Köchin und Menschenrechtler

Köchin und Menschenrechtler

Joachim Bruhn

Gesetzt den Fall – wäre das Verschwinden der Partei des Demokratischen Sozialismus nicht ein Glücksfall? Die mutmaßlich Leidtragenden jedenfalls wären an zehn Fingern abzuzählen, der Marburger Politikwissenschaftler Georg Fülberth darunter, der dann eine Leinwand weniger hätte für den Reichtum seiner Projektionen, dann der permanente Trotzkist Winfried Wolf, dessen sehr revolutionäre Taktik des “Entrismus” sich als ungedeckte Spekulation entlarvt hätte, weiter ein paar Pöstchenjäger, Assistenten und sonstige Stipendiaten der Luxemburg-Stiftung, die aber gewiß alert genug sind, bei Bölls unterzukommen, schließlich der kleine Stall dieser unentwegt vergnatzten linken Sozialdemokraten, die sich zwar fest vorgenommen hatten, Rosa Luxemburgs Sozialreform oder Revolution? zu studieren, aber nur zu Oskars Lafontaine und Negt vorstoßen konnten.

Gesetzt den Fall also: Der Schaden hielte sich in Grenzen; der Nutzen dagegen, wenn auch nur futurologisch kalkuliert, wäre erheblich: eine Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen deutscher Gesetze weniger, eine Partei weniger, die, unbedingt staatstragend, dies aber kritisch, den politischen Souverän der wahrhaft demokratischen Willensbildung des ganzen Volkes zu unterwerfen verspricht, eine Partei weniger, die für “Neues Deutschland” agitiert und den Sozialnationalismus als nächstbestes Stadium des Humanismus ausruft, eine Partei schließlich weniger, die unter der herzergreifend reaktionären Parole “Arbeit soll das Land regieren!” antritt und so etwas für Sozialismus ausgibt. Der Abgang der PDS wäre der Fortschritt nach Maßgabe dessen, was überhaupt im postnazistischen wie spätkapitalistischen Deutschland als Fortschritt möglich ist, ein Fortschreiten nämlich nicht als Vorwärts zu neuem Horizont, sondern als Konkurs der politischen Reklame, d. h. Fortschritt als die Destruktion von Ideologie, nicht zwar, wie es sich gehörte, auf dem Wege der materialistischen Aufklärung, doch immerhin durch Mißerfolg und Pleite, dem einzigen Kriterium, das in der bürgerlichen Gesellschaft zählt.

Vielleicht wäre gar, scheiterte die Partei der Salamitaktik, auf einige Dominoeffekte zu hoffen. Ginge es nämlich mit rechten Dingen zu – aber was darf billigerweise von einer Partei erwartet werden, deren theoretisches Zentralorgan “Utopie kreativ” heißt? – , die PDS hätte niemals gegründet werden dürfen, sowenig wie die “Grünen”. Man erinnert sich widerwillig daran, wie vor Steinzeiten eine leidenschaftliche Debatte erst über “revolutionären Parlamentarismus” geführt wurde, dann über die famose “Basisdemokratie” und das Prinzip der “Anti-Parteien-Partei”. Dabei ging es bloß um den alternativen Gebrauch des Parlaments und der Staatsgewalt. Behauptet wurde erstens, der Staat habe sich im Grundgesetz nach Art. 15 GG tatsächlich zum Generalprokuristen der Erniedrigten, Beleidigten, Ausgebeuteten und Entrechteten ausgerufen, er wisse es nur noch nicht; behauptet wurde zweitens, dem demokratisch-sozialistischen Selbstbewußtsein des Staates stünde eine Phalanx habgieriger Monopole und durchtriebener Spekulanten entgegen, weswegen es einer wahrhaften, einer “antimonopolistischen Demokratie” bedürfe; drittens wurde behauptet, politische Verhältnisse seien im Kern nichts als Willensverhältnisse, Recht und Gesetz daher nur “Formen”.

Mehr als gewagt, nämlich peinlich war das schon 1980, fiel es doch hinter den “Stand der Forschung” zurück, den Johannes Agnoli 1967 in seinem Traktat Die Transformation der Demokratie bündig dargelegt hatte: Die Mission des Sozialismus sei nicht die berühmte “Aufhebung”, weder das berüchtigte “Absterben” noch gar der alternative Gebrauch, sondern die “Abschaffung des Staates” selbst, was bedeutet, “den objektiven Zwangscharakter der gesellschaftlichen Reproduktion zu eliminieren”. Man mag es Gruhl, Trampert und Kelly nachsehen, daß sie im Überschwang ihres Politizismus die Einsicht der Kritik der politischen Ökonomie als zugleich die einer Kritik der Politik wie Müll behandelten; um so mehr, als sie diese Einsicht nie besessen hatten. Wie und warum das ökonomische Ausbeutungsverhältnis zum politischen Herrschaftsverhältnis sich verdoppeln muß, um mit sich identisch zu sein, warum daher das Kapital erst in Form der Souveränität zu jener Ökonomie wird, auf der sich die ziemlich luftige, Liberté, Egalité, Schwesterlichkeit und Tierschutz verheißende Fata Morgana der Politik erhebt, blieb jedenfalls Geheimnis. Der Vorteil war immerhin, daß die Grünen ihren Ökostaatsfetisch nicht unter dem Markenzeichen des Sozialismus andienten, sondern als Bückware für Kleinbürger.

Mit der PDS verhält es sich anders und schlimmer: Die Grünen liquidierten eine objektive Möglichkeit, die PDS konserviert die untoten Idiotien des Leninismus. Die Grünen handelten nach dem Motto: “Sei schlau, geh‘ zum Überbau”, und sogar Antje Vollmer brachte es weiter; die PDS dagegen ist von vornherein die Ich-AG für Ladenhüter gewesen: eine schlichtweg überflüssige Partei, unnütz wie das Studium der Gesammelten Werke von Walter Ulbricht und Erich Honecker. Eine Partei, die, charakterologisch betrachtet, eine Kreuzung aus Frauen für den Frieden, Karl-Eduard von Schnitzler (“Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein”) und den Jusos darstellt, die darauf besteht, so autonom zu agieren, daß sie bundesweit gegen den Jugoslawienkrieg trommelte, in Mecklenburg-Vorpommern aber die Koalition mit der Begründung fortsetzte, man müsse “etwas tun für die Menschen” (Holter), ist überflüssig wie ein Trickbetrug. Es ist das alte Lied. Aber wenn der 22. September wenigstens einen Fortschritt erbracht haben wird, dann hoffentlich den, die PDS auf das Niveau einer Freien Wählergemeinschaft zu drücken.

Einmal eher nüchtern, d.h. historisch betrachtet, ist es bemerkenswert, daß das Schisma der Arbeiterbewegung kaum je – den Rätekommunismus und die Kritische Theorie ausgenommen – als eine Spaltung innerhalb der Sozialdemokratie selbst verstanden wurde. Es nimmt daher nicht Wunder, wie überaus schnell, nach dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus im Osten, ihr leninistisch-stalinistischer Flügel wieder zu eben dem reformistischen Programm zurückgefunden hat, dem er entsprang. Beide Fraktionen, ob Bebel oder Lenin, ob Noske oder Stalin, ob Willy Brandt oder Erich Honecker, hingen, gegen Marx, dem Staatssozialismus Ferdinand Lassalles an, wonach der Staat der “an sich” zum Gemeinwohl bestallte Tribun der werktätigen Massen sei, der “Staat des ganzen Volkes”. Das kennt man: “Jede Köchin soll den Staat regieren”, sagte der Jakobiner Lenin 1917 in Staat und Revolution; und weiter: “Wenn tatsächlich alle an der Verwaltung des Staates teilnehmen, dann kann sich der Kapitalismus nicht länger halten.” Bakunin läßt grüßen.

Es ist dies das Programm der Totalisierung des Staates als logische Vorstufe seines Absterbens: Stalin läßt ebenfalls grüßen. Das Programm der PDS verlangt zwar nur das “Recht auf Arbeit” plus die “Demokratisierung aller politischen Entscheidungen”, d. h. “Arbeit soll das Land regieren!” Aber der Fortschritt kann es nicht gewesen sein, wenn von der Geschichte ausgemusterte Leninisten als nun rabiatere Sozialdemokraten das Parlament zur “Tribüne des Klassenkampfes” umfunktionieren wollen, höchstens reicht es hin, das zeigte die “Geld ist genug da!”-Kampagne der PDS, im Volksverein mit Oswald Nell-Breuning und Jörg Huffschmid von Attac! die Polemik gegen das “Finanzkapital” und damit, objektiv betrachtet, den Antisemitismus zu schüren.

Gesetzt also den Fall, die PDS hätte am 22. September ihr Wahlziel verfehlt: Es wäre ein Glücksfall (gewesen). Nur ein Kollateralschaden wäre eingetreten; das Interesse an den Kapital-Schulungen der unabhängigen Linken hät te nachgelassen. Wie fragte doch die “Süddeutsche Zeitung” den neuen Wirtschaftssenator der PDS in Berlin, Harald Wolf: “Gibt es einen Satz aus dem Kapital, der für Sie Leitmotiv ist?” (SZ, 29.8.02). Der demokratische Sozialist antwortete: “Es gibt von Marx den schönen Satz, daß man gegen alle Verhältnisse angehen soll, wo (!) Menschen erniedrigte und beleidigte Wesen sind. Das will ich tun, aber das ist noch keine ausreichende Grundlage für Wirtschaftspolitik.”

Da hat man die ganze PDS: Weder stammt der kategorische Imperativ aus dem Kapital (das ihn vielmehr beweist), noch geht es Marx irgendwo sonst um “Wirtschaftspolitik” (sondern um das Programm der Abschaffungen) – eine überflüssige Partei, selbst was das ABC des Sozialismus angeht, eine Partei für staatstragende Köchinnen und andere Menschenrechtler: Ein Schaden würde es keinesfalls gewesen sein.

Aus: Konkret 10 / 2002

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