “inkongruent”, wie Sohn-Rethel sagt, zur wirtschaftlichen Rationalität der einzelnen Subjekte sind, können letztere auch nicht als Schlüssel zum Verständnis der Wirtschaft dienen, wie es die bürgerliche Volkswirtschaft nach wie vor behauptet. Die Wirtschaft ist nicht aus der Ratio der Individuen zu erklären, sondern umgekehrt. Hier sehen wir schon den Kern des Programms, an dem Sohn-Rethel zeitlebens festhalten wird, um die “Rationalität” aus der kapitalistischen Gesellschaft zu erklären. – Es spricht Oliver Schlaudt (Heidelberg), der (mit Carl Freytag) gerade das Buch Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft von Alfred Sohn-Rethel herausgegeben hat.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 21. November 2012

“Die größte List des Teufels...”

Zur Kritik der Verschwörungstheorien

Verschwörungsmythen sind fast allgegenwärtig: im Alltag, in der Populärkultur, in der Politik. Ihre Verfechter sind Linke und Rechte, Religiöse und Säkulare, Einzelne oder ganze Gruppen, und so ziemlich alle(s) dazwischen. Sie ‘wissen’ wer Kennedy ermordete, die Bilder von der Mondlandung fälschte oder die Fabrik nebenan schließt, wer Krankheiten und Drogen in die Welt oder Fluorid ins Wasser bringt, warum Elvis noch lebt, zwei Türme in New York einstürzten oder Herrschaft, Ausbeutung und Leiden unser aller Leben prägen. Obwohl sich Verschwörungsmythen mit unendlich vielen Einzelheiten und Details umgeben, ist ihre Form die Erklärung der Welt aus einem Punkt, und mit klaren, mächtigen, und gerade deshalb verborgenen und bedrohlichen Verantwortlichen. Für sie “besteht die größte List des Teufels […] gerade darin, den Glauben zu erwecken, er existiere überhaupt nicht” (Léon Poliakov). Vor dem Hintergrund einiger populärer Theoreme über die Anschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen wird die Veranstaltung in die Geschichte, Struktur und Funktion von Verschwörungsmythen und des paranoiden Denkens einführen. Im Mittelpunkt soll dabei deren Form der Erklärung der Welt stehen, die Frage warum sie Wirkungsmacht entfalten und ob wir aus ihnen etwas über das konkrete Ereignis, oder über die Einzelnen und die Gruppen, die sie sich aneignen und über den Zustand ihrer Gesellschaft erfahren. – Es spricht Flo Hessel (Hamburg/Bochum), Mitglied des Instituts für Sozialtheorie.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 5. Dezember 2012

Adornos Leninismus

“Sentimental und falsch unmittelbar, eine Mischung von Sozialdemokratie und Anarchismus”, urteilte Adorno einmal über Arbeiten des Institutskollegen Erich Fromm: “Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen.” Dessen Staat und Revolution zählte er Walter Benjamin gegenüber “zu dem tiefsten und mächtigsten an politischer Theorie”; und noch 1956 kokettierte er im Gespräch mit Horkheimer mit der Idee eines neuen, “streng leninistischen Manifests”. Diese bolschewistische Emphase, die so gar nicht zum dezidi erten Kritiker der sowjetischen “Fronvögte” zu passen scheint, läßt sich leicht als biographisches Kuriosum abtun. Nur steht in Adornos Aufzeichnungen und Briefen der Name Lenin gerade nicht für ‘Marxismus-Leninismus’, nicht also für Diamat, Proletkult und den Glauben an ‘historische Gesetzmäßigkeiten’ – sondern, wie in den Debatten der Jahre nach 1917 üblich, für das genau Entgegengesetzte: für den Bruch mit dem sozialdemokratischen Determinismus und für das Mißtrauen gegenüber einem sich aus den Verhältnissen naturwüchsig entwickelnden proletarischen Klassenbewußtsein. Seinen programmatischsten Ausdruck findet das in der Kritik an Benjamins Aufsatz über “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”, in der Adorno, mit Lenin als Gewährsmann, gegen dessen “anarchistische” Züge zu Felde zieht. Was in dieser Kontroverse verhandelt wird, ist alles andere als bloß theoriegeschichtlich von Bedeutung: das Verhältnis von Kunst, Erkenntnis und Produktivkraftentwicklung; das Verhältnis der Intellektuellen zu den proletarischen Massen wie das der proletarischen Massen zur geschichtlichen Wahrheit; kurz: wie Kritische Theorie es vermag, “den gesellschaftlichen Hebelpunkt zu entdecken und zu nutzen”, um “mit minimaler Kraft die unermeßliche Last des Staates zu heben” (Adorno). Es spricht Lars Quadfasel (Hamburg), assoziiert der Hamburger Studienbibliothek und der Gruppe Les Madeleines. Seine Texte zu Buffy the Vampire Slayer sind erschienen in: Annika Beckmann u.a. (Hg.), Horror als Alltag (Verbrecher Verlag 2010).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 19. Dezember 2012

Antisemitismus und Antiziganismus als Formen negativer Vergesellschaftung

Obgleich in der Geschichte der antisemitischen und antiziganischen Gewalt zahlreiche Gemeinsamkeiten zu konstatieren sind, die ihren Höhepunkt und zugleich ihr Ende in der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis gefunden haben, fristet die Kritik des Antiziganismus bis heute bestenfalls ein Schattendasein. Bei diesem Vortrag soll es jedoch nicht darum gehen diesem Mangel durch einen äußerlichen Vergleich beizukommen, d.h. Antisemitismus und Antiziganismus als isolierte Phänomene zu betrachten, sondern sie als einander komplementäre Momente repressiver Totalität zu begreifen. Beide, so die auszuführende These, sind als Vorurteil ohnehin, aber auch als Ressentiment oder als negative Leitidee nur subjektivistisch, nicht jedoch in ihrer objektiven Bedeutung bestimmt. Derlei Subjektivismus soll aufgehoben werden, indem Antisemitismus und Antiziganismus materiell-praktisch als bestimmte Formen, in denen sich die Individuen unter Bedingungen der Herrschaft vergesellschaften und vergesellschaftet werden, d.h. als bestimmte Formen negativer Vergesellschaftung gefaßt werden. Es ist somit das Ziel, beide als Prototypen moderner Vergesellschaftung kenntlich zu machen und zumindest fragmentarisch anzudeuten, wie sie als Gegenstände der Kritik sogleich den Schlüssel für eine Kritik der Gesellschaft in ihrem Zerfall, ihrer Irrationalität und ihrem destruktiven Potential darstellen. – Es spricht Nico Bobka (Frankfurt).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 16. Januar 2013

Marx, Adorno und die Kritik der Volkswirtschaftslehre

Es geht um den Begriff der “Kritik” und ebenso ihres Objekts, wie sie Theodor W. Adorno in seinen 1942 verfaßten “Reflexionen zur Klassentheorie” knapp und präzis formuliert hat: daß Marxens “Kritik der politischen Ökonomie die des Kapitalismus” bedeutet, also die der “politischen Ökonomie” primär nicht als einer ökonomischen Theorie, sondern als eines realen ökonomischen Gesamtsystems - eines ”Systems der Entmenschlichung”, wobei Adorno die ”Unmenschlichkeit” so definiert, “daß die Menschen ... zu Objekten geworden sind”. Einer so verstandenen “Kritik der politischen Ökonomie” geht es nicht allein um eine Ideologiekritik apologetischer Wirtschaftstheorien, sondern um eine weit radikalere und umfassendere Kritik, um eine “Kritik der ganzen Geschichte” als einer zu kritisierenden “Geschichte der Herrschaft”. Der Untertitel des Marxschen “Kapital” – eben: “Kritik der politischen Ökonomie” – signalisiert in dieser Perspektive vor allem eine umfassende Kritik der Gesellschaft im Sinn jener Idee von ”Erkenntnis, die zugleich kritisch” ist. – Es spricht Hans-Georg Backhaus (Frankfurt), Autor u.a. von Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik und Marx, Adorno und die Kritik der Volkswirtschaftslehre

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Mittwoch, 30. Januar 2013

Adolf Hitler, der unmittelbar allgemeine Deutsche

Über die negative Dialektik der Souveränität

Wie immer in Deutschland, so wird Hitler auch am 80. Jahrestag der sog. “Machtergreifung” als Gegenstand der Geschichtswissenschaft verdrängt, als verlorene Utopie betrauert oder als Bildungserlebnis staatstragender Demokraten gefeiert werden. Aber gerade als der tobende Teppichbeißer und manische Charismatiker, als den die Historiker ihn dem staunenden Publikum vorführen, ist Hitler doch allererst Anlaß zur Staatskritik, zur Reflektion auf das barbarische Potential der kapitalen Souveränität, die den nazistischen “Antisemitismus der Vernunft” entband. Die Begriff des Nationalsozialismus ist demnach, wie ihn auch der Materialist Johann Georg Elser praktisch zu fassen suchte, in der Perspektive zu entwickeln, daß Hitler als Erscheinung des allgemeinen Deutschen, als der Souverän, hinter den Staatsapparaten hervortrat und als Person unmittelbar alles, was deutsch ist, verkörperte. Darin konvergieren die materialistische Kritik der politischen Ökonomie und gewisse Einsichten der Psychiatrie, denn eine barbarische Gesellschaft kann nur von einem Funktionär repräsentiert und ausagiert werden, der seiner psychischen Konstitution zufolge nichts anderes als ist als eben: die negative Aufhebung des Subjekts im Individuum selbst, d.h.: ein Barbar sondergleichen. Liest man “Mein Kampf” nicht nur als die ultimative Offenbarung aller in Deutschland definitiv nur möglichen Staatsphilosophie, sondern, was gar kein Widerspruch ist (und wie es der Emmendinger Psychiater Wolfgang Treher in seinem fulminanten Buch “Hitler, Steiner, Schreber. Gäste aus einer anderen Welt" gezeigt hat) zugleich als das Dokument einer psychischen Krankheit und, genauer, als das Protokoll einer seelischen Katastrophe, die das Ich, das internalisierte Subjekt, zerstört hat, und in Schizophrenie eskaliert, wird deutlich, was sich die Deutschen von heute mit der billigen, rationalistischen Deutung Hitlers als eines strategisch-ausgebufften, leider aber größenwahnsinnigen Machiavelli so vom Halse schaffen wollen, daß sie es für immer als ihr ursprüngliches Eigentum behalten können. – Es spricht Joachim Bruhn (Freiburg), Co-Autor u.a. von Initiative Sozialistisches Forum, Das Konzept Materialismus

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Samstag, 2. Februar 2013

Freiburg in der NS-Zeit

Antifaschistischer Stadtrundgang

An exemplarischen Stationen wird gezeigt, was in Freiburg nach 1933 passierte, wie die Arisierung organisiert wurde, welche Menschen wo gelebt haben, die ihre Wohn- und Arbeitsstätten verlassen mußten. An der Universität wird vom Rektorat Martin Heideggers im Frühjahr 1933 die Rede sein. Der Rundgang endet gegen 17°° am Platz der Alten Synagoge. – E. Imbery führt und kommentiert.

Treffpunkt um 14 Uhr “Basler Hof”, Kaiser-Josephstraße (gegenüber Buchhandlung Herder).

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Mittwoch, 13. Februar 2013

Unter Nerds

Die Piratenpartei und ihre Ideologie

“Klarmachen zum Entern”: Mit solchen Parolen eroberten die Piraten verschiedene Landesparlamente. Das nächste Ziel ist der Einzug in den Bundestag. “Wir sind weder links noch rechts, sondern vorne”, lautet eine weitere Phrase, mit der suggeriert wird, daß man sich von Ideologien verabschiedet habe. Doch in Wirklichkeit ist mit der Piratenpartei eine deutsche Sammlungsbewegung entstanden, in der – im Rahmen eines obskuren Pluralismus – auch antisemitische Zinskritiker, antiamerikanische Verschwörungsideologen und deutschnationale Aktivisten eine neue Heimat unter netzaffinen Nerds gefunden haben. Vom ehemaligen NPD-Kader bis zum anthroposophischen Geistlichen sind alle dabei, um als selbsternannte Piraten Parteipolitik zu betreiben. Dabei werden auch irrationale Heilslehren propagiert. Verschiedene antisemitische und esoterische Konstrukte dürfen auf diese Weise eine Wiederauferstehung erleben. In diesem Sinne erweisen sich die deutschen Piraten als gefährliche Widergänger ihrer Ahnen, die immer wieder mit der vermeintlichen Überwindung von Ideologien kokettierten und sich über diese erhaben fühlten. Der Vortrag wird die Genese der Partei und ihre Akteure behandeln. Es spricht Martin Wassermann (Berlin), der sich in seinem Reflexion-Weblog unter anderem mit verschiedenen Verschwörungsmythen und den deutschen Verhältnissen beschäftigt, die diese hervorbringen.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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