Rainer Bakonyi
“Das Konzept Materialismus”
In einer Zeit, in welcher kritisches Denken wenig en vogue ist, zumal auch dessen nötigste Voraussetzung: Erkenntnisfähigkeit – wozu nicht zuletzt die Anerkennung der Existenz von etwas derlei metaphysischem wie der objektiven Wahrheit (und sei's als Unwahrheit!), sowie der Wille zum Urteilen gehören – sowohl der gesellschaftlichen Tendenz nach, also objektiv, stetig sich verflüchtigt, als auch freudig wollend von den Subjekten als eine zu überwindende Zumutung fortgestoßen wird, sei hier Werbung gemacht. Reklame für etwas, das zum Objekt professioneller public relations agencies schlechterdings nicht taugen mag: Kritik.
Der in derlei anrüchigen Geschäften notorische Freiburger ça ira Verlag hat mit der Herausgabe einer Sammlung von “Pamphleten und Traktaten” der Initiative Sozialistisches Forum, welche im Verlauf der letzten 17 Jahre zustande gekommenen waren, einen Beitrag geleistet zur Bewahrung oder besser: Wiedererlangung dieser Vorbedingung materialistischer Kritik, nämlich der Befähigung zur Erkenntnis, kraft der, an der grundfalschen Wirklichkeit sich stoßenden und reibenden, beharrlich zum Urteil drängenden, Theorie. Zwischen einem gewissermaßen als Vorwort dienenden Artikel aus der Kritik und Krise von 1993 und einem Epilog finden sich in fünf Abschnitten knapp 20 Texte, die einst in Gestalt von Flugzetteln oder Zeitschriftenbeiträgen Eingriffe in das doch immergleiche linke Selbstgespräch vornahmen.
Mit dem Pamphlet Wechselbad der Gefühle, Produktion der Panik (Hartz IV, die Wendung in den autoritären Staat und die Nazifikation des Subjekts) ist der Gegenstand der Kritik angerissen. Die Bescheinigung, jene rotgrünen Maßnahmen zur Neuordnung der Sozialfürsorge und der Verwaltung der Arbeit, also das “Hartz IV” Gesetzespaket und die “Agenda 2010”, seien nicht wesentlich ökonomischer Natur und auch kein neoliberaler Angriff auf die da unten, sondern die praktische Verstaatlichung sowohl derer, welche in Ermangelung von Arbeitsfähigkeit, als auch jener, welche mangels Nachfrage an Arbeitskraft nicht in der Lage sind, sich am Leben zu halten durch Verkauf ihrer einzigen Ware, eben dieser Befähigung, mittels Arbeit Dinge für Andere zu schaffen, ist nicht auszustellen ohne, gewissermaßen im Vorbeigehen, die Konstitutionsbedingungen des Staats wie auch des Subjekts zu beleuchten. Die im Anschluß erreichte Diagnose, jene, mittels dieser Beschlagnahme durch den Staat geschaffene, dritte Klasse [ 1 ] sei in der kommenden Zusammenbruchskrise des Kapitals das Vehikel der Nazifikation, die im Subjekt erzeugte Panik deren Motor, ist nur mittels einer Denkoperation zu erlangen, welche Staatskritik auf der Höhe der Erkenntnis vom spezifisch deutschen Weg der negativen Auflösung der Klassenverhältnisse in der Volksgemeinschaft mit Ideologiekritik im vollen Bewußtsein des stattgehabten mörderischen Umschlags instrumenteller Vernunft in Raserei dynamisch verbindet: Antisemitismus als zur Praxis drängende Denkungsart ist die logische und historische Voraussetzung des Nationalsozialismus, wie auch sein, ihn zeitlich überdauerndes, stets wieder aufs Neue reproduziertes Ergebnis. Folgerecht wird im anschließenden Text das Grundgesetz samt bundesdeutscher Wirklichkeit als Produkt der Volksgemeinschaft durchbuchstabiert.
Die theoretische Unfähigkeit, den Antisemitismus als jene Kategorie des Ungeists zu erfassen, die es ermöglicht, die logischen Zumutungen, welche die reale Herrschaft “verrückter Formen” sowohl in der Ökonomie als auch in der Politik [ 2 ] bedeuten, gewaltsam beiseite zu schieben in der Vorstellung der allmächtigen Verschwörung und der daraus entwickelten massenmörderischen Praxis der versuchten Sistierung des Kapitalverhältnisses, sowie, mittels der Kassierung des Widerspruchs von Bourgeois und Citoyen, der Festlegung des Staats auf die Gemeinschaft; diese selbstverschuldete Borniertheit ist nach Ansicht des Autors das verbindende Gemeinsame einer Linken, die jeden jemals vorhanden gewesenen Anspruch auf die Erreichung eines gesellschaftlichen Zustandes ohne Zwang zur Gleichheit, ohne die Herrschaft von Menschen über Menschen, also ohne Arbeit und Kommando, längst hinter sich gelassen hat. Wie nun die geistige (und gegebenenfalls [ 3 ] handfest praktische) Kumpanei mit dem schieren Widerpart jedweder Vernunft – und damit ist auch gesagt: Moral – zustande kommen kann; wie Leute, deren Vokabular ihren vermeintlichen Widerspruch zu Herrschaft und Zwang mit reichlich Pathos in die Welt schreit, dazu kommen, sich – und zwar durchaus gegen die selbst geglaubten Versicherungen, für eine, nun ja, bessere Welt zu sein – zu verbünden mit genau der Denke, die sich am effizientesten dem Vermögen widersetzt, ein kritisches Bewußtsein des falschen Ganzen zu erlangen, es damit zu beenden und endlich einen befreiten Zustand für alle Menschen zu erreichen, dies mag sich aus den im besprochenen Büchlein nun folgenden sechs Einlassungen erhellen. Hier werden die Auseinandersetzungen dokumentiert, welche die ISF ausgefochten hatte mit dem postmodernen wie dem traditionsmarxistischen Flügel jenes kleinen Anteils der deutschen Linken, der seit 1989 eine kritische Reflexion des Verhältnisses zu Staat und Nation begonnen hatte.
Gegen die Heideggerisierung der Linken. Die Ideologie vom Diskurs. Über die Nutzlosigkeit Foucaults für die antinationale Linke titelte der 1998 in der jungle world plazierte Einspruch in die damalige innerlinke Debatte um die theoretischen Konsequenzen, die zu ziehen seien aus jener von Daniel Jonah Goldhagen auch der deutschen Linken endlich zu Ohren gebrachten Tatsache, daß die lieben Großeltern und ein gut Teil der verehrten Eltern eben nicht von einer allgewaltigen Diktatur zum Massenmord gezwungen worden waren, sondern dieses Mordhandwerk ganz willig und voller Elan ausgeübt hatten. Diese durch das Erscheinen des Bandes Goldhagen und die deutsche Linke provozierte “linke Metastase des Historikerstreits”, eine Gemengelage von Befindlichkeitsdebatte der unter dem Etikett “antinationale Linke” Versammelten und einem Geraufe um Theorieansätze, hatte vor allem in der gerade gegründeten, jenes antinationale Milieu bedienende, Wochenzeitung jungle world ihr Medium gefunden. Hier sammelten sich alsbald die Fürsprecherinnen und Vorbeter jener famosen Idee, Goldhagens “dichte Erzählung”, zurecht interpretiert nach Foucault, als dekonstruktivistische Waffe gegen den Antisemitismus in Stellung zu bringen. Die ISF geht nun ohne Umschweife direkt zum Kern des Problems: “Die Philosophie des Nazismus bezweckt die Ausrottung des Denkens durch das Denken”. Nach einer bündigen Erledigung des Stichwortgebers des Poststrukturalismus, Martin Heidegger, eben jenes Philosophen der Massenvernichtung, und einer ebenso bündigen Abfertigung der diskurstheoretischen Auffassung von Nation als “spezifische in der Alltagspraxis verankerte Erzählung” und dem Antisemitismus “als Verkettung von Ereignissen”, also als spezifische Weise, über Juden zu sprechen, weisen sie die Unvereinbarkeit der Intentionen kritischer Theorie mit dem dekonstruktivistischen Denken nach. Daß als unabweisbar eintretende Konsequenz aus der Übernahme der Prämissen jener Philosophie des Nazismus durch Linke, und zwar auch solche, welche ihrem Selbstverständnis und auch ihrem politischen Agieren nach gegen Antisemitismus und Deutschtümelei auch und gerade in der Linken angetreten waren, sich antisemitische Denkmodelle in den theoretischen Produkten niederschlagen, demonstriert die ISF an einer Sentenz aus dem Text der Gruppe um Günther Jacob in der diese ihren “adornitischen ex-leninistischen” Kritikern tatsächlich vorwerfen, sie beanspruchten “eine privilegierte Funktion außerhalb des sozialen Geschehens”. Die bald fällige Antwort Schwadroneure und Empiristen. Zwei verfehlte Versuche, die Wahrheit Goldhagens sich anzueignen – eine Anti-Kritik wurde damals von der Redaktion der jungle world unterdrückt. Der dann in der bahamas erschienene Text Philosophie für Friedhofsschänder. Modernität des Kapitals, Präfaschismus der Postmoderne: Über Heidegger, Derrida, Sloterdijk und Konsorten mag als eine Art Wegmarke im Dickicht der damaligen Frontbildungen dienen. Wer auf diesen sich positiv bezog, wurde, falls nicht aus eigenem Entschluß bereits diesem Morast entronnen, der Linken verwiesen. Daß dies nun nicht mindestens ebenso für die Kritik an den, eben wissenschaftlichen, Grundannahmen des antinationalen Büros galt, zeigt lediglich wie hirnverbrannt schon damals selbst die Linken waren, die sich gegen die allgemeine Mitmacherei gestellt hatten. Mit sichtbarer Bemühung zeigt die ISF in Goldhagen und die Krise des wissenschaftlichen Denkens Ulrike Becker, Matthias Küntzel u.a. die Beschränkungen auf, die das Festhalten an einer rational-wissenschaftlichen Theorie bedingt und die in der Verwechslung des Marxschen Kapitalbegriffs [ 4 ] , der ja bekanntlich gerade die Irrationalität des Kapitals auf den Begriff bringt, also kritisiert, mit genau einer solchen wissenschaftlichen Methode gründet. Der zur Agitation für den Materialismus – soweit derlei überhaupt möglich ist – noch immer sehr taugliche Text wurde nach Erinnerung des Autors wenig beachtet und diente im damals noch relativ umtriebigen autonomen Spektrum [ 5 ] wohl eher als Beleg für die mangelnde Bodenhaftung der ML Gruppen.
Als Yassir Arafat im Jahre 2000 auf das Angebot der israelischen Regierung, einen arabisch-palästinensischen Staates samt Ost-Jerusalem als dessen Hauptstadt anzuerkennen, mit der Eröffnung einer massenmörderischen Offensive mittels menschlicher Bomben antwortete, endete jene nach dem Konkurs des Realsozialismus eingetretene Phase der Neuorientierung der internationalen Machtverhältnisse, die im Gerede vom “Ende der Geschichte” ihre ideologische Gestalt gefunden hatte. Seither ist auch klar, wer die Schuld am nicht realisierten Weltfrieden trägt: Der Judenstaat und sein kräftiger amerikanischer Hilfstrottel. Die nun folgenden vier Pamphlete geben hier Bescheid. Werwolf und Djihad. Die Zerstörung des World Trade Center und der barbarische Untergang der bürgerlichen Gesellschaft zielt auf die deutsche Komplizenschaft mit der “faschistischen Fraktion des Islam”, Go straight to hell bezeichnet die im Aufschrei nach dem erfolgreichen Militärschlag gegen den Führer der Hamas sich artikulierende Ablehnung der israelischen Ausübung und Verteidigung der eigenen Souveränität als das, was sie ist: Ablehnung der Berechtigung der Staatlichkeit eines Staates, der, qua Definition als Fluchtpunkt aller in der Welt wegen ihrer Zuschreibung zum Judentum Verfolgter, niemals sich in eine homogene Gemeinschaft wandeln kann, dem somit keine “substantielle Legitimation” zukommt, durch gerade jene staatsfetischistischen Kritiker, welche die Erinnerung an den Massenmord im Geschwätz der Vergangenheitsbewältigung entsorgen. Unter Rückgriff auf Benjamins Essay Kritik der Gewalt wird aufgezeigt, daß hinter der Verurteilung der tödlichen Gewalt gegen die Prediger des suicide bombings die Ablehnung des Tyrannenmordes, überhaupt der revolutionären Gewalt, steht und sich darin die unbedingte Zustimmung zur unmenschlich verfaßten Welt Luft macht. Der Krieg gegen die Hizbollah bot den Anlaß für eine kurze, doch, das sei hier angemerkt, sehr schöne Polemik gegen die deutschen Zustände: Karl Marx, Israel und die Militanz der Vernunft. Und noch einmal wird der Linken mitgeteilt, wo sie steht: Die Konterrevolution gegen Israel weißt darauf hin, daß der Zionismus die letzte bürgerliche Revolution ist und nennt die Bande, die ihr heute an die Gurgel will, so wie einst, jenes in der Vendée verschanzte letzte Aufgebot des Ancien régime der revolutionären französischen Republik, beim Namen: “PLO, Islamischer Djihad, Hamas und Hisbollah, dazu, um den Islamfaschismus europäisch zu würzen, eine Prise Postmoderne, Multikulti und linksbürgerlicher Pazifismus”. Die Linke, die sich mit der sauberen Scheidung von Antisemitismus und Antizionismus in diese Meute einreiht, tut dies um die vermeintlich vorhandenen, lediglich fehlgeleiteten Protestenergien aus dem Judenhaß abzuschöpfen [ 6 ].
Auf sechs in Freiburg verteilte kürzere Flugschriften folgen die beiden Texte Zahltag und Kalkül und Wahn. Vertrauen und Gewalt. Vor dem Ausnahmezustand des Kapitals, in denen die aktuelle Krise in den Kategorien eines gewissen Karl Marx beschrieben – es ist bald 130 Jahren nach seinem Tod so nötig wie je – und der ideologischen Selbstbetrachtung von links wie rechts die Wahrheit als die Notwendigkeit der Abschaffung der falschen Gesellschaft entgegengehalten wird in Gestalt der freundlichen Empfehlung zur “revolutionären Selbst – Entwertung der Menschheit durch die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft”. Der Hoffnung auf den guten Ausgang der “vermaledeiten Geschichte” ist aber die Grenze des Staatsfetischismus gesetzt; dessen bösartiges Wesen erscheint in Deutschland in der kollektiven Erinnerung an die totale Verschmelzung von Gesellschaft und Staat sowie dem Wissen um den Massenmord als erfolgversprechendes Krisenlösungsmodell. Das Buch endet mit dem Text Das Konzept Materialismus aus der Broschüre zum Kongreß Ostern 2002 in Freiburg Antideutsche Wertarbeit. Der Wert. Das Kapital. Die Kritik. Der folgende Auszug, der auch werbend auf dem Umschlag des Buches plaziert wurde, sei hier - ganz wertend, doch für umsonst - dem Publikum zum freundlichen Gebrauch gegeben: Der Materialismus der Gegenwart hat die Erfahrung der Shoah, hat die Geschichte des Nazifaschismus nicht einer, wie immer auch kritisch gemeinten Gesellschaftstheorie anzuhängen und anzukleben, sondern er hat diese Erfahrung vollendeter Negativität in das Innerste seiner Kategorien aufzunehmen und darauf als ihren Nerv zu reflektieren. Jeder andere “Marxismus” ist unmöglich, ist Müll, schlimmer noch: “deutsche Ideologie” im Marxschen Sinne.
Anmerkungen:
[ 1 ] Jenen, welche bei der denkwürdigen “Diskussion” mit den beiden Herren vom Autorenkollektiv “Biene, Baumeister, Zvi, Negator” anwesend waren, sei hier mitgeteilt, daß genau an den Implikationen, welche die oben angerissene Fassung einer direkt verstaatlichten Quasi-Klasse mit sich bringt, all der schöne Revolutionsmystizismus zuschanden gehen muß. Ob der Herr Autor dies in seiner damaligen mündlichen Einlassung auch nur annähernd plausibel mitteilen konnte, wagt selbst er zu bezweifeln.
[ 2 ] Es muß in jedem Text noch einmal geschrieben werden: Das Marxsche Kapital (dorten ist auch über verrückte Formen Aufklärung zu finden) heißt nicht zufällig: Kritik der politischen Ökonomie.
[ 3 ] Das machen die Aufenthalte deutscher Politikerinnen auf dem Frauendeck eines unter der Leitung von klerikalfaschistischen Aktivisten befindlichen Touristenkutters ebenso deutlich, wie etwa die ekelerregenden Spendenkampagne für den irakischen Zweig der Al-Kaida.
[ 4 ] Hier sei an die bei ça ira wieder aufgelegte Dissertation von Helmut Reichelt erinnert: H. Reichelt. Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Freiburg 2001.
[ 5 ] Wo sich der Herr Autor seinerzeit herumtrieb.
[ 6 ] Zum damaligen Zeitpunkt, also noch vor zwei Jahren, konnte Linken zumindest ein wenig Naserümpfen wegen der doch sehr patriarchalischen Orientierung des Islam attestie rt werden, dies ist 2010 erwiesenermaßen nicht mehr der Fall.
Aus: Letzter Hype, Sommer 2010