Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 2015
Donnerstag, 23. April 2015
Recht als irrationale Rationalität
Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Rechts ist weder eine moralische, noch eine abstrakte, sondern eine konkret erkenntniskritische. Bei aller Gegenwärtigkeit des Rechts, sowohl in Diskussionen sich explizit als ideologiekritisch begreifender Autoren, als auch in Debatten linker politischer Gruppen, bleibt der Begriff des Rechts doch auffällig unbestimmt und statisch. Wenn die beliebte Rede von den dem Recht innewohnenden Tendenzen zu seiner eigenen Aufhebung nicht bloß eine Phrase sein soll, dann wäre wohl herauszuarbeiten, wie Rationalität und Irrationalität des Rechts aufeinander bezogen sind. Nicht um einer Indifferenz zwischen Recht und totalem Staat das Wort zu reden, sondern um zu begreifen, inwiefern die Rationalität der abstrakten Rechtsform selbst der Irrationalität des falschen Ganzen Vorschub leistet. Dabei müsste eigentlich die Frage auf der Hand liegen, ob ein Gegenstand, der eine nicht etwa äußerliche, sondern innewohnende Tendenz zur Selbstaufhebung zeigt, der es also bei sich selbst nicht aushält und seine eigene Vernichtung betreibt, den emphatischen Ausdruck der Wahrheit verdient.
Es spricht Leo Elser (Freiburg), Redakteur der Zeitschrift Pólemos, deren neueste Ausgabe bei der Veranstaltung beworben werden soll und erworben werden kann.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
Montag, 4. Mai 2015
Unreglementierte Erfahrung
Es ist, als ob man vergebens aus nächster Nähe zu betrachten suchte, was in weitester Ferne liegt – und dennoch nur scheinbar ein Jenseitiges ist. Etwas unreglementiert erfahren: ist das überhaupt möglich? Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich der Bestimmung eines Begriffs, der in der kritischen Theorie Adornos einen zentralen, wenngleich nie ausdrücklich benannten Platz einnimmt. In der zahlreich vorhandenen Literatur zu Adorno wird unreglementierte Erfahrung, wenn überhaupt, als ein nur subjektives Phänomen oder gar als ein dem wissenschaftlichen Objektivismus entgegengesetzter Ausdruck individuellen Leids aufgefaßt. Wie hier gezeigt werden soll, geht es allerdings bei der unreglementierten Erfahrung ums Ganze, um nichts weniger als die Möglichkeit von Emanzipation schlechthin.
Buchvorstellung (ça ira) mit Devi Dumbadze (New York) und Christoph Hesse (Berlin). Christoph Hesse arbeitet aktuell als Filmwissenschaftler an der FU Berlin zur Filmarbeit deutschsprachiger Emigranten in der Sowjetunion während der Zeit des Nationalsozialismus. Devi Dumbadze studierte Philosophie und Film- und Fernsehwissenschaft in Tbilissi und Bochum und war an der Roten Ruhr Uni beteiligt. Er veröffentlichte zu “Erkenntnis und Kritik” sowie der “Kritik der politischen Philosophie”.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
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Donnerstag, 21. Mai 2015
Marxismus und Psychoanalyse
Versuche zur Erklärung der ‘konformistischen Revolte
Für Marx und den Marxismus nach Marx ist der Zusammenhang von Krise und befreiender theoretischer sowie praktischer Kritik noch selbstverständlich. Daß der dialektische Widerspruch gegen widerspruchsvolle Verhältnisse ohne den Kontext “revolutionärer Praxis” möglich sei, ist für Marx in der Epoche des Liberalismus undenkbar. Der Marxismus der Zweiten Internationale erkennt, in der Epoche des Imperialismus, die Möglichkeit der Kritik in der befreienden Kraft der Produktivkraft-Entwicklung. Jeweils scheinen fundamentale Krisen des “Systems der bürgerlichen Ökonomie” den gesellschaftsgeschichtlichen Fortschritt zum “Verein freier Menschen” zu produzieren.
Aber schon 1923 erkennen Karl Korsch und Georg Lukács, nach der gescheiterten Revolution, eine Krise der Arbeiterbewegung und des Marxismus. Zwischen 1926 und 1933 explizieren Max Horkheimer und Wilhelm Reich die “Ohnmacht”, die “Niederlage der deutschen Arbeiterklasse”. Im Rekurs auf die Psychoanalyse wird am Vorabend und nach der Großen Depression von 1929/33 die Auflösung des Zusammenhangs von Krise und revolutionärer Kritik: die nationalsozialistische “konformistische Revolte”, reflektiert. Der Konformismus: das ist eine Volksgemeinschaft, in der der Einzelne ohne gesellschaftliches Bewußtsein, daher zu gesellschaftlich-solidarischem Widerspruch und Widerstand unfähig ist. Die Gemeinschaft erweist sich als irrationaler Zusammenhang entindividualisierter, autoritärer Charaktere, die allenfalls die Verallgemeinerung, nicht die Abschaffung gesellschaftlicher Repression realisieren. So schreitet der an der Psychoanalyse gebildete Marxismus von der Kritik der Politischen Ökonomie fort zur Kritik des irrationalen Rationalismus – zur “Kritik der instrumentellen Vernunft” – und zur Kritik der bürgerlichen Anthropologie. Ohne die gesellschaftlich gegründete Idee des Individuums, das sich als “ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” weiß, ist – erkennen die Kritischen Theoretiker – die einst erhoffte “proletarische Erhebung” verstellt. Daher bedürfe es der praktisch gerichteten Aufklärung des “Aufstiegs und Falls des Individuums”.
Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt (Hamburg) lehrte von 1979 bis 2009 am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Mehrere seiner Bücher erschienen im ça ira Verlag.
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Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
Donnerstag, 11. Juni 2015
Bilder zum Judenmord
Eine Buchvorstellung
Erinnerungen an die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten werden gemeinhin nur mit Zeugenaussagen, Fotografie und Film verbunden. In ihrem Band “Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess” zeigt Kathrin Hoffmann-Curtius jedoch, dass auch Künstlerinnen und Künstler schon in den ersten Jahren nach Kriegsende mit Stift und Pinsel in Erinnerungspolitiken eingegriffen haben. Sie bearbeiteten eigenes Erleben, Gehörtes und Gesehenes, klagten an und versuchten, Trauer und Verlust zu fassen. In dem Vortrag wird anhand exemplarischer Beispiele die Suche nach Formulierungen, die das Ausmaß der Verbrechen darstellen können, beschrieben und diskutiert, wie in Fotografien, Texten, Zeichnungen, Gemälden und Aktionen verschiedene Begriffe und Bilder – Sprach-Bilder – entwickelt, verbreitet und fixiert worden sind, in denen an den Judenmord gedacht wird.
Kathrin Hoffmann-Curtius (Berlin) ist Kunsthistorikerin und hat sich vorwiegend mit der Kunst der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, feministischer Kunst und Denkmälern beschäftigt.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
Donnerstag, 25. Juni 2015
Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft vor 1944
Es ist üblich, die Antisemitismustheorie 1944 mit der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie Jean-Paul Sartres Überlegungen zur jüdischen Frage beginnen zu lassen, zwei Texten, die die Ursachen für Judenfeindschaft ausschließlich bei den Antisemiten sehen. Schon 1894 schrieb jedoch Hermann Bahr: “Wenn es keine Juden gäbe, müßten die Antisemiten sie erfinden.” Die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Judenfeindschaft geht auf die rechtliche Gleichstellung im ausgehenden 18. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus eine wissenschaftliche Beschäftigung, die parallel mit der Entstehung einer Wissenschaft vom Judentum entstand. Die deutlichste Kritik formulierten meist die Betroffenen; und so gehört zu den Leitfragen des Sammelbands Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft, inwieweit innerhalb der Kontroversen über den Judenhass und seine Ursachen auch über Formen und Bedeutung jüdischer Zugehörigkeit diskutiert wurde.
Vortrag von Olaf Kistenmacher (Hamburg) und Hans-Joachim Hahn (Freiburg). Gemeinsam gaben sie kürzlich den Sammelband “Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft – Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944” heraus.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
Donnerstag, 2. Juli 2015
Charlie Hebdo und die Linke: Strafbedürfnis, Angst, schlechtes Gewissen
Nach dem 7. Januar bohrte sich für kurze Zeit ein stechender, plötzlicher Schmerz in das Bewusstsein einer liberalen und linken Öffentlichkeit: Die Hinrichtung der Redaktionsmitglieder von Charlie Hebdo brachte schlagartig die Erkenntnis mit sich, dass der islamische Terror sich nicht mit wahllosen Massakern an Zivilisten begnügt, sondern auch ganz gezielt unbotmäßiges Betragen bestraft.
Darin muss das Schockierende gelegen haben, das Hunderttausende Franzosen und zahlreiche andere in aller Welt dazu bewegte, sich spontan zu versammeln und die Identifikation mit einer kleinen Zeitschrift zu bekunden, die in den Jahren zuvor eher Genervtheit und Abwehr provoziert hatte. Anders als die Massaker an Juden in Toulouse oder Brüssel und auch im koscheren Supermarkt in Paris machte das Attentat auf Charlie Hebdo unmissverständlich klar, dass der islamische Terror sich nicht mit der Vernichtung der Juden – die eine Mehrheit stillschweigend hinzunehmen bereit wäre – begnügen wird, sondern dass alle anderen den Dhimmistatus zu akzeptieren haben werden. Darin liegt, im Unterschied zu den Morden an Juden – und an Muslimen, die in den Exekutivorganen des französischen Staats arbeiteten –, eine narzisstische Kränkung, die einen Aufschrei hervorruft, denn auf “unsere Freiheit” bildet man sich schließlich etwas ein – auch wenn man sich zuvor nie so besonders für sie interessiert hat. In diesen Aufschrei mischten sich jedoch fast unmittelbar auch jene Stimmen, die auf den “Rassismus” bzw. die “Israelfeindlichkeit” der Karikaturen von Charlie hinwiesen, d.h. solche, die den Preis für das Verschontwerden anmahnten bzw. Solidarität verweigerten.
In dieser Ambivalenz der Trauer um Charlie Hebdo liegt viel Unausgesprochenes, das wir versuchen möchten zu adressieren, um, der Angst zum Trotz, Denken zu ermöglichen. Es diskutieren Joel Naber, Till Gathmann, Gerhard Scheit und Manfred Dahlmann, Redaktionsmitglieder und Herausgeber der Zeitschrift für Ideologiekritik sans phrase. Nebst der Diskussion über die Anschläge in Paris und auch jenen in Kopenhagen soll an diesem Abend die Zeitschrift sans phrase vorgestellt werden.
Achtung, kleine Änderung: pünktlich um 20 Uhr, Universität, KG I, Raum 1221
Donnerstag, 9. Juli 2015
Staat oder Revolution
Staatskritik anhand der Rechtslehren Carl Schmitts und Hans Kelsens
Der Staat ist ebensowenig wie das Recht einer materialistischen Kritik unzugänglich, im Gegenteil lässt sich zeigen, dass materialistische Kritik der Gesellschaft ohne Staatskritik unvollständig, das heisst falsch ist. Der Staat bleibt gegenüber der Gesellschaft eine undurchdringliche “Besonderung” so lange, und nur dann, wenn der Begriff der Gesellschaft nicht selbst als Problem gefasst, das heisst: vor-kritisch verstanden wird. Dass an dieser Schwierigkeit die linkshegelianische Kritik gescheitert ist, lässt sich zeigen; ob der – marxische oder bakuninische – Materialismusversuch diesem Scheitern entkommen kann, müsste erst noch gezeigt werden; durch einen neuen Anlauf der Kritik. Dieser müsste Konsequenzen daraus ziehen, dass eine konterrevolutionäre Staatslehre sich “Politische Theologie” nennen kann, wo doch die Kritik der Religion längst “im wesentlichen beendigt” (Karl Marx) sein sollte.
Buchvorstellung mit Jörg Finkenberger (Würzburg/Halle). Jörg Finkenberger ist Jurist, Rechtshistoriker und Servicekraft. In Kürze erscheint sein erstes Buch “Staat oder Revolution” im ça ira Verlag.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37
Donnerstag, 23. Juli 2015
Suche dein Selbst, finde deinen Feind
Thesen zum Zusammenhang von esoterischer Selbstsuche und Antisemitismus
Bhagwans Ashram ist passé. Die Esoteriker heute inszenieren sich erfolgreich als spirituelle Individualisten, die sich bloß auf der Suche nach dem Selbst befinden. Blinde Fügsamkeit und Folgsamkeit scheinen ihnen fremd. Als vollkommen kritische Konsumenten lassen sie sich auf dem Markt der esoterischen Glaubenswaren nichts vormachen. In ihrer vorgeblichen Selbstbezüglichkeit kennen sie scheinbar weder einen Führer noch einen Feind. Man könnte also glauben, diese Selbstsucher seien für den Antisemitismus der esoterischen Literatur wenig empfänglich und ihre Suche habe mit dem Verschwörungswahn eines Jan van Helsings nichts zu tun.
Das dritte Auge der Kritik lässt sich von diesem Schein nicht täuschen und erkennt im Verschwörungswahn die Suche nach dem Selbst und in der Selbstsuche den Wahn. Diese Suche ist keineswegs eine selbstbezügliche, sondern eine autoritätsgebundene. Die vermeintlichen Individualisten mögen sich von Sekten fernhalten, ihre Suche bleibt dennoch eine nach dem Führer, der ihnen ihre Melodie vorsingt. Sie brauchen keine einzige Zeile van Helsings lesen, um ihm schicksalhaft auf seiner Suche nach dem Selbst zu folgen. Denn der Antisemitismus ist dieser Suche nicht äußerlich, sondern ihre innere Konsequenz.
Es spricht Jérôme Seeburger (Leipzig), der eine Studie über den Autoritarismus esoterischer Subjektivität vorbereitet.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37