Andreas Benl bespricht Frank Böckelmanns Über Marx undAdorno"

Andreas Benl

Bei sich geblieben

Vom realen Universalismus des Kapitalverhältnisses zum multikulturalistischen “Tugendterror” des Westens: Frank Böckelmanns Schrift “Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie”

“Theodor W. Adorno kommt nach Berlin und spricht über ästhetische Probleme. (…) Er wird über die Iphigenie – von Goethe glaube ich – zu uns sprechen, wird unsere Rationalität für diese in Anspruch nehmen wollen. Doch da ist er ein bißchen zu spät dran. Denn wir lauschen nur noch den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution. (…)

Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie nichts sagt, wie wir diese Scheiß-Uni anzünden und einige Amerika-Häuser dazu – für jeden Terror-Angriff auf Vietnam eines. Weil er keine 1000 Mark für den Vietcong stiftet – das wären ein Hubschrauber + 18 tote GI’s + 10 mit ohne Füßen. (…) Die Gesellschaft und Adorno verstehen sich ganz gut: horrende Honorare: der eine verzichtet auf Brandstiftung – der andere braucht die Theorie nicht einmal einzusperren. (…)

Seine Worte mögen ihm im Maul verfaulen.”

So schrieb Dieter Kunzelmanns Kommune I in einem Flugblatt im Juli 1967. Die unbefangene Bewunderung der Spätgeborenen gegenüber der aus dem Exil zurückgekehrten radikalen jüdischen Intelligenz war in rasende Wut über ihre Praxisfeindschaft umgeschlagen.

Für diese Form deutschen Humors seiner Genossen dürfte Frank Böckelmann wenig Verständnis gehabt haben. Böckelmann kam zwar ursprünglich aus demselben organisatorischen Zusammenhang wie Kunzelmann, Bernd Rabehl, Rudi Dutschke und andere – der postsituationistischen Subversiven Aktion. Als Vertreter der “pessimistischen” Fraktion der Subversiven hatte er sich jedoch schon Mitte der sechziger Jahre gegen die abstrakte Negation der kritischen Theorie zugunsten eines willkürlichen Aktionismus gewandt.

Die unerwartete Revolte von 1968 machte aber auch für Böckelmann eine Neubewertung der kritisch-theoretischen “Totalnegativierung” revolutionärer Praxis notwendig. In dieser Situation entstand 1968/69 die Schrift “Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie”, die 1972 zum erstenmal veröffentlicht wurde und jetzt in einer erweiterten Fassung vorliegt.

Ausgangspunkt von Böckelmanns Arbeit sind die “stillschweigenden historischen Voraussetzungen der Marxschen Revolutionslehre” und Adornos ambivalentes Verhältnis zur Marxschen Theorie. “Ein Jahrhundert nach Marx reflektiert das Werk Theodor W. Adornos einen gesellschaftlichen Zustand, der diese Voraussetzungen nicht mehr gelten läßt.” Es geht also nicht darum, Marx und Adorno homolog, sondern sie gegeneinander zu lesen.

Als stillschweigende Voraussetzungen bei Marx definiert Böckelmann vor allem die für Marx noch selbstverständliche Verknüpfung von Theorie und Praxis, revolutionärer Subjektivität und einer gesellschaftlichen Objektivität, die zu ihrer kommunistischen Aufhebung drängt. Die Marxsche Theorie setzt sich als immanenter Teil einer schon vorhandenen revolutionären Praxis, die man lediglich “aus dem Traume über sich selbst” aufwecken müsse, indem man “ihre eigenen Aktionen ihr erklärt” (Marx).

Möglich ist eine solche Konstruktion nur, wenn es ein revolutionäres Subjekt gibt, das sich die Verwirklichung der revolutionären Gedanken auf die Fahnen geschrieben hat. “Die einzige Positivität bei Marx besteht in der praktischen Negativität des Proletariers – des ‘praktischen Materialisten’, wie Marx sagt – und der Arbeitsverhältnisse; und allerdings bedarf die Kritik des erfahrenen Totalitätszusammenhangs einer wenn auch negativen Subjektivität.” Böckelmann definiert die Bedingungen dieser Subjektivität weniger werttheoretisch als geschichtsphilosophisch, als “Nebeneinander von qualitativ bestimmten unproduktiven Bedürfnissen, die sich gegen ihre exogene Subsumtion sträuben, und entfesselter Funktionalisierung im Namen der Warenproduktion”. Die Widerständigkeit des Proletariats im 19. Jahrhundert entsprang nach Böckelmann nicht der Spannung zwischen erst durch den Kapitalismus geschaffenen Bedürfnissen und deren Verweigerung, sondern “vorkapitalistischen, naturwüchsigen Residuen”, die quer zur Verwertungslogik des Kapitals stünden.

Seit Lukács’ “Geschichte und Klassenbewußtsein” hat es unzählige solcher Relektüren von Marx gegeben, die nur den Zweck hatten, die zweifelhaft gewordene Theorie-Praxis-Einheit durch theoretische Kniffe wieder zurechtzubiegen. Spannend verspricht Böckelmanns Buch erst in der Konfrontation mit der “praxislosen Theorie” Adornos zu werden, die den gesellschaftlichen Zustand hundert Jahre nach Marx reflektiert.

Böckelmann stimmt Adorno zu, wenn dieser behauptet, daß der “Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing”, sich nicht theoretisch verlängern lasse, und die revolutionäre Spannung, auf die Marx baute, so nicht mehr existiere. Er wirft Adorno aber vor, daß er die Aporien nicht genügend reflektiere, in die er sich mit seiner Ersetzung der praktischen Theorie durch die theoretische Kritik begebe. Wenn spätkapitalistische Herrschaft sich selbst ohne signifikante immanente Widersprüche reproduziert, wie kann dann Kritik noch dialektisch, d.h. immanent sein?

Wenn der Kritiker nicht subversiver Teil eines widersprüchlichen gesellschaftlichen Ganzen, sondern eines totalen Verblendungszusammenhangs ist, wie kann dann Kritik etwas anderes sein, als eine willkürlich von außen an die Verhältnisse herangetragene Meinung? “Ist Praxis unmöglich, wird die Existenz kritischer Theorie unerfindlich – es sei denn, diese würde schon längst nicht mehr ihrem eigenen Anspruch gerecht. Ist kritische Theorie möglich, dann bleibt unverständlich, warum der Kampf um die Versöhnung des Nichtidentischen nicht schon heute beginnen kann und warum er nicht schon begonnen hat.”

Dieses Paradox möchte Böckelmann zur Seite einer doch noch möglichen subversiven Praxis hin auflösen. Kritische Theorie müsse ihre vermeintliche Geschichtslosigkeit überwinden, die Folgen des Übergangs vom liberalen zum organisierten Kapitalismus konkreter untersuchen und vor diesem Hintergrund schließlich die Potentiale praktischer Interventionsmöglichkeiten bestimmen. Adorno wirft er vor, die Negativität seiner Dialektik sei weniger theoretisch, als durch eine willkürliche Vorentscheidung des Philosophen fundiert.

1998 veröffentlicht Frank Böckelmann “Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen”, in dem er ein kulturhistorisch-“ethnopluralistisches” Panorama wechselseitiger Fremdwahrnehmungen von Europäern, Afrikanern und Asiaten entwirft. In der FAZ zieht er die politischen Konsequenzen seiner Anthropologie am Beispiel der doppelten Staatsbürgerschaft. “Deutschsein zu Dumpingpreisen (…) Streng genommen mangelt es diesen Fremdkulturen vollständig an Gebräuchen, die man nicht als frauen- oder kinderfeindlich, als extremistisch oder als Verstöße gegen die Menschenrechte und Gleichheitsgrundsätze beziehungsweise das Heilpraktikergesetz werten müßte.”

Daß aus einem Linken ein Fundamentalist des ethnisch homogenen Deutschtums wird, ist inzwischen nichts Besonderes mehr. Ungewöhnlich ist nur, daß Böckelmann diese Wendung ohne einen expliziten Bruch mit seiner politisch-theoretischen Vergangenheit vollzog. Im aktuellen Vorwort zu “Über Marx und Adorno” zeichnet er noch einmal wohlwollend die Argumentationslinien dieses Textes nach. Und wer von den 68er-Veteranen würde es heute noch wagen, wie Böckelmann einen Sammelband mit eigenen Aufsätzen der letzten dreißig Jahre zu veröffentlichen – um damit die Stringenz der eigenen politisch-theoretischen Entwicklung zu beweisen? Ist Böckelmann also ein Jekyll and Hyde der Theorie? Nicht ganz.

Wenn er vor 25 Jahren von “historischen Zäsuren” schrieb, die Adorno anerkennen müsse, dann fielen ihm dabei immer nur die gescheiterten europäischen Revolutionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. An einer Stelle zitiert er ein Marxsches Gleichnis aus dem Jahr 1850: “Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.”

Böckelmann verschwendet keinen Gedanken daran, daß das, was als metaphorisch gemeinte Selbstaufhebung des Proletariats scheiterte, ein Jahrhundert später wortwörtlich Realität wurde: als Vernichtungsfeldzug der “Arier” gegen die “jüdische Plutokratie”. Daß für Adorno die verlorenen Schlachten der Arbeiterbewegung nur der historische Vorlauf zur totalen Umkehrung aller revolutionstheoretischen Kategorien in der “deutschen Revolution” des Nationalsozialismus waren, muß Böckelmann zumindest halbbewußt gewesen sein. Er schreibt, daß Adornos Relektüre der von Hegel und Kant entfalteten “bürgerlichen Minimalautonomie” ihren Grund in der Regression der Verhältnisse hinter die bürgerliche Revolution zurück gehabt habe, zögert aber, den überaus realen und historisch konkreten negativen Kern von Adornos kritischer Theorie beim Namen zu nennen.

Statt dessen entwirft er eine Theologie vom kommunistischen “Sinn des Kapitalismus”, die in eine Melancholie der verpaßten Chancen umschlägt. Für Böckelmann besteht das Hauptproblem in der “repressiven Entsublimierung” durch die Konsumgesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre. Die warenförmige Abschaffung des Mangels und die Umformung der Triebstruktur der Individuen im Spätkapitalismus habe die monolithische Einheit von proletarischem Leiden, revolutionärer Theorie und militanter Aktion (die so für Adorno und Marx nie bestanden hat) zerrissen.

Adorno hat dagegen unmißverständlich klargestellt, worin seine angeblich unausgesprochen Prämissen lagen. Nach Auschwitz erscheine ihm “jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern”. Das rief nicht nur das Ressentiment der vermeintlich demokratisch domestizierten westdeutschen Wohlstandsbürger hervor, es war auch ein harter Schlag für die Rebellierenden von 1968. Böckelmanns intellektueller Werdegang nach 1989 ist nur ein Beispiel von vielen, das Adorno auf unheimliche Weise im nachhinein Recht gibt.

1972 waren es immerhin noch die “naturwüchsigen” positiven Bedürfnisse der Individuen, die der gefräßigen Subsumtionslogik des Kapitals gegenüberstanden. 1998 hat Böckelmann diese durch “der Produktion vorausgesetzte Gemeinwesen” ersetzt: Nationen, Völker und Kulturen. Deren Gegenpol sei nicht mehr der reale Universalismus des Kapitalverhältnisses, sondern die “eurozentrische” Vorstellungswelt des Westens, der die Welt mit multikulturalistischem “Tugendterror” traktiere und die Insassen ethnischer Kollektive “zum Menschen an sich” erniedrige.

Die Shoah, das Tabu der Böckelmannschen kritischen Theorie, taucht in seinem FAZ-Artikel nun doch noch auf – als Chiffre deutscher Seinsvergessenheit: “Von der deutschen Geschichte soll nur lebendig bleiben, was vor ihrer Fortführung warnt, in der Hauptsache die Judenvernichtung” – und das dürfe nicht sein.

Nicht nur dieser Schluß zwingt dazu, “Über Marx und Adorno” auch als aufschlußreiches Dokument darüber zu lesen, wie tief der Graben zwischen der historischen Erfahrung der kritischen Theoretiker und den politischen und psychischen Bedürfnissen vieler ihrer Epigonen war.

erschienen in jungle world  5, 27. Januar 1999

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