Martin Büsser – Keine Atempause
Martin Büsser
Keine Atempause
Die Menschheit ist sich selbst der Zweck
Innerhalb der Linken wurde Johannes Agnoli vor allem durch seine Schriften »Subversive Theorie« und »1968 und die Folgen« bekannt. Als sechster Band der gesammelten Schriften ist nun »Politik und Geschichte« im ça ira-Verlag erschienen, ein Buch, für das sich Agnoli im Vorwort fast schon entschuldigt. Begriffe, die in seinem Denken eine so große Rolle spielten, etwa »Revolution«, »Kapital« und »Emanzipation« kämen hier so gut wie nicht vor. Im Gegenteil, tiefstapelt Agnoli, seine »Schriften zur Theorie«, so der Untertitel des Buches, seien für ihn eher eine »Ruhepause des Denkens« gewesen.
Wo andere in ihrer Ruhepause Tennis spielen oder am Strand liegen, hat Agnoli hochkarätige Texte verfaßt, die alles andere als einen Urlaub von der Politik darstellen. Neben Texten zu Alexis de Tocquevilles Wirkung auf das politische Denken in Deutschland, und dem inzwischen wieder in Mode gekommenen Philosophen Gianbattista Vico besteht der umfangreichste Teil des Buches aus einer Vortragssammlung zum deutschen Idealismus, also der Tradition von Kant bis Hegel. Unpolitisch ist das keineswegs. Obwohl hier tatsächlich selten von Revolution zu lesen ist, geht es Agnoli vor allem darum, die Geschichte des deutschen Idealismus als Voraussetzung für das Verständnis von Karl Marx transparent zu machen. Keine leichte Aufgabe, aber eine erstaunlich leicht lesbare.
Wer sich bislang um die Lektüre von Kant und Hegel gedrückt hat, bekommt hier eine nicht nur verständliche, sondern auch praxisbezogene Einleitung. Es geht Agnoli darum, den Idealismus gegenüber Vorurteilen in Schutz zu nehmen, die ihn in einen direkten Bezug mit der deutschen Romantik setzen. Während die Romantik in politischer Hinsicht konterrevolutionär war, zog der Idealismus seine praktischen Hoffnungen aus der französischen Revolution. Am Anfang seiner Vorlesungen steht deshalb ein einprägsames Bild: Als die Nachricht vom Sturm auf die Bastille eintraf, tauften in Tübingen »drei junge Theologiestudenten (…) den Baum im Hof zum ‚Freiheitsbaum‘ und tanzten nackt um ihn herum. Die drei wurden des Seminars verwiesen, es waren: Hegel, Schelling und Hölderlin.«
Es folgt eine Auseinandersetzung mit den komplexen Erneuerungen der Erkenntnistheorie, die mit Kant Einzug in die Philosophie hielten und dort für eine »kopernikanische Wende« sorgten. Kants Schritt, die Welt als Produkt des Bewußtseins aufzufassen, der bis heute noch im Konstruktivismus nachhallt, sein »Ich bin es, der denkt«, steht am Anfang der menschlichen Freiheit, sich von Gott zu lösen. Und obwohl Kant den lieben Gott in seiner »Kritik der praktischen Vernunft« durch die Hintertür wieder erscheinen; läßt, bleibt der radikale Kern seiner Philosophie: »Die Menschheit ist sich selbst der Zweck«. Eine These, die Marx nicht fremd gewesen sein dürfte.
Agnolis Weg führt von Kant über Fichte zu Hegel und endet schließlich bei Schelling, dem Agnoli eine Art Rückschlag bescheinigt, wenn solche Sportmetaphern in der Philosophie überhaupt Sinn machen:’ Wo Hegel mühsam den Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt herausgearbeitet und mit ihm bereits den Begriff der Entfremdung eingeführt hatte; löste Schelling die Widersprüche durch die »Ursprünglichkeit der Natur«, die allem gemeinsam sei, auf und war damit im Herzen der Romantik angekommen.
Wie jede Lektüre und Interpretation ist auch die von Agnoli parteiisch. So bemüht er sich beispielsweise, Hegel einmal nicht naserümpfend als den preußischen Staatsphilosophen schlechthin zu lesen, sondern .als einen Denker, für den der Staat bloß eine – möglicherweise vorübergehende – Notwendigkeit darstellte. Deshalb widmet sich Agnoli vor allem jenen Stellen bei Hegel, die auch auf Karl Marx großen Eindruck machten, etwa dem Verhältnis von Herr und Knecht in der »Phänomenologie des Geistes«. Vorbild auch für Brechts Stück »Herr Puntila und sein Knecht Matti«. Dort findet sich die eindrucksvolle Stelle, in der Hegel das Abhängigkeitsverhältnis von Herr und Knecht beschreibt: Während der Herr den Knecht benötigt, um sich über ihn zu stellen und als solcher überhaupt erst zu konstituieren, benötigt der Knecht keineswegs den Herrn, sondern definiert sich alleine durch seine Arbeit. In letzter Konsequenz wird der Herr also überflüssig.
Derart wird der deutsche Idealismus bei Johannes Agnoli entstaubt. Unterm Strich begann mit Kant ein Denken der Widersprüche, das bei Hegel seinen vorläufigen Höhepunkt fand: In dem Maße, in dem der Mensch die Welt als Produkt seines Verstandes begriff, wurde ihm auch die Entfremdung, die unwiederbringliche Trennung zwischen Bewußtsein und dem Außen bewußt. Sich selbst als Teil der Natur zu empfinden und mit naiven Augen in die Welt zu blicken, war fortan nicht mehr möglich. Es sei denn, wie Kant-Schüler Schiller es ausdrückte, mit dem »sentimentalischen«, also letztlich wehmütig rückwärts gewandten Blick. Es ist Agnolis Verdienst, dieses Wechselspiel aus Vernunft und Verlust, aus Befreiung und Ernüchterung herausgearbeitet zu haben.
Aus: junge Welt v. 23. Januar 2002