Wolf Raul – Von subversiver Theorie und Klassenautonomie
Wolf Raul
Von subversiver Theorie und Klassenautonomie
Sammelrezension von:
- Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik (Gesammelte Schriften Band 1), Freiburg: ça ira – Verlag 1990
- Johannes Agnoli, Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik, (Gesammelte Schriften Band 2), Freiburg: ça ira – Verlag 1995
- Johannes, Agnoli, Subversive Theorie. “Die Sache selbst” und ihre Geschichte. Eine Berliner Vorlesung. Herausgegeben von Christoph Huhne (Gesammelte Schriften Band 3), Freiburg: ça ira – Verlag 1996
- Johannes Agnoli, Faschismus ohne Revision (Gesammelte Schriften Band 4), Freiburg: ça ira – Verlag 1997
- Ernest Mandel/Johannes Agnoli, Offener Marxismus. Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und die Häresie der Realität, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1980
- Geduld und Ironie. Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann und Clemens Nachtmann, Freiburg: ça ira – Verlag 1995
I.
Als sich Johannes Agnoli im Wintersemester 1989/90 offiziell aus dem akademischen Betrieb verabschiedete, tat er dies mit einer Vorlesung zur Geschichte subversiver Theorie, einem Rückblick auf jene häretischen Denktraditionen also, in denen er wohl auch seine eigene theoretische und praktische Arbeit verortet sehen will. Wenn sich Agnoli in dieser Vorlesung der theoretischen Seite der Subversion zuwendet, dann wohl auch in der Absicht, aufzuzeigen, daß in Zeiten mangelnder praktischer Subversion, die manchen sich einstmals vehement subversiv dunkelnden Revoluzzer längst haben friedfertigwerden lassen, die gedankliche Selbstvergewisserung subversiver Traditionen -gewissermaßen einer Geschichte von unten gegen eine Geschichte der jeweils Herrschenden, die neuerdings einmal mehr in der apologetischen Vision vom Ende der Geschichte mündet – ganz eigene praktische Qualitäten gewinnt. Die Lust an der Subversion, an der mal mehr theoretisch, mal mehr praktisch ausgeprägten Kunst, das Unterste nach oben zu kehren, durchzieht die uns bekannte Geschichte und es gibt allen anderslautenden Gerüchten keinen Grund zur Annahme, daß die Geschichte in dieser Hinsicht an ein Ende gelangt ist. Agnolis ideengeschichtlich angelegter Überblick über verschiedene Formen subversiver Theorien zeigt in exemplarischer Weise – ausgehend von den drei mythischen Figuren Eva, Prometheus und Antigone über Denker der griechischen und römischen Antike, christliche Häresien des Mittelalters, Thomas Müntzer, die Monarchomachen, die Leveller und Digger der englischen Revolution, Spinoza und Vico bis zur Aufklärung und zur Französischen Revolution -, daß Subversion auf mehr zielt als bloße protestantisch-verinnerlichte Gedankenfreiheit, daß sie vielmehr immer in unmittelbarer Nachbarschaft von Utopie, von Widerstand und schließlich, im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft und des diese konstituierenden Kapitalverhältnisses, von Revolution anzusiedeln ist. Subversives Denken ist niemals selbstgenügsam, sondern bezieht sich immer, vermittelt oder unvermittelt, auf konkrete Zustände und ist insofern grundsätzlich häretisch. Häresien aber, so Agnoli, “widerstreben dem Totalitätsanspruch der Kirchen auf die Wahrheit”. Das wiederum bezieht sich beileibe nicht nur auf die Kirchen im engeren Sinne, sondern auf alle Gedankensysteme, die keine freien Diskussionen mehr zulassen, sondern zwecks Herrschaftsabsicherung zur puren Ideologie, zur theoretischen Legitimation neuer Machtverhältnisse verkommen.
Nicht von ungefähr werden gleich zu Beginn des 1980 veröffentlichten ausführlichen Gesprächs zwischen Agnoli und Ernest Mandel über “offenen Marxismus”, in dem Agnoli mit der entsprechenden Zurückhaltung den Interviewer und Mandel mit der entsprechenden Ausführlichkeit den Interviewten spielt, die aus den Selbstverständnisdebatten marxistischer Theoretiker hinreichend bekannten Begriffe “Dogmatismus” und “Orthodoxie” ins Spiel gebracht. Während Mandel zwar den Begriff “Dogmatismus” für sich ablehnt, zugleich aber den Begriff “Orthodoxie” im Sinne eines an Marxsche Denkkategorien anschließenden und diesen sich verbunden fühlenden Marxismus retten will, rekurriert Agnoli ganz beiläufig auf zwei Begriffe, die das Verhältnis zwischen Marx und allen seinen unterschiedlichsten Adepten in einen sowohl für Dogmatiker im engeren als auch für Orthodoxe in einem weiteren Sinne wohl nicht akzeptablen Zusammenhang bringen: Scholastik und Häretik. Damit wird das Verhältnis zwischen Marx und seinen ihm nachfolgenden und untereinander unendlich zerstrittenen, sich aber gleichwohl allesamt auf ihn berufenden Nachfolgern in eine weit über dieses Verhältnis hinausreichende Dimension verschoben. Bereits Karl Korsch hatte sich nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Marx und den unterschiedlichsten und einander zum Teil aufs schärfste widersprechenden Marxismen auf der einen Seite, der realen Geschichte der Arbeiterbewegungen und entsprechenden revolutionären oder auch reformistischen Theorien auf der anderen Seite zu der Erkenntnis durchgerungen, daß es sich sowohl bei dem Werk von Marx als auch bei den Werken der auf ihn folgenden Marxisten um Ergebnisse mehr oder weniger angestrengter theoretischer Arbeit handelte, deren Stellenwert nur aus dem Kontext der jeweiligen historischen – ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen – Gegebenheiten heraus verständlich wird. Wenn man das wissenschaftliche und praktische Wirken von Marx als Versuch einer auf der Basis seiner Kritik der politischen Ökonomie theoretisch durchdachten angewandten Revolutionstheorie versteht und dabei zugleich bedenkt, daß die Marxsche Revolutionstheorie als Versuch der Verarbeitung zeitbedingter theoretischer und praktischer Erfahrungen nur eine unter vielen möglichen Revolutionstheorien (gewesen) ist, dann wird nachvollziehbar, daß jeglicher Bezug auf Marx sich zumindest dann, wenn er dessen Werk als eine Art Selbstbedienungsladen für politisch funktionale Versatzstücke betrachtet – und dies ist mit unterschiedlichem methodischem Geschick das eigentliche Kennzeichen des gemeinen Marxisten – mit dem Begriff Scholastik fassen läßt; umgekehrt wiederum bedeutet dies, daß – zumindest in tradierter Sichtweise – jeder Bezug auf Marx, der die Analyse der jeweiligen ökonomischen und politischen Realität und nicht eine Kompilation mißverstandener Marxscher Begrifflichkeiten zum Maßstab emanzipatorischer Politik macht, sich mit dem Begriff der Häresie schmücken darf. Mit diesen beiden Begriffen läßt sich von daher nicht nur das jeweilige Verhältnis zu Marx, sondern ganz beiläufig auch der eigene revolutionäre Anspruch recht prägnant erfassen, insofern die je eigene intellektuelle Redlichkeit und Unabhängigkeit zur Debatte steht; zudem verweist jede häretische Bezugnahme auf Marx ganz beiläufig darauf, daß auch dieser seinen ganz spezifischen historischen Ort hat, und zwar dergestalt, daß es eben nicht, wie der marxistische Scholastiker dies glauben machen will, eine Geschichte vor Marx und eine Geschichte nach Marx gibt. Im Gegenteil, es gibt eine Geschichte revolutionärer Bewegungen praktischer und theoretischer Manier und im Fluß dieser Geschichte taucht zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt der verhinderte Akademiker Karl Marx mit ganz bestimmten revolutionstheoretischen Überlegungen auf der Basis einer Kritik der (bürgerlichen) politischen Ökonomie und – hin und wieder – mit revolutionspraktischen Anstrengungen auf dem Hintergrund sich gegen das Kapitalverhältnis zur Wehr setzender und sich dabei organisierender Arbeiter auf. Jede diese revolutionstheoretischen und revolutionspraktischen Anstrengungen von Marx absolut setzende Interpretation manifestiert nichts anderes als den Versuch, auf der Basis scholastischer und oft genug in Lehrbüche rn zusammengefaßten Interpretationen des Marxschen Werkes neue Herrschaftsformen zu etablieren und zu rechtfertigen; solche scholastischen Interpretationen können konsequenterweise nicht in der Geschichte subversiven und revolutionären Denkens verortet werden. Ein revolutionärer Bezug auf Marx kann demzufolge immer nur ein häretischer Bezug in dem Sinne sein, daß, wenn man Geschichte als Revolutionsgeschichte liest, Marx – ohne dabei den Stellenwert seines entsprechenden Beitrages zu qualifizieren – nur ein Glied in einer Kette ist, deren Anfang auszumachen schwierig ist und deren Ende allen zeitgeistigen Gerüchten zum Trotz noch längst nicht abzusehen ist. Eines aber steht auf jeden Fall fest: Allzuviele derjenigen, die sich als Marxisten verstanden haben und immer noch der Geschichte des Marxismus zugerechnet werden, sind allen anderslautenden Gerüchten zufolge in der Geschichte der Konterrevolution zu verorten.
II.
Zu besonderen Höhenflügen setzte die Kunst der Scholastik einmal mehr Ende der sechziger und in den frühen siebziger Jahren ein, als eine ganze Generation von beim Staat angestellten oder gar verbeamteten Revolutionären die Entdeckung machen mußte, daß der zur neuen Leitfigur erkorene Karl Marx, der sich ganz beiläufig auch zwecks akademischer Karriere für einige Jahre recht gut vermarkten ließ, in seinem umfangreichen Werk keine ausgearbeitete Staatstheorie hinterlassen hatte; keine Frage, daß dieses Problem zwecks Selbstverständigung der revolutionären Beamten und Angestellten gelöst sein wollte und zu ungeahnten Leistungen scholastischer Marxexegese anregte. Diese sich in Massen von bedrucktem Papier niederschlagenden Anstrengungen zeugen zwar von einer ausgedehnten Marx-Lektüre, trugen aber ansonsten wenig oder auch gar nichts zu der wortreich proklamierten Analyse der damaligen politischen Gegebenheiten bei; allenfalls taugten sie zur Legitimation diverser aus der Klamottenkiste einer längst historisch gewordenen Arbeiterbewegung entliehener Organisationsansätze, die ihre Adepten ein gutes Jahrzehnt später in die offenen Arme einer dann endlich zeitgemäßen Partei – die “Grünen” – entließen. Schon bevor die damals erneuerte Kunst der Marxexegese ungeahnte Blüten trieb, hatte Agnoli im Jahre 1967 unter dem Titel “Transformation der Demokratie” einen Text veröffentlicht, in dem er von der Idee ausging, daß es angesichts der Tatsache, daß sich der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere im Kontext und im Anschluß an die faschistischen Erfahrungen, zu einem bedeutenden Interventionsinstrument entwickelt hatte, neben der seit Marx tradierten Kritik der politischen Ökonomie einer eigenständigen Kritik der Politik bedürfe. Spätestens aber als Rudi Dutschke bereits 1968 den “langen Marsch durch die Institutionen” proklamierte, hätte klar sein müssen, daß sich die Linke zu diesem schon bald als “Bibel der APO” bezeichneten Buch nicht anders verhalten würde als die christlichen Kirchen zu ihrem heiligen Buch, der eigentlichen Bibel – in beiden Fällen dienten die Bücher allenfalls als Fundus für je nach Umständen angebracht erscheinende zitierfähige Weisheiten, die mit den tatsächlichen materiellen Interessen der Zitierenden zumeist jedoch nur wenig zu tun hatten, ihnen oft genug eher konträr gegenüberstanden. Eine “Bibel” ist die “Transformation der Demokratie” also allenfalls in einem übertragenen Sinne, gewesen; die Linke konnte sich in einem bestenfalls euphemistischen Sinn darauf beziehen, da sie bereits damals trotz aller revolutionären Attitüden mehrheitlich Staats fixiert war.
Bereits in ihrem frühen Werk “Die deutsche Ideologie” hatten Marx und Engels darauf verwiesen, daß die Proletarier, “um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben (müssen). Sie befinden sich daher auch”, so Marx und Engels weiter, “im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.” Am Ziel der Abschaffung des Staates haben Marx und Engels, auch wenn später der von vielen ihrer Nachfolger zwecks Herrschaftslegitimation mehr miß- als bloß gebrauchte Begriff einer “Diktatur des Proletariats” eine unglückselige Rolle spielte, immer festgehalten. Will man diese Zielvorstellung, derzufolge die politische Organisationsform Staat unweigerlich an die spezifisch kapitalistische Organisation der Arbeit gekoppelt ist, zum Kriterium einer Bewertung revolutionärer und reformistischer Marxismen unterschiedlichster Spielarten machen, dann muß man ohne Zweifel zu der bitteren Erkenntnis gelangen, daß diejenigen, die sich als treue Marxisten glaubten und glauben in die Geschichte einschreiben zu können, durchweg ihr Klassenziel nicht nur nicht erreicht haben, sondern von ihren Intentionen her wohl auch verfehlen mußten: Sozialdemokraten, Sozialisten, Bolschewisten, Parteikommunisten unterschiedlichster Couleur und zuletzt – wie bereits angedeutet – in einem zur Farce geratenen Schnelldurchgang marxistische Grüne hatten allesamt nicht die Abschaffung oder gar den Sturz des Staates im Sinn, sondern die Eroberung staatlicher Machtpositionen. Erst im Gefolge eines solchen gelungenen Eroberungsfeldzuges sollte die Umwälzung der kapitalistischen Organisation der Arbeit in Angriff genommen werden; diese Strategie der politischen Machteroberung hat zwar hier und da zum Austausch politischer Repräsentanten geführt – abgesehen vom reformistischen, eine tatsächliche Umwälzung gar nicht mehr ins Auge fassenden Sozialstaat sozialdemokratischer Manier kann die gewaltsame Machtübernahme der Bolschewiki im Jahre 1917 als geschichtsträchtigstes wie auch fatale Illusionen erweckendes Beispiel gelten -, dem eigentlichen Ziel, einer gesellschaftlichen Assoziation freier Individuen, ist man dabei jedoch keinesfalls näher gekommen.
Daß die Marxisten jeglicher Couleur sich mit der Bestimmung von Rolle und Funktion des bürgerlichen Staates, mit der Funktion des Politischen also, seit jeher schwer getan haben, hängt beileibe nicht alleine oder auch nur in erster Linie damit zusammen, daß sie von Marx in dieser Hinsicht im Stich gelassen wurden. Die diesbezüglichen Schwierigkeiten resultieren vielmehr daraus, daß Marxisten in dem Moment, in dem sie sich als Partei organisieren, notwendigerweise gerade auf dem Terrain aktiv werden, daß es der eigentlichen Zielsetzung zufolge doch gerade abzuschaffen gilt; als politische Partei unterwerfen sie sich einer Handlungslogik, der tatsächlich die Eroberung der Staatsgewalt, des Zentrums des Politischen also, zum obersten Ziel wird. Der daraus resultierende Widerspruch – Abschaffung des Staates als Ziel auf der einen Seite, Eroberung des Staates als politisches Etappenziel auf der anderen Seite – hat sich weder in der Praxis marxistischer Parteien noch in den theoretischen Überlegungen marxistischer Denker aufheben lassen; daß Marx keine ausgearbeitete Staatstheorie hinterlassen hat, darf durchaus als Ausdruck dieses Widerspruchs, den keine noch so scholastischen Textexegesen weginterpretieren können, gelesen werden. Eine konsequent durchdachte marxistische Staatstheorie als Theorie des Politischen müßte zumindest zu der Erkenntnis vordringen, daß eine Abschaffung des Staates und eine dementsprechende Transzendierung bürgerlicher Politikformen zumindest für die eigene Praxis eine radikale Aufhebung der Politikform voraussetzt, die zur Basis bürgerlicher Politik geworden ist, der politischen Partei nämlich.
Als Agnoli 1967 seine “Transformation der Demokratie” veröffentlichte, sollte dies wohl kaum als Beitrag zu einer in den Folgejahren modisch werdenden marxistischen Staatsdiskussion verstanden werden. Agnoli setzte sich mit einer bestimmten Staatsform, dem westlichen, insbesondere bundesrepublikanischen Parlamentarismus auseinander und wußte dadurch mehr und insbesondere Erhellenderes ü ber die Funktionsweisen von Politik und politischen Apparaten zu berichten als jegliche hochtrabende theoretische Ableitungsdiskussion. Agnolis Untersuchung zielte auf die Untersuchung der spezifisch parlamentarisch-demokratischen Verwaltung des die bürgerlichen Gesellschaften der Neuzeit kennzeichnenden Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung des Reichtums. Die im Staat sich manifestierenden politischen Apparate sind immer Ausdruck des Herrschaftswillens und der Herrschaftsfähigkeit der bürgerlichen Klasse und Transformationsriemen der jeweils unterschiedlichen Gestaltung dieser Herrschaft. Dies gilt für den konstitutionellen bzw. liberalen Staat des neunzehnten, den faschistischen bzw. nationalsozialistischen Staat des frühen zwanzigsten und schließlich auch für den parlamentarischen Verfassungsstaat der Jetztzeit; all diesen verschiedenen Organisationsweisen politischer Macht ist die Bestimmung gemein, den gesellschaftlichen Widerspruch glätten, ausgleichen und notfalls auch mit terroristischen Mitteln absichern zu müssen. Die parlamentarische Demokratie muß also, so Agnoli, “in der Lage sein, disziplinierend in den Widerspruch einzugreifen”, ihn so zu gestalten, daß er an der gesellschaftlichen Oberfläche als pluralistischer und institutionell abgesicherter sozialer Friede erscheint. Tatsächlich aber, so Agnoli weiter, verbirgt sich hinter dem schönen Schein des parlamentarischen Pluralismus nichts anderes als eine “Involutionstendenz zu einem autoritären Staat rechtsstaatlichen Typus”, wobei Involution als “Gegenbegriff zu Evolution … sehr genau den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozeß der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen” bezeichnet. Agnolis Analyse der Involution der bürgerlichen Demokratie, der Rückentwicklung eines ursprünglich – in der revolutionären Phase des Bürgertums – positiv konnotierten parlamentarisch-demokratischen Prozesses zu einem autoritären, nach ganz eigenen Spielregeln funktionierenden Staatswesen, besagt letztlich nichts anderes, als daß gegen Kapital und Staat gerichtete emanzipatorische Bewegungen niemals auf teilhabende Integration in dieses System abzielen können, sondern einem destruktiven Verhältnis zur Herrschaftsform Staat verpflichtet sind.
In der Welt des schönen pluralistischen Scheins spielen insbesondere die politischen Parteien als vorgebliche Repräsentanten des Volkes jene spezifische Rolle, die dem Staat letzte Legitimation und Salbung zugleich zukommen läßt. Insofern der Staat aber Organ der Verwaltung, keinesfalls der Abschaffung des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs ist, sind politische Parteien, gleich welcher Provenienz, allenfalls Teilhaber an dieser Verwaltung, nicht aber Organisationen, die gleichsam stellvertretend diesen Widerspruch lösen und somit die bloß politische Emanzipation in eine soziale Emanzipation überführen. Eine Partei, die sich als Klassenpartei mit dem Ziel der Aufhebung des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs verstanden wissen will und trotzdem an dieser Veranstaltung Staat teilhaben möchte, wird somit notwendigerweise zu einer “staatspolitischen Vereinigung”. Im Angedenken an die historischen Erfahrungen mit der Integration sozialdemokratischer Parteien in den pluralistischen, nicht an der Lösung von Herrschaftskonflikten, sondern an der Gestaltung von Führungskonflikten interessierten Parlamentarismus, kommt Agnoli zu der Einschätzung, daß “in den westlichen Ländern mit einer politisch profilierten, oder gar teilweise kommunistisch organisierten abhängigen Klasse die Parlamentarisierung der Linken zu einer Lebensfrage des Kapitalismus geworden (ist)” – eine Einschätzung, die durch spätere Ereignisse (die ablehnende Haltung der französischen KP gegenüber den revolutionären Ereignissen des Pariser Mai von 1968, die Integrationsversuche der italienischen KP nach dem heißen Herbst von 1969 und, im Kontext der Strategie des historischen Kompromisses mit den Christdemokraten, die repressive Haltung gegenüber den autonomen Bewegungen der siebziger Jahre, sowie der bereits 1968 angetretene lange Marsch bundesdeutscher Linker, der schließlich in grünen Parlamentsfraktionen ein genügsames Ende fand) in jeder Hinsicht bestätigt wurde.
III.
Auch in seiner Analyse des Faschismus bzw. Nationalsozialismus hat Agnoli konsequent den unmittelbaren Zusammenhang zwischen ökonomischem Verwertungsprozeß und jeweiliger politischer Ordnung herausgearbeitet. In dem bisher unveröffentlichten und seit kurzem in dem Band “Faschismus ohne Revision” – in dem sich u.a. auch eine frühe Auseinandersetzung mit dem unsäglichen Ernst Nolte findet, der mit seinen kruden Theorien über den Zusammenhang von Stalinismus und Nationalsozialismus, die wenig mit seriöser Geschichtsschreibung, aber viel mit einer rechten Umdeutung geschichtlicher Ereignisse zu tun haben, im Zuge der gegen Daniel Goldhagen errichteten nationalen Einheitsfront bundesdeutscher Historiker auch bei manchen seiner früheren Gegner auf nunmehr positive Resonanz stößt – zugänglichen Text “Jenseits von Liberalismus und Sozialismus’. Kooperatives System, Kapitalismus und Faschismus in Italien” arbeitet er sehr prägnant den Prozeß der ganz wesentlich über Verrechtlichung funktionierenden Zusammenarbeit zwischen Staat, Kapital und Arbeit heraus. “Faschistisch”, so hält Agnoli fest, “ist diejenige Stiftung des sozialen Friedens, die in einer dynamisch gewordenen und insofern emanzipatorische Kräfte freisetzenden Gesellschaft durch eine spezifisch ‘korporative’, das heißt auf die Partnerschaft von Privatkapital und Kollektivarbeit angelegte Organisationsform der Wirtschaft jedwede Emanzipation verhindern will.” Es braucht wahrlich nicht des expliziten Hinweises darauf, daß “der faschistisch-korporative Versuch in nuce schon alle Elemente (und Unsicherheiten) (zeigt), die viel später in scheinbar ganz anderen Modellen der modernen kapitalistischen Organisation voll zur Entfaltung kommen werden”, um z.B. angesichts der Erfahrungen mit der Nachkriegssozialdemokratie im Ruhrgebiet die Frage zu stellen, was denn dann eigentlich die spezifische Differenz dieser Sozialdemokratie zu dem solchermaßen definierten Faschismus ausmacht. Die Ruhrgebiets-Sozialdemokratie, die in den Jahren der Weimarer Republik, verglichen mit der KPD und dem Zentrum, über den Minderheitenstatus einer protestantischen Milieupartei nicht hinausgelangte, hat nach dem Ende der nicht ganz tausend Jahre währenden Transformationsperiode innerhalb weniger Jahre in trauter Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und entsprechenden Kapitalfraktionen die Basis für eine bis heute stabile Macht gelegt, in die mittlerweile auch die ehemals alternativ sich wähnenden und in sogenannten Kulturzentren gewissermaßen organisierten Gegenmilieus eingebunden sind, deren wesentliche politischen Aktivitäten sich längst schon darauf beschränken, von den Pleitegeiern in Stadt und Land zur materiellen Existenzsicherung dringend benötigte Finanzmittel einzufordern, die dann auch, zwecks Hegung der alternativen Szene, durchweg bewilligt werden. Es darf vermutet werden, daß nicht zuletzt die Erfahrungen in der ersten deutschen Einheitsgewerkschaft, der “Deutschen Arbeitsfront”, die wiederum mit “Kraft durch Freude” der noch in den zwanziger Jahren florierenden Arbeiterbewegungskultur ein Ende bereitete und stattdessen ihrem Klientel erste Eindrücke der kommenden Konsumgesellschaft vermittelte, für das Bündnis zwischen Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Ruhrgebietskapital in ganz entscheidendem Maße prägend gewesen sind; daß die gezielte Ausschaltung von kommunistischen und linkssozialistischen Kräften – soweit diese die nationalsozialistische Verfolgung überlebt und/oder aus der Emigration zurückgekehrt waren – diesem stabilen Bündnis erst den notwendigen Rückhalt gegeben hat, sei nur angemerkt.
Auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat Agnoli , jenseits und in Überwindung der diesbezüglich in den sechziger Jahren geführten Debatte über Primat der Politik oder Primat der Ökonomie, in dem zusammen mit Bernhard Blanke und Niels Kadritzke verfaßten Vorwort zu Alfred Sohn-Rethels erstmals 1973 erschienener Arbeit “Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus” darauf bestanden, daß die im Anschluß an die Weltwirtschaftskrise und die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit “ökonomisch zwingend gewordene Krisenlösungsstrategie des deutschen Kapitals den Zwang zur terroristischen Diktatur des Faschismus setzt, der als politischer Garant dieser Krisenlösung seinerseits die ökonomischen Zwangsgesetze vollstreckt, welche damit auf irreversible Weise in Gang gebracht sind”. Auch wenn Agnoli einen wesendlichen Aspekt nationalsozialistischer Massenmobilisierung, der sich in aller Kürze mit den Stichworten Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus umschreiben läßt, außer Acht läßt, zumindest nicht thematisiert, so muß man doch auch polemisch fragen, ob und inwieweit die seit einigen Jahren anhaltende und zunehmend sich verstärkende Auseinandersetzung mit diesen “ideologischen”, gleichwohl auf mörderische Weise praxiswirksamen Elementen der nationalsozialistischen Herrschaft auch als Verdrängung zu interpretieren ist, als Verdrängung nämlich grundlegender Fragen nach dem Verhältnis zwischen Verwertungszwängen kapitalistischer Ökonomie und entsprechender staatlicher Politik. Vom Kapitalismus, von Verwertungszwängen des Kapitals und entsprechenden politischen Organisationsformen zu sprechen ist seit geraumer Zeit nicht mehr angesagt, weder im Hinblick auf die Erforschung des Nationalsozialismus noch im Hinblick auf aktuelle ökonomische und politische Krisenerscheinungen. Wenn bei der Erforschung des Nationalsozialismus von Kapital, von Banken, von Firmen und Konzernen die Rede ist – und die Historiker decken diesbezüglich immer neue Details auf -, dann herrscht eine starke Tendenz zur Personalisierung vor, was im Hinblick auf die Herausarbeitung von Verantwortlichkeiten ohne jeden Zweifel zu begrüßen ist. Ein möglicherweise durchaus erwünschter Nebeneffekt dieser Detailforschung besteht jedoch darin, daß Fragen nach möglichen kapitalimmanenten Verwertungszwängen – wobei diese Verwertungszwänge immer im Kontext der sich mehr oder minder erfolgreich artikulierenden und nach Klassenautonomie strebenden Arbeiterkämpfe betrachtet werden müssen – überhaupt nicht mehr gestellt werden; dabei dürfen diese Fragen nach ökonomischen Verwertungszwängen jedoch nicht verwechselt werden mit jenen von einer bestimmten liberalen Historikerfraktion thematisierten gesellschaftlichen Strukturen, in die der Einzelne auf vielfältige materielle und mentale Weise eingebunden ist und die ihn letztlich – dies darf man wohl als einen nicht unerheblichen Nebeneffekt dieser Argumentationsweise betrachten – jeglicher individueller Verantwortlichkeit entheben.
Der Verzicht auf die Thematisierung eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen ökonomischer Verwertungslogik und politischer Formgebung hat ganz nebenbei auch einen durchaus aktuellen Bezug. In Zeiten ökonomischer Krise, hoher Arbeitslosigkeit und eines gerade auch in den sogenannten Mittelschichten wachsenden und insbesondere auch zunehmend gewalttätiger agierenden Rechtsradikalismus würde die Thematisierung dieses Zusammenhangs konsequenterweise weit hinausgehend über die immer hilfloser wirkenden Krisenbewältigungsstrategien der politischen Parteien die Mechanismen kapitalistischer Ökonomie in Frage stellen müssen. Dies, aber auch die Erinnerung an die oben erwähnten Ereignisse (französischer Mai, italienischer heißer Herbst und die Strategie der Klassenautonomie, überhaupt die außerparlamentarische Bewegung, soweit sie libertär im eigentlichen Sinne des Wortes, also nicht etwa in der später zeitweise modisch gewordenen Bedeutung von ökolibertär, war) erhellt, daß Agnolis kritische Auseinandersetzung mit der parlamentarischen Demokratie – die eben keine Parlamentarismuskritik im Sinne einer bei Marxisten traditioneller Couleur so beliebten wenig materialistischen, dafür um so mehr moralisierenden Gegenüberstellung von Verfassungsrealitäten und Verfassungsnormen sein will, sondern eine Kritik der Politik als staatlich organisierter Repräsentation gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen – mehr ist als bloß ein Abgesang auf die immer wieder in die Fallen des Parlamentarismus tappende und dabei doch auch radikal sein wollende Linke. Indem Agnoli auf dem jeweils zu entschlüsselnden Zusammenhang zwischen ökonomischen Verwertungszwängen und politischer Organisationsform beharrt, führt er ganz nebenbei alle jene gegenwärtigen Anstrengungen, dem zunehmenden Rassismus in dieser Gesellschaft mit bloßer politischer Aufklärung beikommen zu wollen, ad absurdum.
Durch das gesamte Werk Agnolis, der sich einmal als “Kreisdenker” bezeichnet hat, dem nicht die ansonsten die akademischen Gefilde beherrschende “Gnade” zuteil geworden ist, “aus immer neuen Einfällen immer neue innovatorische Theorien zu entwickeln”, zieht sich wie ein roter Faden die subversiv fundierte Auseinandersetzung mit der Herrschaftsform Staat. Im Zentrum nahezu aller seiner Texte steht die Frage nach der mit seiner relativen Autonomie verbundenen Funktion des Staates in der faschistischen und insbesondere auch der nachfaschistischen bürgerlichen Gesellschaft. Allen linken Illusionen, denen zufolge der Staat nichts anderes sei als ein Organisationsgefüge, das für emanzi-patorische Zwecke in Dienst genommen werden könne, erteilt Agnoli eine konsequente Absage. Die Funktion des Staates, so resümiert er, besteht in der Zusammenfügung der “durch Partikularinteressen und die Marktkonkurrenz zerrissenen Bourgeoisie”: “Die Form Staat besorgt also eine doppelte Vereinheitlichung: Synthese der bürgerlichen Gesellschaft zum einen und damit auch Integration oder Repression ihres negativen Elementes; zum anderen Zusammenfassung der bürgerlichen Klasse und somit Bildung auch auf der Ebene der Macht, der Allgemeinheit des Produktionsverhältnisses als ökonomischer, sozialer, politischer Totalität.” Der Staat ist in dieser Perspektive konsequenterweise nichts anderes als der Statthalter der präventiven Konterrevolution, die nicht zuletzt in der systematischen und auf teilhabende Integration angelegten Verrechtlichung aller sozialen Beziehungen zum Vorschein kommt. Die Negation der kapitalistischen Ökonomie als Aufstand des Gebrauchswertes gegen den Tauschwert muß also einhergehen mit der Rebellion gegen die im Staat verkörperte politische Macht; die in der marxistischen Orthodoxie, insbesondere aber auch in ihren reformistischen Abwandlungen tradierte Konzeption von Revolution bzw. Emanzipation als Übernahme der Staatsmacht durch eine politische Partei war schon seit jeher nichts anderes als eine im Jakobinismus wurzelnde bürgerliche Illusion.
Agnolis Texte muß man wohl durchgehend als politische Interventionen lesen. Er entwickelt seine Thesen nicht in der Weise des seinerzeit hierzulande in akademischen Kreisen so beliebten und mittlerweile weitgehend auf dem berüchtigten Misthaufen der Geschichte vergessenen Ableitungsmarxismus, sondern in der Auseinandersetzung mit jeweils konkret benannten Problemen. Gerade dies aber, daß seinen Analysen zur Interdependenz von Politik und Ökonomie der Charakter der politischen Intervention, der Kritik jeweils konkreter politischer oder ökonomischer Verhältnisse auch Jahre nach der Entstehung noch anzumerken ist, macht ihre Aktualität aus. Das dürfte sich erst recht dann als zutreffend erweisen, wenn die aktuellen ökonomischen und politischen Probleme im Kontext von Globalisierung und zunehmender Arbeitslosigkeit tatsächlich, so Ralf Dahrendorf, “ein Jahrhundert des Autoritarismus” zumindest nicht unwahrscheinlich machen. Eine solche Entwicklung wird ohne Zweifel auch der als Akademiker, Lehrer oder Sozialarbeiter etablierten Linken, die sich in den sechziger und siebziger Jahren als teilweise vehementer Kritiker des interventionistischen Sozialstaats hervortat, ganz neue Perspektiven bieten. In lebenspraktischer Hinsicht längst abhängig geworden von diesem Staat, könnte sich diese zu einer Art grüner FDP mutierten Linke – in den Spitzenpositionen weitgehend von ehemaligen, immer schon auf den Staat fixierten Marxisten-Leninisten oder über den “Eros der Macht” sinnierenden “Revolutionären Kämpfern” besetzt – schließlich eine solche Perspektive durchaus zu eigen machen – ein rechter Koalitionspartner wird sich zweifellos finden.
IV.
Agnoli war sich schon früh bewußt, daß er als staatlich bestellter Akademiker von einem “Randbezirk” aus agierte, gewissermaßen in einer Art geschlossener Anstalt, in der “die Aufforderung zur Revolution straffrei gestellt werden kann”. Wohl gerade deshalb und aus der Erkenntnis heraus, daß “Massenspontaneität und Bewußtseinsorganisation” zusammenwirken müssen, ist er jenen in den späten sechziger Jahren aufblühenden Illusionen nicht aufgesessen, die ihre dem Anspruch nach sozialrevolutionären Absichten von einer politisch organisierten Vermittlung nicht zu trennen gewillt waren, sei es, daß sie sich aller besseren Erkenntnis zuwider parteiförmig organisierten oder gar glaubten, einzelnen Repräsentanten des staatlichen Machtsystems mit der Waffe in der Hand gegenübertreten zu müssen.
In dem 1986 veröffentlichten Text “Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur ‘Transformation der Demokratie’“ widmet sich Agnoli, neben einer Auseinandersetzung mit den Argumenten einiger Kritiker, die ihm eine Nähe zur Parlamentarismuskritik Carl Schmitts, Linksfaschismus oder auch ein Schwelgen in Verschwörungstheorien glaubten unterstellen zu müssen, insbesondere diesen im Gefolge der antiautoritären Revolten wieder auferstandenen und zu neuer Blüte gelangten Staatsillusionen, die, angefangen beim langen Marsch durch die Institutionen über die marxistisch-leninistischen Kaderparteien, ihren exquisiten Ausdruck bei den “Grünen” gefunden haben. Die Integration der zu Alternativen und Grünen mutierten ehemaligen Neuen, tatsächlich aber doch eher Alten Linken, erscheint nur folgerichtig; in dieser Entwicklung wiederholen sich jene Erfahrungen, die sich am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie des wilhelminischen Kaiserreichs detailliert studieren lassen; der sozialdemokratischen Tragödie folgte die grün-alternative Farce. Die Grünen richten sich längst, so bemerkt Agnoli ironisch, “nach den Maßgaben der ‚Transformation der Demokratie’, denn sie tun genau das, was in der ‚Transformation der Demokratie’ der ‘Opposition seiner Majestät’, als einem Bestandteil der politischen Klasse vorbehalten wird. Insofern machen sie aus der ehemaligen ‘Bibel der APO’ den Knigge des innerparlamentarischen Benehmens und der Präsenz in der großen Staatspolitik.” Mit anderen Worten: Die “Grünen” sind zu einer Art Kirche geworden, in der die ehemals revolutionär gesinnten Bürgerkinder ihre irdische Heimat gefunden haben, und aus der ehemaligen “Bibel der APO” ist eine Schrift geworden, die den grünen Kirchgängern als Handbuch der politischen Machteroberung dient, obwohl sie doch subversiv gelesen sein will.
Es ist nicht nur die einfache Tatsache, daß die kapitalistische Produktionsweise, die darauf basierenden gesellschaftlichen Strukturen und politischen Herrschaftsformen – mit anderen Worten: der parlamentarische Verfassungsstaat als “präventive Konterrevolution in Permanenz” – seit der Erstveröffentlichung der “Transformation der Demokratie” nicht nur völlig intakt geblieben sind, sich zudem im Bewußtsein der Öffentlichkeit nach der Implosion der in falscher Euphorie als “realsozialistisch” bezeichneten Systeme als alternativlos präsentieren können, sondern insbesondere die in der Zwischenzeit gemachte Erfahrung, daß trotz aller besseren historischen Erkenntnisse die naivsten Staatsillusionen im linken Milieu eine nicht nur, aber vorwiegend grüne Wiedergeburt erlebt haben, die zur bleibenden Aktualität der “Transformation der Demokratie” beitragen. “Aus der Erkenntnis”, so Agnoli zwanzig Jahre später in seiner “Kommemorativabhandlung”, “daß der Kapitalismus das Leben zerstört und sein Staat die Zerstörung institutionalisiert, kann der Schritt ins Emanzipatorische nicht unmittelbar vollzogen, noch die politische Zwangsanstalt negiert werden.” Dies schließt aber nicht aus, daß es jenseits allen reformerischen Strebens eine Tradition von “stets als ‘gescheitert’ bezeichneten Rebellen, Häretikern und sonstigen subversiven Elemente(n)” gibt, die sich weder der Logik des Kapitals noch der des dazugehörigen Staates verpflichtet wußten oder wissen, die sich dieser Logik zu entziehen suchten und suchen und immer wieder den Anspruch auf eine Autonomie gegenüber Kapital und Staat zu formulieren wußten und wissen: “Linkskommunismus, Anarchosyndikalismus, vor allem aber revolutionärer Syndikalismus: das sind die Quellen der linken Parlamentarismus-Kritik; in ihren Vorschlägen, Hoffnungen und (meinetwegen!) Utopien, Irrungen und Wirrungen finden sich Motive wieder, die in der Transformation der Demokratie” auftauchen.”
Wenn sich Agnoli in seiner letzten Vorlesung mit den Traditionen vorbürgerlichen und bürgerlichen subversiven Denkens beschäftigt, dann ist das angesichts der trüben Aussichten der gegenwärtigen Linken keine beruhigende Flucht in die Geschichte, sondern ein in größeren historischen Dimensionen argumentierender Versuch, die Linke in einer Denk- und Handlungstradition zu verorten, die die gegenwärtige Misere zu einem eher beiläufigen Geschehen in einer längst nicht abgeschlossenen Geschichte werden läßt, ohne dabei in jene allzu gut bekannte historisierende Metaphysik zu verfallen, derzufolge die verlorenen Schlachten in einem letzten Sieg ihre Aufhebung finden. Die Beschäftigung mit der Geschichte subversiver Theorie ist also als Ausdruck einer Selbstvergewisserung des eigenen theoretischen und praktischen Standortes zu verstehen, eine Selbstvergewisserung, die ihre Berechtigung nicht nur aus der Notwendigkeit der Bewältigung der seit Jahren beschworenen Krise der Linken bezieht, sondern auch – vielleicht sogar mehr noch – aus der möglicherweise viel relevanteren Krise gegenwärtiger bürgerlicher Ökonomie und Politik. Angesichts der wieder einmal manifesten Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals, die sich mit der Beschwörung von Deregulierung und Globalisierung zwar beschreiben, aber durchaus nicht bewältigen lassen, darf man auf die anstehenden politischen Regulierungsmechanismen der sich in wachsender Arbeitslosigkeit und damit verbundener Verarmung weiter Bevölkerungsteile niederschlagenden ökonomischen Krise mehr als gespannt sein. Konfrontiert mit den desintegrativen sozialen Auswirkungen des konsequent betriebenen Abbaus sozialstaatlicher Regulierungsmechanismen sozialer Konflikte, erfolgen in den mittlerweile etablierten Kreisen der zu Grünen mutierten Ex-Linken erste zaghafte Rufe nach Errichtung von Arbeitslagern für arbeitslose Jugendliche zwecks Ableistung sogenannter sozialer Arbeit, die sozial wohl nur in der Hinsicht ist, als sie für den Auftraggeber Staat billig sein soll. Man mag sich gar nicht vorstellen, zu welchen Konsequenzen diese um das Wohl des Staates so sehr besorgte Ex-Linke sich noch hinreißen lassen wird, wenn ihr in absehbarer Zeit tatsächlich einmal in aller Deutlichkeit klar werden sollte, daß die seit Jahren eingeübte Rede von der ausgehenden Arbeit angesichts der schwindenden Integrationsfähigkeit eines destabilisierten Sozialstaates nicht anderes beinhaltet, als daß die Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, ihre Träger also schlichtweg überflüssig sind und allenfalls als unerwünschter Kostenfaktor in einer in dieser Sicht quasi selbstreferentiell ablaufenden Kapitalbewegung wahrgenommen werden. Auch ein industrienaher und die politische Macht anstrebender sozialdemokratischer Ministerpräsident, der die in den letzten Jahren, verstärkt nach der Ü bernahme der DDR, sich ausbreitende nationalistisch-rassistische Gesinnung in der Bevölkerung in tradierter und wohl bekannter Manier mit zielgenauen ausländerfeindlichen Äußerungen aufgreift und sich somit als ordnungspolitischer Diener seiner ökonomischen Herren unüberhörbar ins Spiel bringt, sollte einer noch so sehr von Selbstzweifeln geplagten Linken in aller Deutlichkeit vor Augen führen, daß ein von bürgerlichen Ideologen thematisiertes Ende der Geschichte noch längst nicht abzusehen ist, auch für die Linke nicht. Zur Debatte stehen muß allerdings auch eine innerlinkc fatalistische Haltung gegenüber einer scheinbar blind funktionierenden’ und sich durchsetzenden Verwertungslogik des Kapitals. Es ist in keinem Buch der Geschichte vorherbestimmt, welcher politischer Ausdruck aus den Verwertungs-zwängen des Kapitals zu einem jeweils bestimmten historischen Zeitpunkt folgt. Wenn es 1933 in Deutschland zur Etablierung eines nach innen – gegenüber den Organisationen der Arbeiterbewegung und antisemitisch bzw. rassistisch definierten Bevölkerungsgruppen – und nach außen -zwecks Eroberung und Erschließung neuer Wirtschaftsräume – terroristisch operierenden politischen Systems kam, dann hängt dies ganz wesentlich mit der spezifischen Geschichte jener politischen Gebilde zusammen, aus denen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts das “Deutsche Reich” herauskristallisierte und in dem es eben kein politisches Bürgertum im Sinne der westlichen parlamentarischen Traditionen gab, das sich als politisch eigenständige Kraft gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung in dem Sinne hätte etablieren können, daß es die Verwertungszwänge des Kapitals mit Hilfe einer nichtterroristischen politischen Form in Griff hätte bekommen können, so wie dies in den westlichen parlamentarischen Demokratien der Fall gewesen ist, deren Ökonomien sich angesichts der Folgen der Weltwirtschaftskrise ähnlichen Verwertungsschwierigkeiten gegenüber sahen wie das deutsche Kapital. Die Frage, die sich für die gegenwärtige Linke angesichts der aktuellen Krisensituation allerdings zurecht stellt, ist die, in welcher Weise sie, wenn überhaupt, in die gesellschaftlichen Konflikte intervenieren kann. Die viel beschworene Krise der Linken ist, dies muß an dieser Stelle betont werden, in erster Linie eine Krise derjenigen Linken, die sich auf der Basis einer redundanten Marx-Lektüre als (partei-)politische Linke in den Gefilden bürgerlicher Politik glaubt umtreiben zu können, in denen die Niederlagen der Linken jedoch erfahrungsgemäß vorprogrammiert sind; in diesen Gefilden können Interventionen nur dann als Siege interpretiert werden, wenn das Ziel in der Teilhabe an bzw. der Übernahme von politischer Macht liegt, ein Ziel, das den eigentlichen Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft allerdings allenfalls marginal tangiert, wie am Beispiel keynesianistisch inspirierter sozialdemokratischer Reformpolitik, die seit den siebziger Jahren der Verwertungslogik eines zunehmend internationaler agierenden Kapitals zum Opfer fällt, zur Genüge studiert werden kann. Der Grundwiderspruch zwischen kollektiver Produktion und individueller Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ist trotz aller zwischenzeitlich propagierten Modelle einer gerechteren Verteilung dieses gesellschaftlichen Reichtums nicht aufgehoben und Agnoli kann daher völlig zurecht – auch gegen alle linke Verzweiflung – den bürgerlichen italienischen Philosophen Noberto Bobbio zitieren, demzufolge, so Agnoli, “der Kommunismus nur dann erledigt sein (kann), wenn man ihn verwirklicht hat” und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil alle emanzipatorischen Ansprüche, die sich mit den Begriffen der bürgerlichen Revolution “Gleichheit” und “Freiheit” umschreiben lassen, noch immer auf der Tagesordnung stehen, da sie sich im Rahmen einer bürgerlichen Ökonomie nicht werden lösen lassen. Die Alternative heißt nicht von ungefähr immer noch “Sozialismus oder Barbarei”. Ob die Alternative Sozialismus im Sinne einer Aufhebung des Kapitalverhältnisses und einer Assoziation freier Produzenten allerdings auf dem Wege politischer Organisierung und der Teilhabe am Politischen zu realisieren ist, darf aufgrund der Funktion des Politischen im Gesamtzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft und auf dem Hintergrund der weit mehr als hundertjährigen Erfahrungen mit linken politischen Organisationen bezweifelt werden.
Eine Linke, die den Fallen der Politik entkommen will, wird sich an jenen marginalisierten Traditionen orientieren müssen, die im Kontext der italienischen Klassenkämpfe der sechziger und siebziger Jahre sowie der analogen operaistischen Marx-Lektüre mit dem Begriff “Klassenautonomie” bezeichnet worden ist. Klassenautonomie in diesem Sinne, so Agnoli, “hat einen politökonomischen und einen organisationspolitischen Aspekt. Politökonomisch enthält sie die praktische Kritik des Kapitals: der Arbeitskampf macht sich autonom gegenüber der Kapitalbewegung”, was sich z.B. “in der These von den Löhnen als einer ‘unabhängigen Variable” – unabhängig nämlich von der Ertragslage des Kapitals” – niederschlägt. Organisationspolitisch “(wird) die Kritik an der Politik und die Kritik an der Form Staat zur Kritik an der Form Partei”, mit anderen Worten, es wird jenseits der tradierten parteipolitischen Organisation eine solche gefordert, “die den emanzipatorischen Inhalt auch zur emanzipatorischen Form bringt”. “Klassenautonomie versteht sich aber als selbsttätig, sucht und findet Formen der Autoorganisation. Erst die Autonomie der emanzipatorischen Bewegung schafft die Voraussetzung des kommunistischen Projekts.” Das hat ganz beiläufig auch zur Konsequenz, daß die Frage nach dem revolutionären Subjekt und damit auch die Frage nach der Rolle der bürgerlichen Intelligenz, die im tradierten Marxismus zu ähnlich scholastischen Eskapaden geführt haben wie die Problematik der Staatsableitung, neu gestellt werden müssen. Während die sozialistische Intelligenz der Parteien der Zweiten Internationale noch unmittelbar in das Organisationsgeschehen eingebunden waren, hat die Akademisierung und Einbindung in staatliche Funktionen der sich als sozialistisch verstehenden bürgerlichen Intelligenz seit den zwanziger Jahren zu einer gewissermaßen institutionalisierten Krise im Selbstverständnis dieser Intelligenz geführt; der Bezug zur Arbeiterbewegung mußte und muß konsequenterweise ständig neu gewonnen und entsprechend definiert werden. Auch die aktuelle Krise der Linken ist nicht von ungefähr in wesentlichen Aspekten eine Krise dieser akademischen linken Intelligenz, die ihr Selbstbewußtsein auf paradoxe Weise aber gerade aus der permanenten Thematisierung dieser Krise gewinnt. Mit der Problematik einer Klassenautonomie im oben definierten Sinne hat dies zumeist ähnlich wenig zu tun wie jenes Milieu, das hierzulande unter dem Stichwort “Autonome” gehandelt wird. Bereits in dem 1980 veröffentlichten Gespräch mit Mandel hat Agnoli die Klassenautonomie von dieser spezifisch bundesdeutschen “Autonomisierung kleiner Gruppen gegenüber der Gesamtgesellschaft” unterschieden, in der es um “Gruppen-, Individual- oder Lokalautonomie” geht und die schließlich “in der totalen Privatisierung und in dem Ausbrechen der alternativen Bewegung aus dem massengesellschaftlichen Zusammenhang” endet. Tatsächlich hat sich das Milieu der bundesdeutschen Autonomen seither als eine Szenerie erwiesen, in der verstörte Bürgerkinder für einige Jahre identitätsstiftenden Militanzritualen huldigen und je nach individuellem Gestus mit paranoid anmutender Lust wortgewaltig herbeigeschriebenen sexistischen, kapitalistischen, patriarchalen oder sonstigen Verschwörungen mit denunziatorischem Elan nachspüren, um schließlich als verlorene Söhne und Töchter zumeist wieder in die vertraute Heimstatt zurückkehren; tatsächlich sind die bundesdeutschen Autonomen mit ihrem hochgradigen Autismus längst zur Karikatur ihrer selbst verkommen. Jenseits der akademischen linken Intelligenz und der verwirrten Kinder der Bour geoisie, die sich zwecks Persönlichkeitsfindung zeitweise in autonomen Nischen zusammenfinden, stellt sich im Kontext der Klassenautonomie die Frage nach der Konstituierung der Klasse. Während der klassische Marxismus an dieser Stelle dem politökonomisch definierten und von der bürgerlichen sozialistischen Intelligenz über seine Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozeß aufgeklärten Fabrikproletariat im engeren Sinne die Hauptrolle im revolutionären Prozeß zuspricht, zieht es Agnoli vor, “Klassenzugehörigkeit weiter zu fassen” und “das Proletariat mit den subalternen Klassen zu identifizieren”. Im Italien der siebziger Jahre war entsprechend vom “gesellschaftlichen Arbeiter” die Rede, der nicht mehr durch seine Stellung im fabrikmäßig organisierten Produktions-, sondern viel allgemeiner durch seine subalterne Stellung im gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß definiert ist – eine Definition, die angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit, des zunehmenden Verschwindens der klassischen Arbeit an Prägnanz gewonnen hat. Die Klasse, so läßt sich zusammenfassen, konstituiert sich im Prozeß der Klassenauseinandersetzungen in dem Maße, in dem es ihr gelingt, sich gleichermaßen unter den wie auch gegen die Bedingungen des Kapitalverhältnisses autonom zu setzen; erst in einer so verstandenen Klassenautonomie und nicht in einer proletarischen Partei in tradiertem marxistischen Sinne ist die Klasse zu sich selbst gekommen.
Aus: Kalaschnikow. Die Waffe der Kritik N° 10 / Frühjahr 1998