Hanno Plass – Rezension zu Georg Lukács
Hanno Plass
Georg Lukács
Die Bedeutung von Georg Lukács’ Essayband “Geschichte und Klassenbewußtsein”, 1923 erstmals veröffentlicht, kann nicht überschätzt werden. Perry Anderson rechnet das Werk zu den bedeutendsten seiner Zeit. [ 1 ] Obwohl Lukács seine Aussagen später aus Parteigehorsam widerrief, stellt “Geschichte und Klassenbewußtsein” zusammen mit dem im gleichen Jahr veröffentlichten “Marxismus und Philosophie” von Karl Korsch den Wendepunkt in der marxistischen Theorie nach dem Ersten Weltkrieg dar. Der offizielle Marxismus der sozialistischen und kommunistischen Parteien war theoretisch bestimmt durch quasi-naturwissenschaftliche Annahmen, die einen evolutionären Gang zum Sozialismus antizipierten. So war die Theorie revolutionärer Befreiung theoretisch zu Grabe getragen und durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs praktisch dementiert worden. Zuletzt war das Scheitern der Wiederholung der bolschewistischen Revolution in Westeuropa ausschlaggebend, die Krise des Marxismus zur Sprache zu bringen. “Die Wirkung dieses Buches kann man fast als unheimlich bezeichnen.” [ 2 ] Es wird keinen Denker aus dem Kreis des “westlichen Marxismus” geben, der von “Geschichte und Klassenbewußtsein” unberührt geblieben wäre.
Nach der Relektüre von “Geschichte und Klassenbewußtsein” im Gefolge der antiautoritären Revolte von “1968” [ 3 ] ist nochmals vierzig Jahre später, neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, die Attraktion Lukács’ ungebrochen. Dem kleinen Freiburger Verlag ça ira ist es zu verdanken, daß zwei zentrale Aufsätze aus “Geschichte und Klassenbewußtsein” wieder veröffentlicht wurden: “Was ist orthodoxer Marxismus” und “Die Verdinglichung des Bewußtseins des Proletariats”. Die Herausgeber Markus Bitterolf und Denis Maier wollen explizit nicht zu einer Aktualisierung der Reflexionen von “Geschichte und Klassenbewußtsein” beitragen, sondern Lukács’ Werk durch die “rückhaltlose […] Kritik” seiner Auffassungen würdigen (S. 15). Seine Arbeit beziehe ihren Gehalt daraus, daß “Geschichte und Klassenbewußtsein” in einem Zusammenhang mit der Reflexion auf “die Katastrophen und das Scheitern” der Emanzipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert steht (S. 15). Die Kontinuität der Kritik der Bedingungen dieses Scheiterns, das auch das Scheitern der bolschewistischen Revolution einschließt, soll die Möglichkeit eröffnen, der kapitalistischen Gesellschaftsformation ein emanzipatives Ende zu bereiten. Betont wird das “Bewußtsein der Krise” (S. 14), das für die kritische Gesellschaftstheorie seit Mitte der 1920er-Jahre leitend geworden sei. Die Referenz auf die Russische Revolution verbindet Lukács 1923 mit den Autoren des Freiburger Bandes 2012: “Mit der Revolution 1917 hätte es klappen können”, so eröffnet die Anthologie. “Es” meint den “kommunistischen Traum einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft” (S. 7).
Im Einzelnen behandeln die erläuternden, kommentierenden und kontextualisierenden Aufsätze unterschiedliche Aspekte von “Geschichte und Klassenbewußtsein”. Robert Fechner eröffnet die Beiträge mit einer vergleichenden Kritik des Verhältnisses Max Webers und Karl Marx’ zum kategorialen Apparat Lukács’. Gerhard Stapelfeldt fährt fort mit einer kontextualisierenden und immanenten Kritik an Lukács (und Korsch): Ihr Versuch, die Revolution theoretisch zu retten – durch die Rolle der Kommunistischen Partei als institutionalisierter Avantgarde des Proletariats – war genau deswegen selbst dogmatisch (S. 244). Denis Maier kontrastiert Lukács’ Theodizee der Geschichte mit Walter Benjamins “ Anti-Theodizee” (S. 295), beharrt auf der Dialektik von Fortschritt und Regression. Timothy Hall rekonstruiert Adornos in der “Negativen Dialektik” von 1966 enthaltene Kritik an Lukács und verweist zugleich darauf, was dessen gesellschaftskritisches Denken jenem an zentralen Stellen verdankt. Hans-Martin Lohmanns Beitrag kreist um die Bedeutung der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei für Lukács, auch als individueller Ausdruck eines “engagierten Intellektuellen” – ein Eindruck, der am stärksten von ihm zurückbleibe. Stephan Grigat plaziert Lukács und sein Werk in den zeitgenössischen Marxismus und diskutiert seine Relevanz. Joachim Bruhn polemisiert unter Rückgriff auf Korsch gegen Lukács mit dem Ziel, das “Programm der Abschaffungen”, das der Korsch-Schüler Heinz Langerhans in der KZ-Haft formulierte, aktuell zu halten. Fabian Kettner kritisiert die schematische Verwendung des Begriffs der Verdinglichung, wie er in Teilen der sogenannten Neuen Marx-Lektüre zutage tritt.
Gerhard Scheit fragt, wie sich Lukács angesichts der Vernichtung der europäischen Juden der “Waffen der Kritik”, die er in “Geschichte und Klassenbewußtsein” entwickelte, entledigte. Dies komme in seiner parteikonformen Sicht auf Auschwitz in seinem Werk “Die Zerstörung der Vernunft” zum Vorschein. Abschließend unternimmt Moishe Postone den Versuch, den begrifflichen Horizont von “Geschichte und Klassenbewußtsein” angesichts des globalen Kapitalismus der Gegenwart aktuell zu halten.
Es verwundert kaum, daß widersprüchliche Interpretationen und Deutungen unvermittelt nebeneinanderstehen, zum Teil gar gegensätzliche Tendenzen aufweisen (Kettner – Grigat, Bruhn – Postone). Erfreulich wäre aber eine gemeinsame, aufeinander bezogene Diskussion gewesen, die nicht durch Jargon, Dogmatismus oder tagespolitisches Kalkül verbaut ist. Dabei ist es ein wesentliches Verdienst, daß – bei aller Diskussion um ihre Bedeutung – zentrale Begriffe wieder in die Debatte um eine der Gegenwart angemessene Gesellschaftskritik eingeführt werden: Warenform und Fetischcharakter, Verdinglichung, Dialektik, Totalität – Begriffe, die quer zur postmodernen Verwischung von Gesellschaftskritik in einer aufklärerischen Tradition stehen. Gerade sie zu aktualisieren, hätte ein mögliches Verdienst der Anthologie sein können, den Zeitkern von Lukács’ Kritik herauszuarbeiten und die Geschichte der Rezeption offenzulegen. Dies hätte auch bedeutet, sich auf den emanzipatorischen Impuls Lukács’ zu beziehen, der auch im 21. Jahrhundert aktuell ist: die Abschaffung von Hunger und Herrschaft.
Aus:Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Heft 6 / 2013
Anmerkungen
[ 1 ] Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt a. M. 1978, S. 69.
[ 2 ] Detlev Claussen, Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und Perestroika, Berlin 1990, S. 12.
[ 3 ] Furio Cerutti/Detlev Claussen/Hans-Jürgen Krahl/Oskar Negt/Alfred Schmidt, Geschichte und Klassenbewußtsein heute. Diskussion und Dokumentation, Amsterdam 1971; Jutta Metzner (Hrsg.), Lehrstück Lukács, Frankfurt a. M. 1974.