Tobias Willms – Soziale Bewegungen und Politik * Rezension Kreutzer et. al., Irak

Tobias Willms

Soziale Bewegungen und Politik

Die knapp 30 Artikel sollen sowohl in Geschichte, Politik und Gesellschaft des Irak einführen, als auch Diskussionen über die aktuellen Entwicklungen anregen. Den Kern bilden Beiträge eines breiten Spektrums irakischer Autoren. – Im ersten Kapitel werden Aspekte der neueren Geschichte nachgezeichnet. Schmidinger betrachtet den religiös-politischen Widerstand schiitischer Parteien, Hussain Ali Bawa Ideologie und Herrschaftstechnik der Baath-Partei und Suzan Marne die Unterdrückung von Frauen durch das Baath-Regime. Oft werden behandelte Aspekte nur angerissen; hiervon abzuheben sind u.a. Andrea Fischer-Tahirs Beitrag über Widerstand und genozidale Verfolgung in Kurdistan und der von Kasim Talaa über die Tragik der Irakischen Kommunistischen Partei (IKP), die nach dem Sturz der Monarchie 1958 zur größten in der arabischen Welt wurde. Sie unterstützte die linken Offiziere um Qasim; dessen Gegenspieler Arif wurde von Nasseristen und Baathisten unterstützt, deren Schlägertrupps bis 1961 ca. 300 Sympathisanten und Parteimitglieder der IKP ermordeten. Qasim versuchte, seine Gegenspieler zu bändigen, indem er die Kommunisten niederhielt, er verweigerte der IKP die Legalisierung und ließ eine ›Konkurrenz-KP‹ gründen. Aus ihrem »schleichenden Machtverlust erwachte die IKP am 8. Februar 1963 mit einem Schock, als eine Gruppe baathistischer und anderer nationalistischer Offiziere […] die Regierung Qasims aus dem Amt putschten« (98). Die folgenden Gewaltexzesse, denen 10000 Menschen zum Opfer fielen, trugen dazu bei, dass sich die Baath-Partei 1963 noch nicht an der Macht halten konnte, sondern von anderen Nationalisten verdrängt wurde. – Nach internen Machtkämpfen kam 1968 eine Gruppe baathistischer Generäle an die Macht, deren Partei bis 2003 regierte. Da sich die Baath-Partei an die Sowjetunion anlehnte, konnte sie sich »als ›wahre‹ anti-imperialistische Kraft darstellen, die mit den Verstaatlichungen der Ölindustrie alte Forderungen der IKP erfülle« (100). Die IKP verlor zunehmend an Einfluss. Ihr Ende als oppositionelle Kraft war besiegelt, als sie trotz Widerstands der Parteibasis in die Nationale Patriotische Front eintrat und sich 1972 kommunistische Minister an der Regierung beteiligten.

Dem Pluralismus der irakischen steht ein Anliegen der anderen, hauptsächlich österreichischen und deutschen, Autoren entgegen: die Rechtfertigung des letzten Kriegs gegen den Irak. Hierzu bedarf es einiger Kunstgriffe, wie bereits das erste Kapitel zeigt: »Das blutige 20. Jahrhundert« stellt zwar die Barbarei des Baath-Regimes dar, aber weder den Iran-Irak-Krieg noch den zweiten Golfkrieg – als wären diese nicht blutig gewesen. Die Ausblendung beider Ereignisse entspricht der absurden Behauptung von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Säcken: Die »Vorstellung, wonach die ›strukturellen‹ Ursachen für Krieg und Armut linear auf den abstrakten Wirkungsmechanismus von ›Globalisierung‹, ›Neo-Liberalismus‹ und ›Imperialismus‹ zurückzuführen sind« – gleich zwei Popanze, ›linear‹ und ›abstrakt‹ – sei eine »konsequente Missachtung der konkreten Verhältnisse innerhalb der nahöstlichen Staaten« und ähnele den »Kausalketten, mit denen Islamisten und Panarabisten jeden Zustand aus einer anti-arabischen oder anti-muslimischen Verschwörung herleiten« (71). – Im anschließenden Kapitel »Die USA, Europa, der Irak und der Krieg« schreiben fast ausschließlich die nicht-irakischen Autorinnen und Autoren; nach der Lektüre ist klar, warum hier weder Houzan Mahmoud noch Kasim Talaa zu Wort kommen, die beide »den us-geführten Krieg gegen das Baath-Regime trotz ihrer Opposition gegen Saddam Hussein ablehnten« (10): Mary Kreutzer rechtfertigt den Krieg mit der Befürchtung der USA, die »Selbstblockade der arabischen Gesellschaften« (237) könne die Region in Gewalt und Chaos stürzen. Die Ursache jener ›Selbstblockade‹ sieht sie – mit Herfried Münkler – in der »Herausbildung eines auf der Erdölförderung basierenden spezifischen Typus des Rentiers- beziehungsweise Allokationsstaates, der gesellschaftliche Entwicklungen blockiert und politischen Partizipationsforderungen die Spitze genommen hat« (238). Mit dem »gewaltsamen Sturz Saddam Husseins« sei der gordische Knoten der »auch weltpolitisch gefährlichen Selbstblockade« durchschlagen worden (240).

Abschließend werden Facetten des Demokratisierungsprozesses wie neue Frauenbewegung (Mahmoud) und Föderalisierung (Bawa) besprochen. Die stärksten Gegner der Demokratisierung – fanatische Baathisten und radikale Islamisten – wollen den Irak in ein Schlachtfeld für ihren Kampf gegen die USA und den Westen verwandeln. Dass dabei häufig als ›Kollaborateure‹ gebrandmarkte Zivilisten ermordet werden, verbietet jede pauschale Sympathie für diesen Widerstand. Mit der Demokratisierung – deren Träger im irakischen Regierungsrat und den neuen zivilgesellschaftlichen Bewegungen verortet werden – »könnte in der Region eine Kettenreaktion ausgelöst werden, die zum Fall der anderen Militärdiktaturen und konservativen Monarchien der Region führen könnte« (344). Diesen – aus der US-Propaganda bekannten – Optimismus allerdings trübt Bawa: der Irak stehe »vor dem Dilemma, dass weder mit noch ohne Koalitionstruppen Frieden und Ordnung herstellbar sind. Wenn die Besatzungstruppen im Irak bleiben, wird sich die Lage nicht zum besseren ändern. Sollten sie sich aus dem Irak zurückziehen, könnte das Land wie einst der Libanon in einen Bürgerkrieg stürzen.« (310)

Tobias Willms (Berlin), Das Argument 262 (2005)

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