Ein Lichtlein für die Toten
Flüchtlingsabwehr, Klimaschutz, Corona
24,00 €
In den letzten sechs Jahren, aus denen die Beiträge des Bandes stammen, trieb, wie es scheint, die Gesellschaft des Kapitals von einer Krise in die nächste.
Beschreibung
In den letzten sechs Jahren, aus denen die Beiträge des Bandes stammen, trieb, wie es scheint, die Gesellschaft des Kapitals von einer Krise in die nächste. Schon die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ galt als ›Jahrhundertkrise‹, dicht gefolgt von der ›Klimakrise‹, die den nahen Untergang verhieß, sollte kein ›radikales Umdenken‹ erfolgen. Seit Anfang 2020 bedroht nun ein Virus eben nicht nur die Gesellschaft des Kapitals, sondern eben auch Leib und Leben der Individuen. So verlockend es sein mag, alle diese Krisen ›ideologiekritisch‹ aufeinander zu beziehen, womöglich gar unter einem einzigen Begriff zu fassen, so falsch wäre es, die ideologischen Reaktionen auf diese Krisen allzu schnell unter eine autoritäre, postmoderne oder neoliberale Subjektverfassung zu subsumieren, so als ob es die Sachen selbst (etwa den Krieg in Syrien, den Wandel des Klimas oder ein tödliches Virus) gar nicht gäbe oder sich vom jeweiligen Leid einfach abstrahieren ließe. Dabei haben die Krisen der vergangenen Jahre durchaus etwas gemein. So wie sich die Gesellschaft des Kapitals unter dem ökonomischen Zwang, sich permanent selbst zu revolutionieren, nur durch beständige Krisen hindurch erhält, so pendeln auch die Subjekte in jeder als Krise wahrgenommenen Situation antinomisch zwischen der zynischen Auffassung, die ›Krise als Chance‹ zu begreifen, und Untergangsfantasien, die zumeist auf sadistische Lust an Entsagung, Abschottung und Zerstörung zielen.
Inhalt
- Initiative Sozialistisches Forum Freiburg: Vorwort
- Redaktion Pólemos: Kritik der Flüchtlingspolitik
- Initiative Sozialistisches Forum Freiburg: Die Diktatur der Zukunft
- Gerhardt Stapelfeldt: Der gesellschaftliche Konformismus von Fridays for Future
- Thorsten Müller: Ökologie und Arbeit als Fetisch
- Leo Elser und Julika Runge: Politisierung der Natur – Naturalisierung der Gesellschaft
- Christian Thalmaier: Ein Lichtlein für die Toten
- Thorsten Fuchshuber: Jargon des Ausnahmezustands: Pandemie und Staatssubjekt im Kapital
- Daniel Poensgen: It’s the pandemic, stupid!
- Christian Thalmaier: Das Patent als Mörder
- Nachweise
Leseprobe
In der linken und daher unbelehrbar auf den Staat fixierten Diskussion über das bestmögliche Regierungshandeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie zeichnet sich neben der radikalen ZeroCovid- und der gemäßigten NoCovid-Bewegung eine weitere Initiative ab, den Staat zu größerer Entschlossenheit zu bewegen. Man könnte sie die NoPatent-Bewegung nennen. Unter der bedauerlicherweise unzutreffenden Behauptung »Der Impfstoff gehört allen« der Artists for Vaccines, der nur vermeintlich antikapitalistischen Parole der Linksfraktion im Bundestag »Gesundheit darf keine Ware sein« – offenbar anders als Brot, Wein, Käse und: die Arbeitskraft – oder dem von Attac ausgegebenen Befund »Patente töten« versammeln sich Rotgrüne und Linke, Globalisierungsgegner und Völkerrechtler, Ärzte ohne Grenzen und Freunde des globalen Südens. Sie eint der Wunsch, der Staat möge sich, wahrhaft souverän und entschlossen in einer Stunde der Entscheidung, über sein eigenes geltendes Recht und das konkurrierender Staaten hinwegsetzen und das im pharmazeutischen Patent nach der Logik des Kapitalverhältnisses völlig zu Recht geschützte geistige Eigentum an den Rezepturen für die Impfstoffe weltweit und insbesondere für die ärmsten Länder frei geben. Weil damit in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, fordern die Artists for Vaccines als Konsequenz ihrer Auffassung, nach der Impfstoffe ohnehin schon »allen gehören«, die Daten des Pharmaunternehmens BioNTech SE zu leaken und die SOP (Standard Operating Procedure) für den mRNA-Impfstoff global zugänglich zu machen.
Ihre Forderung nach Freigabe des im Patent geschützten geistigen Eigentums beruht allerdings sowohl auf einem mangelnden Verständnis des Patentrechts als auch dessen, was der Staat schützt, wenn er als Amtsarzt und Gesundheitsmanager am Werk ist.
Patente sichern dem Inhaber für eine bestimmte Zeit das räumlich begrenzte Recht zur Entscheidung, wer die Erfindung, zum Beispiel die Rezeptur für einen Impfstoff, zu welchen Bedingungen nutzen darf. Diese eigentumsähnliche Rechtsposition erlaubt dem Berechtigten, seine Entwicklungsinvestition durch eigene Produktion oder die Vergabe von Lizenzen zu amortisieren, temporär einen relativen Extramehrwert zu erzielen und perspektivisch die unter den Bedingungen des Kapitals bei Strafe der Insolvenz notwendige Rentabilität des Unternehmens zu sichern. Zugleich werden durch die gesetzliche Pflicht zur Offenlegung der Erfindung 18 Monate nach ihrer Anmeldung Doppelerfindungen vermieden und Innovationen auf dem jeweiligen Stand der Technik angeregt. Ohne das Patentrecht würden potenzielle Erfinder entweder die für die Erfindung notwendige Forschung und Entwicklung im Hinblick auf einen unwahrscheinlichen oder zumindest nicht kalkulierbaren Return on Investment unterlassen oder ihre Erfindung als bloßes Know-how geheim halten. Das Patent als bilanzierbares immaterielles Wirtschaftsgut und absolutes Recht dient also der Kompensation des von der Volkswirtschaftslehre so bezeichneten systembedingten ›Marktversagens‹, das wiederum aus der ›positiven Externalität‹ der Forschung folge, also einem privat gestifteten gesellschaftlichen Nutzen ohne Gegenleistung.
So evident richtig und auf den ersten Blick sympathisch das kategorische Urteil ist, alle von COVID-19 bedrohten Menschen müssten unabhängig von der Zahlungskraft ihrer Nachfrage geimpft werden, so sehr bleibt der staatsbeflissene Wettbewerb um die besten Vorschläge zur Optimierung hoheitlichen Handelns nicht nur wegen rechtlicher Unkenntnis hinter dem moralischen Impuls zurück. Denn die Bestimmung des Staates ist es gerade nicht, Gesundheit und ein gutes Leben aller, womöglich gar außerhalb der Staatsgrenzen, zu befördern. Und der Staat ist auch kein Instrument, das gute Menschen als Mittel zu ihren guten Zwecken nutzen könnten, wie sich das nicht nur der Common Sense von links zurechtdichtet. Staatsziel ist nicht die Förderung individueller Gesundheit, sondern die Erhaltung der Volksgesundheit. Diese aber ist nicht etwa die zur ›Bevölkerung‹ hochaddierte Gesundheit aller Einzelnen, sondern einerseits die Arbeitsfähigkeit einer ausreichenden Anzahl von Staatsbürgern und andererseits die Lebendhaltung der Überflüssigen, der Alten, Arbeitslosen und neuerdings der ›besonders vulnerablen Gruppen‹, die man zur Aufrechterhaltung von Massenloyalität nicht einfach wegsterben lassen kann. Dieses Staatsziel camouflieren Wirtschaftsführer, Coronaliberale und Wirtschaftsepidemiologen vom Schlage Michael Hüthers, Christian Lindners oder Hendrik Streecks tagtäglich mit der unisono und im Brustton tiefer Besorgnis um »die Wirtschaft« vorgetragenen Einlassung, dass man nach »Flatten the curve« nun endlich »mit dem Virus leben« müsse; es komme letztlich allein darauf an, dass »die Gesundheitssysteme« nicht überlastet würden und die Intensivstationen nicht »volllaufen«. Mit anderen Worten: Verhindern müsse der Staat nur die aus der Lazarettmedizin bekannte Triage, nicht aber die lebensgefährliche Infektion als solche, die Erstickungsangst der wundgelegenen Infizierten, die durch wochenlange künstliche Beatmung induzierten Traumata, ›Post-Covid‹, ›Long-Covid‹ und auch nicht: mehr als 70.000 Tote im ersten Jahr nach Ausbruch der Pandemie allein in Deutschland. […]
Der Staat schützt also die Volksgesundheit und kann sich als Staat des Kapitals bestimmungsgemäß weder um die Gesundheit Einzelner noch gar um die Gesundheit ›der Menschen‹ kümmern. Als Staat des Kapitals verwirklicht er den allgemeinen und abstrakten Willen der Rechtssubjekte so, wie das Geld die »allgemeine Ware« (Marx) realisiert und sondert die Volksgesundheit als allgemeine Staatsangelegenheit vom Leiden und Sterben der Einzelnen ab; jene verhält sich zu diesem wie das bekannte allgemeine »Thier« als die »individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs« zu all den besonderen Tieren, »den Löwen, Tigern und Hasen …« (Marx) – Auszug aus Christian Thalmaiers Beitrag »Patente töten«.
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